Akteure, Programme, Netzwerke

Zu Massimo Ferrari Zumbinis Studie "Die Wurzeln des Bösen"

Von Andrea GeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Geier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Massimo Ferrari Zumbini formuliert eingangs als Ziel seiner Studie, eine "Gesamtdarstellung des organisierten Antisemitismus im Kaiserreich" leisten zu wollen. Dieses Anliegen relativiert die Erwartungen, welche der thematisch und zeitlich wesentlich weiter gefasste Untertitel "Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarckzeit zu Hitler" weckt. Das in der Einführung genannte Programm löst der Autor, Professor für die "Geschichte der deutschen Kultur" an der Universität Viterbo, vorzüglich ein. "Die Wurzeln des Bösen" machen den Leser mit zentralen Protagonisten aus Verbänden und Parteien, den Gemeinsamkeiten in ihren Zielsetzungen und den Unterschieden, ihren vielfachen Vernetzungen untereinander wie ihren Konflikten vertraut. Wilhelm Marr, Adolf Stoecker, Eugen Dühring, Heinrich von Treitschke, Moritz Busch, Otto Böckel, Theodor Fritsch, Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Bernhard Förster - damit sind nur einige wichtige Personen benannt, deren Programme, politische und publizistische Unternehmungen, Entwicklungen, pragmatisch motivierte Zusammenarbeiten und Zerwürfnisse Zumbini erläutert. Er liefert biobibliographische Angaben zu den ausgewählten Protagonisten, weist auf Forschungslücken hin und zeigt die wichtigen Etappen in der Entwicklung des organisierten Antisemitismus seit der Reichsgründung 1871 auf. Dabei profiliert er innerhalb seines auf 682 Seiten facetten- und detailreich entfalteten Panoramas diejenigen Entwicklungen, die der antisemitischen Politik des Nationalsozialismus den Weg ebnen. Die im Untertitel enthaltene Programmatik führt Zumbini folgendermaßen aus: Es gehe ihm darum, im Antisemitismus des Kaiserreichs die "Wurzeln" des nationalsozialistischen Antisemitismus aufzuzeigen, denn dort "liegen in der Tat die 'Wurzeln des Bösen'. So - Le radici del male - lautet auch der Titel der italienischen Ausgabe dieses Buches. Von entscheidender Bedeutung ist, wie diese Wurzeln, sobald sie offengelegt werden, interpretiert werden, und wie man die Fundorte in der Topographie der Gesamtgeschichte jener Jahre situiert. Von dem sich dabei enthüllenden Vernichtungs-Potential des rassenideologischen Antisemitismus geht der Blick immer wieder auf den Nationalsozialismus."

Das Schlusskapitel enthält eine klare Einschätzung der Bedeutung dieser "Wurzeln". Zumbini legt dar, dass man nicht von einer geradlinigen Entwicklung vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus sprechen kann. Der organisierte Antisemitismus des Kaiserreichs hatte verschiedene Strömungen, und das Ringen um eine gemeinsame schlagkräftige Organisation führte nicht zum Ziel. Einzelne Antisemiten und antisemitische Parteien konnten politische Teilerfolge erringen, letztlich muss man aber ein Scheitern des organisierten Antisemitismus konstatieren. Dies ist allerdings keineswegs gleichzusetzen mit einem Misserfolg der Antisemiten: Der Antisemitismus des Kaiserreichs schuf, so Zumbini, in erster Linie durch die Verbindung von Sozialdarwinismus und Eugenik die Voraussetzungen für den eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus. Daher liegt seine Bedeutung in einer "Modernisierung" und "Radikalisierung" älterer Anschauungen sowie in der Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung.

