Die allgegenwärtige Vergangenheit

Christian Meiers Essays "Das Verschwinden der Gegenwart" über Geschichte und Politik

Von Christina WalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Walter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Meier ist schon von Berufswegen her stets geneigt, alle gegenwärtigen Geschehnisse immer auch durch die Brille des Althistorikers zu sehen. Die in seinem Werk "Das Verschwinden der Gegenwart" aufgeführten, von ihm teils schon vor Jahren veröffentlichten Aufsätze und Essays über Geschichte und Politik, gliedern dieses Buch in zehn Kapitel. Er bewahrt sich seine Kritikfähigkeit, indem er bereits in der Einleitung darauf hinweist, dass - bedingt durch den zeitlichen Abstand zu einigen dieser Arbeiten - die Ergebnisse in ihrer Richtigkeit möglicherweise überholt sein können.

Inhaltlich beschäftigt er sich mit europäischen und besonders deutschen Gegenwartsdiagnosen. Er sieht es als erwiesen an, dass bereits in der Antike die heutige Gegenwart in groben Zügen feststand. Durch viele lateinische und griechische Belege wird Meiers Wunschvorstellung von einer handelnden Bürgerschaft - wie in antiker Zeit - deutlich. Eine besondere Rolle spielt für ihn persönlich in diesem Zusammenhang stets die Bewältigung der nationalsozialistischen Diktatur. Als Synonym für alle in dieser Zeit begangenen Untaten dient ihm immer wieder das Schlagwort "Auschwitz". Er betont, dass in dieser Zeit der Gewaltherrschaft nicht nur Juden rassisch verfolgt wurden, sondern auch andere ethnische Minderheiten, wie beispielsweise Sinti und Roma, und bringt sein Befremden darüber zum Ausdruck, dass die Verfolgung Letztgenannter immer seltener - wenn überhaupt noch - erwähnt werde. Zum Thema "Holocaust-Denkmal" bedient er sich einer sowohl glänzenden als auch ätzenden Polemik. Ebenso kommentiert und reflektiert Meier den Prozess der deutschen und europäischen Wiedervereinigung und deren Zukunft und hebt hervor, dass eine Einschätzung der Gegenwart und eine Prognose für die Zukunft ohne historisches Denken nicht möglich seien. In diesem Kontext betont er immer wieder, dass nicht nur die letzten Jahrzehnte in Erinnerung gerufen werden sollten, sondern vor allem auch Lehren und Erfahrungen aus den Jahrhunderten zuvor. Es sei besonders für die heutige Zeit von großer Wichtigkeit, sich auf die Geschichte zu besinnen, zumal es den Menschen mittlerweile schon schwer falle, die eigene Gegenwart wahrzunehmen. Durch eine gezielte Reflexion der Vergangenheit lasse sich das Gegenwärtige besser relativieren. Meier ruft dazu auf, manche Dinge zu vergessen, ohne ihnen dadurch ihre Wichtigkeit oder ihre Schrecken zu nehmen. Die Spuren der Vergangenheit sollten unverändert erhalten bleiben, auch wenn ihnen in heutiger Zeit keine besondere Beachtung geschenkt werde. Man solle seine persönlichen Lehren aus der Vergangenheit ziehen und diese dann als überholt vergessen können, wenn auf diese Weise eine endgültige Versöhnung untereinander zu erreichen sei.

Die Wichtigkeit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit bleibt unumstritten. Die Menschen sollen zum einen aus den Fehlern vergangener Generationen lernen, das heißt ihre Schlüsse aus deren Fehlverhalten ziehen, zum anderen jedoch positive Handlungsweisen nicht außer acht lassen. Bei dem Bestreben, ein epochenübergreifendes Bewusstsein für die Geschichte zu entwickeln, ist aber auch eine fundierte Kenntnis gegenwärtiger Zusammenhänge unabdingbar, um so die Zukunft besser einschätzen zu können. Wenn Christian Meier sinngemäß feststellt, dass eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, beispielsweise in Bezug auf den Nationalsozialismus und dessen Greueltaten, zwar wichtig sei, er aber ebenso nachhaltig dafür plädiert, dass die jüngeren deutschen Generationen hierfür keinesfalls eine kollektive Verantwortung treffen dürfe, so ist er auf dem richtigen Weg, den Menschen einen respektvollen Weg der Wahrung dieser Ereignisse näher zu bringen. Der Autor besitzt eine besondere Sensibilität für das Verstehen der Gegenwart durch seine Kenntnis der Geschichte. Mit der Antike als Modell zeigt er auf, von wo sich bereits Gegenwartsdiagnosen ableiten lassen. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, er hätte auch diejenigen Leser nicht vergessen, die des Lateinischen und Griechischen, sogar des Englischen und Französischen nicht mächtig sind - und eine sinngemäße Übersetzung folgen lassen. Des weiteren steht wohl zu befürchten, dass die Vorhersehbarkeit der Zukunft durch das intensive Studium der Vergangenheit eher ein Wunschtraum als Realität sein könnte. Zustimmung sollte Meier darin finden, dass es viel wichtiger ist, das historische Erbe zu akzeptieren und vor allen Dingen zu respektieren, und nicht eine Kurzsichtigkeit für die vergangenen Ereignisse vorzuschützen, sondern ihnen entgegenzutreten, um sie in zukünftigen Zeiten unter anderen Vorzeichen besser zu bewältigen.

Titelbild

Christian Meier: Das Verschwinden der Gegenwart. Über Geschichte und Politik.
dtv Verlag, München 2004.
255 Seiten, 12,50 EUR.
ISBN-10: 342334069X

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