Von der Unentbehrlichkeit der Religion

Friedrich Wilhelm Grafs nüchterne Bestandsaufnahme

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Obwohl seit mindestens zweihundert Jahren in Deutschland immer wieder Klagen über den Niedergang des Christentums angestimmt werden und unter den Leitbegriffen "Verfall der Religion" und "Unkirchlichkeit" nicht selten ein breites Spektrum von Themen zur Sprache kommt - wie etwa der Rückgang mildtätiger Stiftungen zugunsten der Kirchen, das Desinteresse an Privatbeichten, die chronische Langweile und intellektuelle Dürftigkeit mancher Predigten, der Schwund überkommener christlicher Sitte und dergleichen mehr - sind die meisten unserer Zeitgenossen nach wie vor von der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Religion überzeugt. So auch der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf. Er beruft sich dabei auf Max Weber, der schon im November 1917 davon gesprochen hatte, dass noch viele Götter unter uns leben. Spätestens seit dem 11. September 2001, meint Graf, sei die bleibende Macht des Religiösen unübersehbar deutlich geworden. Auch habe die außerhalb Europas vielfältig zu beobachtende Renaissance religiöser Bewegungen eine neue Nachdenklichkeit provoziert. Sie habe verstärkt wissenschaftliches Interesse an Religion und Religionen hervorgerufen und bei Universitätstheologen für die Mannigfaltigkeit gelebter christlicher Religion eine neue Sensibilität geweckt. In zahlreichen kulturwissenschaftlichen Diskursen habe "die Religion" wieder ihren alten Rang zurückgewonnen. Aber nicht nur das. Philosophen und Psychoanalytiker rufen, so Graf, emphatisch zur Verteidigung des christlichen Erbes auf. Andere weisen auf die förderlichen Wirkungen gelebter Religion auf den Seelenhaushalt des Menschen hin oder streiten über mögliche Vermittlungszusammenhänge zwischen gelebter Frömmigkeit und Gesundheit des Menschen. Politikwissenschaftler beschwören die kommunitären Bindungskräfte der Religion, und selbst liberale Ethiker setzen auf die ethosproduzierende Leistungskraft der Religion. Gewachsen sei die Einsicht, dass auch in modernen Gesellschaften die Religion eine zentrale kulturelle Produktivkraft ist, die durch ihre Symbolsprachen, Riten, Liturgien und moralischen Codes Menschen prägt.

Allerdings äußern sich religiöse Gewissheiten nicht selten auch in Gewalt, Terror und Massenmord, räumt der Autor ein und hält es, angesichts der elementaren Ambivalenz des Religiösen, für erforderlich, alte normative Fragen nach der Unterscheidung von humaner Religion und barbarisierenden Glaubensmächten neu zu stellen und zu intensivieren, zumal die Prozesse des Wandels religiöser Mentalitäten mehrdeutig und widersprüchlich seien.

Graf weiß aber auch, dass Religion von außen und von innen beobachtet werden kann. Doch so viel sei sicher: das Bild, das sich ein frommer Mensch von seinem Glauben macht, ist niemals in analytische Deutungssysteme, die gelehrte Religionsexperten von außen entwickeln, restlos integrierbar. Freilich ist die Internperspektive ebenfalls mit Begrenzungen verbunden. Zudem ist fraglich, ob selbst nachdenkliche Wissenschaftler nachvollziehen können, was in tief religiösen Menschen vor sich geht, die im Namen Gottes anderen die Hölle auf Erden bereiten, um selbst in den Himmel zu kommen. Sind Mentalitätshistoriker überhaupt in der Lage, dem historischen Anderen "ins Herz zu blicken?" Wer kann die Selbstzeugnisse der Frommen aus anderen religiösen Kulturen verstehen, wenn ihm die jüdischen und christlichen Herkunftsgeschichten der eigenen westlichen Kultur fremd geworden sind?, ruft der Autor aus und meint weiter, wenn ein Religionsforscher den Glauben der Frommen analytisch ernst nehme, müsse er sich bemühen, ihre Sündenangst, Erlösungsbedürftigkeit und Versöhnungshoffnungen nachzuempfinden, und müsse erkennen, wie den Frommen ihr Gott dazu verhilft, die Welt sinnhaft zu deuten und diffuses Leben in eine kohärente Lebensgeschichte zu überführen.

