Das Credo des Dichters

Über Jorge Luis Borges' Harvard-Vorlesungen "Das Handwerk des Dichters"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei dem vorzustellenden Buch handelt es sich um ein schmales Bändchen, das eine Vorlesungsreihe enthält, die Jorge-Luis Borges (1899-1986) vor mehr als dreißig Jahren unter dem Titel "Das Handwerk des Dichters" in Harvard gehalten hat. 2002 hat man sich nun dieses Kleinods erinnert, es aus den Archiven der Universität geborgen und publiziert. Borges ist mittlerweile zum Klassiker des 20. Jahrhunderts avanciert, und das Unterfangen, eine seiner Arbeiten zu rezensieren, sollte lediglich als der bescheidene Versuch verstanden werden, diesem Buch die verdiente Anerkennung zu zollen.

Der Titel "Das Handwerk des Dichters" kann zu Missverständnissen führen, weil er die Erwartung weckt, Borges böte eine kurze methodische Einführung in die Dichtkunst. Gleich im ersten Kapitel räumt er aber das diesbezügliche Vorurteil aus, indem er abstreitet, dass es überhaupt eine klare Definition für Dichtung oder die Tätigkeit, die ein Dichter vollzieht, geben könne. Vielmehr hebt Borges hervor, dass Poesie ein Genussmittel ist, das Leben und Alltag bereichernd durchwirkt: Man müsse Gedichte "schlürfen". Sie bilden ein Fest für die Sinne, das man sich nicht entgehen lassen solle. Mit dieser These setzt Borges nicht bei der Erkenntnis oder bei der Form an, sondern er postuliert die Leidenschaft für Verse als Grundvoraussetzung aller Auseinandersetzung mit Poesie:

"Beim Blättern in Büchern über Ästhetik hatte ich immer das unbehagliche Gefühl, ich läse die Werke von Astronomen, die niemals die Sterne betrachtet haben. Ich meine, sie haben über Dichtung geschrieben, als sei Dichtung eine Aufgabe und nicht das, was es wirklich ist: eine Leidenschaft und eine Freude."

Borges feiert avant la lettre die "Lust am Text" (Roland Barthes), um zu betonen, welche entscheidende Rolle dem Leser bei der Aktualisierung von Gedichten zukommt: Ohne den Leser ist ein Buch ein unspektakulärer Gegenstand unter anderen, erst unter seinem verstehenden Blick wird es zu neuem Leben erweckt. Eine starre Definition dessen, was Dichtung sei, wird durch diesen Tatbestand verunmöglicht, denn jeder Leser rezipiert ein Gedicht auf andere, ihm spezifische Weise: "Kunst geschieht, sooft wir ein Gedicht lesen." Unter Verweis auf Heraklits Fragment, dass niemand zweimal in denselben Fluss steige, unterstreicht Borges das Faktum, dass selbst das wiederholte Lesen desselben Gedichts keine Gewähr dafür bietet, dass die Rezeption stabil bleibt. Zeit ist ein Element, das im Umgang mit Dichtung auf bereichernde oder aber auch verkümmernde Weise Einfluss nimmt.

Nach dieser Einführung in sein Verständnis von Poesie knüpft Borges den Diskurs weiter und rekurriert auf zentrale Themen der Dichtkunst, so z. B. auf den Umgang mit Metaphern, die Kunst des Erzählens oder die Rolle der Übersetzung. Die Vorlesung ähnelt in ihrer Konzeption einem Symposion, bei dem alle möglichen Schriftsteller, Dichter und Philosophen von Borges in den Zeugenstand gerufen werden, um zu bestimmten Sachpunkten ihre Aussage zu liefern. Die diversen Stimmen werden in ihrer Widersprüchlichkeit akzeptiert, weil Borges die Multiperspektivität seines Themas demonstrieren will. Im Vorübergehen erfährt man beispielsweise, dass es nur wenige Universalmetaphern gibt, diese aber unendlich variierbar sind. Wie Hans Blumenberg behauptet Borges das Vorhandensein weniger "absoluter Metaphern", die bestimmte Gedanken vermitteln.

In Bezug auf die Übersetzung räumt er ein, dass diese eine eigenständige Kunstform ausmache. Abstand nehmend vom italienischen Sprichwort "traduttore, traditore" (Übersetzer, Verräter), legt Borges Wert auf den Aspekt, dass eine gute Übersetzung ihren parasitären Charakter verliert und sich vom Originaltext emanzipieren und diesen bereichern kann. Viele Aspekte zur Funktion von Metaphern und Übersetzungen erfährt der Leser wie nebenbei. Beispielsweise wird kurz entfaltet, dass die Genese der wörtlichen Übersetzung aus dem Postulat heiliger Texte erfolgte, da diese es erforderten, die Veränderungen im sakralen Text bei der Überführung von der einen in die andere Sprache möglichst gering zu halten.