Im ersten Teil seines Buches (die Texte entstanden in den letzten sechs Jahren und wurden teilweise schon anderweitig veröffentlicht) skizziert der Verfasser drei Theorieangebote zur Deutung moderner Religionen, zunächst die in den USA entwickelte "religious economics", die den religiösen Pluralismus in Marktmodellen zu erfassen versucht. Hier geht es in ausgeprägter Kundenorientierung um die Frage, wie kann man Konsumenten von der Überlegenheit eines spezifischen religiösen Produkts überzeugen. Es geht also um die Zirkulation von Heilsgütern und Glaubensangeboten auf religiösen Märkten, deren Verwertungslogik sich sogar konfessionelle Institutionen nicht entziehen können. Schon längst ist das "God selling", gibt Graf zu verstehen, zu einer profitablen Strategie von TV-Predigern, Kirchen und religiösen Dienstleistungsunternehmen geworden, die unter starkem Konkurrenzdruck um Aufmerksamkeit werben.

Ferner erläutert er die Ansätze einer "shared history", die strukturelle analoge Entwicklungen in den verschiedenen Religionen und Konfessionen sowie grenzüberschreitende Kommunikations- und Austauschprozesse in den Blick nimmt und damit die Entstehung von Dogmatismen im Religionsdiskurs zu relativieren hilft. Die dritte Theorie, die des "religiösen Feldes", erlaubt dagegen die harten Positionskämpfe konkurrierender Religionsprofessionals und die konfliktreichen Verhandlungen über die osmotisch durchlässigen Grenzen der Religion zu verstehen.

Im zweiten Teil seines Buches problematisiert Graf in drei Fallstudien ältere Sichtweisen der Religionsgeschichten der Moderne und zeichnet grundlegende Entwicklungen nach, während er sich im dritten Teil kritisch mit der irritierend schnellen, voreiligen Preisgabe prägnanter Religionsbegriffe auseinandersetzt.

Uneingeschränkte Beachtung verdienen, laut Graf, die vielfältigen Transformationen alter religiöser Symbole, die in neuen, etwa politischen Kontexten, eine erstaunliche Präge- und Faszinationskraft bewahren. So wurde beispielsweise im 19. Jahrhundert die Nation durch Theologisierung in den Rang eines normativen Wertes mit unbedingtem Verpflichtungsgehalt erhoben. Letztlich besitzt die Moderne ihre eigene Glaubensgeschichte, die von der göttlichen Erwähltheit der Nation über den Wissenschaftsglauben und den messianischen Avantgardismus der Weltkriegsepoche bis zu den politischen Theorien der Gegenwart reicht.

Die unterschiedlichen Krisenerfahrungen mit dem "alten Glauben" lassen verständlich werden, führt Graf weiter aus, warum in der Vergangenheit immer wieder Versuche unternommen wurden, überlieferte christliche Symbole in neuer Weise so lebensrelevant auszulegen, dass sie Individuen zur sinnhaften Deutung ihrer Biografie verhelfen. Auch unser Autor wird nicht müde, auf die kulturelle Prägekraft von Kirche und Religion hinzuweisen und ihre Unentbehrlichkeit zu betonen. Immerhin könne in religiösen Symbolsprachen der Mensch seiner Grenzen innewerden und sich der Grundlagen eines humanen Ethos von Toleranz, legitimer Verschiedenheit und Anerkenntnis des Anderen vergewissern. Religiöser Glaube erschließt Dimensionen menschlichen Lebens, "die das ,Endliche' transzendieren und auf Gott verweisen."