Im Kapitel über das Erzählen kann und mag Borges nicht verheimlichen, dass er der Poesie und dem Epos mehr zugetan ist als der Prosa, vor allem jener der Moderne. Er betrachtet den modernen Roman, selbst in seinen stärksten Ausprägungen wie bei Joseph Conrad, Franz Kafka oder James Joyce, als eine Verfallsform des Epos. Borges macht einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Gattungen fest: "Dieser liegt in der Tatsache, dass das Wichtigste am Epos der Held ist - ein Mensch als Muster für alle Menschen. Der Kern der meisten Romane dagegen ist, wie Mencken hervorhob, das Zerfallen eines Menschen, die Degeneration eines Charakters." Diesen Umstand führt Borges darauf zurück, dass der moderne Mensch kein Vertrauen mehr in seine Zukunft beanspruchen könne, weil ihm die Glaubwürdigkeit eines guten Endes verloren gegangen sei. Exemplarisch für diese These wird Franz Kafkas Romanwerk angeführt, das dieses Scheitern der Heldenfiguren illustriert. Borges deutet Kafkas testamentarischen Wunsch, Max Brod möge doch die bis dahin unveröffentlichten Romane "Der Prozess", "Das Schloss" und "Amerika" vernichten, mit der Einsicht des Autors in sein Scheitern, ein positives Heldenepos zu schreiben. Kafka muss gespürt haben, so mutmaßt Borges, wie schal das heroische Gelingen einer Romanfigur in einer Zeit wie der seinen hätte erscheinen müssen. Borges wünscht sich die gelungene Rückkehr zum Epos, kann aber nur das fade und künstliche Genre-Kino Hollywoods als misslungenen Versuch in diese Richtung anführen. Dem modernen Roman als experimenteller Form gebührt zwar seine Achtung, aber zugleich prophezeit er ihm ein baldiges Ende, da für ihn die Möglichkeiten der Prosa inzwischen ausgereizt scheinen.

Im Kapitel über das Verhältnis von Denken und Dichtung geht Borges zunächst auf die Genealogie der Wörter ein. Als Instrumentarium von einfachen Menschen entwickelten sich seiner Meinung nach die Begriffe heraus, die Verwendung fanden. Borges vermutet daher eine ursprünglich stärker mimetische Verknüpfung zwischen Wort und Bezeichnetem.

"Vielleicht gab es einen Moment, da das Wort "Licht" zu blitzen schien und das Wort "Nacht" dunkel war. Im Fall von "Nacht" dürfen wir mutmaßen, dass es zunächst für die Nacht selbst stand - für ihre Schwärze, ihr Dräuen, für die leuchtenden Sterne."

Die Magie der Dichtung läge nach Borges in der Archäologie dieses ursprünglichen Zusammenhangs zwischen Wörtern und Dingen. Die Schönheit eines Verses oder eines Gedichts liegt aber nicht nur in der Realisierung dieses Vorhabens, sondern erstreckt sich auf Aspekte jenseits des Inhalts. Exemplarisch macht Borges dies an zwei Versen, einem von William Butler Yeats ("Bodily decrepitude is wisdom; young / We loved each other and were ignorant") und einem anderen von George Meredith ("Not till the fire is dying in the grate / Look for any kinship with the stars") deutlich. Beide haben auf abstrakter Ebene die gleiche Bedeutung, nämlich dass in der Jugend alle Gedanken der Liebe gewidmet werden, im Alter hingegen alle Liebe den Gedanken gilt. Und trotzdem nimmt der Leser zwischen ihnen einen Unterschied wahr:

"Aber sie berühren in uns ganz verschieden Saiten. Wenn man uns sagt - oder wenn ich Ihnen jetzt sage -, dass sie das Gleiche bedeuten, spüren sie instinktiv, dass das irrelevant ist, dass die Verse wirklich unterschiedlich sind. Ich hatte schon oft den Verdacht, dass die Bedeutung in Wahrheit etwas ist, was man dem Vers hinzufügt. Ich weiß ganz sicher, dass wir die Schönheit eines Gedichts empfinden, bevor wir über eine Bedeutung auch nur nachzudenken beginnen."

Borges entfaltet diesen Gedanken weiter und führt Verse an, deren Bedeutung keine inhaltliche ist, sondern darin liegt, dass sie die Phantasie des Lesers entzünden. Gerade in dieser Eigenschaft sind Gedichte, wie die als Beispiel angeführten, unerschöpflich; diese Qualität macht nach Borges ihre Schönheit aus. Auch in diesem Zusammenhang wird die Betonung auf die Haltung des Rezipienten gelegt. Ein Gedicht kann aus dieser Perspektive nur überzeugend sein, wenn der Leser bereit ist, sich überzeugen zu lassen.

"Wenn wir einen Autor lesen (und wir mögen an Verse denken oder an Prosa - das ist alles eins), dann ist es wesentlich, dass wir ihm glauben. Oder besser, dass wir zu jener "willing suspension of disbelief [freiwillige Aussetzung des Zweifels]" gelangen, von der Coleridge sprach."

Dieser Glaube seitens des Lesers an das, was der Autor schreibt, bedeutet, dass die Autorität des Verfassers solange respektiert wird, wie der Eindruck besteht, dass das Geschriebene der Haltung, den Emotionen oder der Stimmung des Autors entspricht.

In der letzten Vorlesung steht das Oeuvre von Borges selbst im Zentrum des Interesses. Zuerst werden die vielfältigen Einflüsse, denen seine Entstehung unterlag, erläutert, um schließlich mit einem eigenen Gedicht zu schließen. Dieser schmale Band, der auf den ersten Blick so unscheinbar wirkt, hat keines der Mankos, die den Leser normalerweise vor posthumen Werken zurückschrecken lassen. Sicherlich findet sich für denjenigen, der das essayistische Werk von Borges schon näher kennt, viel Altbekanntes wieder. Aber auch wenn noch einmal die Riege der Kronzeugen von Chesterton bis de Quincy vorbeidefiliert, erfährt man doch eine Menge Erstaunliches und bisher Unbekanntes. Ein weiterer Vorzug dieses Buches ist, dass der mündliche Vortragsstil nicht getilgt wurde. So behält das Buch auch nach dreißig Jahren seine vitale Frische, die so manches jüngere Werk schon längst verloren oder nie gekannt hat.

Titelbild

Jorge Luis Borges: Das Handwerk des Dichters.
Übersetzt aus dem Englischen von Gisbert Haefs.
Carl Hanser Verlag, München 2002.
112 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3446202080

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