Religion, zweifellos ein faszinierendes Medium von Weltdeutung und Weltgestaltung, vermag außerdem, merkt der Theologe an, Konkurrenten in Brüder zu verwandeln, Solidarität mit den Schwächeren zu stiften und immer neu zur Akkumulierung des "sozialen Kapitals" beizutragen. Religion könne den Menschen gleichermaßen zivilisieren wie barbarisieren. Darin liege ihre hohe Ambivalenz. Unbetritten sei aber ebenfalls, dass tradierte christliche Systeme und Verheißungen wie Versöhnung, Auferstehung von den Toten, ewiges Leben gerade Gebildeten oft schwer verständlich dünken und als nicht vereinbar mit sonstigen Deutungsmustern für elementare Lebenserfahrungen.

Unter den Bedingungen des modernen Pluralismus der vielen Götter, schreibt Friedrich Wilhelm Graf, hält die freie theologische Reflexion das Wissen um die Distinktionskraft des einen gnädigen Gottes der Christen präsent. Dieser eine Gott ist immer auch ein symbolischer Repräsentant der unbedingten Würde des Individuums. Von seiner Freiheit kann das Individuum allerdings sündhaft falschen Gebrauch machen, indem es sich mit seinem göttlichen Grund unmittelbar in eins zu setzen sucht und als absoluter Herr seiner Welt aufspielt. Auf die Frage: "Wozu noch wissenschaftliche Theologie?" gibt Graf folgende Antwort: "Um in den Arenen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kirche und Politik der heilsamen Unterscheidung von Gott und Mensch Geltung zu verschaffen."

Unverkennbar setzt Graf auf die Überwindung disziplinärer Grenzen und sucht das Gespräch zwischen Religion und Wissenschaft neu zu beleben. Er spricht auch das Thema "Globalisierung und religiöser Wandel" an und geht auf die Frage nach den Menschenrechten ein. Allerdings ist er hier reichlich optimistisch, wenn er meint, dass Bilder von der Würde des Menschen nicht nur im Christentum oder in aufklärerisch transformierten christlichen Theorien tradiert würden, sondern auch in anderen religiösen Überlieferungen, was wiederum den Dialog erleichtern könnte.

Was an Grafs Ausführungen zweifellos besticht, ist seine nüchterne und doch anspruchsvolle Bestandsaufnahme des "religious turn", gekoppelt mit intellektueller Brillanz. Gleichwohl drängen sich Fragen auf, während und noch lange nach der Lektüre. Ist die Religion tatsächlich die Antwort der Moderne auf ihre Unvollendetheit? Die spätmoderne Lebenswelt beruht auf einer religiösen Tiefengrammatik, die unser Denken und Handeln, unsere Institutionen und Gebräuche beeinflusst, davon ist Graf fest überzeugt. Aber lassen sich wirklich alle heutigen Probleme und Sorgen so ohne weiteres auf religiöse Ursachen zurückführen? Diente Religion nicht häufig auch der Flucht vor den Zumutungen der Zeit?

Und weiter: Wie tragfähig ist der Glaube und die "Wahrheit", die die Religion verkündet und die nicht beweisbar ist, trotz ihrer unleugbar inspirierenden und motivierenden Kraft, die sie vor allem in der Vergangenheit entfaltet hat und auch heute noch nicht ganz verloren hat. Steht uns wirklich eine Renaissance der Religion ins Haus? Zugegeben, noch leben mehr Fromme und Gläubige als Atheisten in der Welt. Von einer religionslosen Welt sind wir meilenweit entfernt. Was aber ist, wenn sich die Wahrheiten der Religionen am Ende doch als Träume, Illusionen oder gar als leere Versprechungen entpuppen? Müssen wir, wie Rudolf Augstein einmal gemeint hat, eines Tages tatsächlich ohne Religion auskommen, oder gilt zumindest dann noch Goethes Ausspruch:

"Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

hat auch Religion.

Wer jene beiden nicht besitzt,

der habe Religion"?

Titelbild

Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
336 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3406517501

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