Auf dem Weg, den man bis zu dieser Bewertung zurücklegen muss, bietet der Verfasser eine eindrucksvolle Fülle an Quellenmaterial und Hinweisen auf Forschung (insgesamt 66 Seiten Bibliographie). Zumbini thematisiert im ersten Kapitel "Die Juden im Kaiserreich" die Besonderheiten der jüdischen Minderheit im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (Verteilung, Berufsstruktur, Bildung), betont ihren schnelleren sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg und markiert dann mit den Jahren 1878/79 die antiliberale Wende, die den Gegnern der Juden-Emanzipation Auftrieb gab; anschließend stellt er den so genannten "doppelten Schaltkreis: Religion und Wirtschaft" als erste Phase in der weiteren Entwicklung vor: Mit diesem etwas unglücklich gewählten Begriff meint Zumbini, dass sich als Effekte von Kulturkampf und Wirtschaftskrise zwei antisemitische Argumentationsstränge, ein religiöser und ein wirtschaftlicher, überlagern und "wechselseitig potenzieren". Die Juden werden zum "Stereotyp der negativen Moderne" und damit Gegenstand einer umfassenden Gesellschaftskritik, die sowohl eine "Entchristianisierung" als auch den "Manchesterismus" meint. Für den wirtschaftlichen Antisemitismus stellt Zumbini Otto Glagau und Constantin Frantz vor. Das dritte Kapitel schildert das eigentliche Entstehen der antisemitischen Bewegungen: Im Zentrum stehen Adolf Stoecker, der die soziale Frage mit der sogenannten 'Judenfrage' verknüpft (Gründung der christlich-sozialen Partei und im gleichen Jahr, 1878, des Central-Vereins), Wilhelm Marr und sein rassischer und nicht-konfessioneller Antisemitismus, Eugen Dühring, bei dem sich Religionskritik und Rassenantisemitismus mischen, Heinrich von Treitschkes nationaler Antisemitismus und der Berliner Antisemitismusstreit sowie die Antisemitenpetition; außerdem rekonstruiert er die Etablierung des Neologismus "Antisemitismus". Das Auf und Ab in der weiteren Entwicklung des organisierten Antisemitismus wird an den genau kommentierten Ergebnissen der kommunalen Wahlen und der Reichstagswahlen deutlich: Zumbini erläutert den "parlamentarischen Versuch", d. h. Stoeckers "Berliner Bewegung", und die ersten Wahlsiege der Antisemiten, zieht jedoch vor dem Hintergrund der Reichstagswahlen in Berlin 1884 zunächst eine negative Bilanz des organisierten Antisemitismus; dem folgen Ausführungen zu den Reichstagswahlen von 1893 als "Höhepunkt" des organisierten Antisemitismus. Den Antisemiten bot sich nun eine historische Chance, die sie aber nicht für den Aufbau einer einheitlichen Partei nutzen konnten; vielmehr kam es zu Spaltungen und Zerwürfnissen, denen auch Stoecker und Otto Böckel, der in Hessen sehr erfolgreich war, aber nun die Führung über seine eigene Organisation verliert, zum Opfer fielen. Das alles ist nicht neu. Angesichts des selbst gesetzten Zieles, ein Gesamtbild zu bieten, ist die Zusammenschau aber durchaus gelungen und kann als einführende Lektüre empfohlen werden.

Im fünften Kapitel profiliert Zumbini Theodor Fritsch als Kristallisationspunkt des kaiserzeitlichen Antisemitismus. Sein Leben und Werk schlagen eine Brücke zum Nationalsozialismus. Hierbei wird zum ersten Mal Zumbinis eigene Forschungsleistung wirklich sichtbar. Fritsch greift nicht nur mit seinen eigenen erfolgreichen Werken ("Antisemiten-Katechismus", 1887, ab 1907 "Handbuch der Judenfrage") und als Herausgeber von antisemitischen Zeitschriften und Schriften (August Rohlings, Henry Fords und der "Protokolle der Weisen von Zion"), in die Debatte ein; er ist darüber hinaus ein 'Netzwerker', der mit fast allen wichtigen antisemitischen Akteuren in Verbindung steht und diese wiederum miteinander in Kontakt bringt. In einem späteren Kapitel erläutert Zumbini Fritschs Bedeutung für die außerparlamentarische Opposition in der Weimarer Republik; der Gründer des "Reichshammerbundes" und des "Germanenordens" war auch an diesem neuen Versuch, eine einheitliche antisemitische Organisation aufzubauen, beteiligt.

Die Beschäftigung mit Nietzsche bietet Zumbini die Möglichkeit, noch einmal auf zentrale Protagonisten der Szene und ihre Vernetzungen einzugehen. Nicht Nietzsches eigene Affinitäten zum Antisemitismus stehen hier im Mittelpunkt, sondern der "Kenner" und Beobachter des entstehenden organisierten Antisemitismus, der sich vom Antisemitismus zu distanzieren versuchte. Nietzsche wurde vielfach von Antisemiten umworben, seine Schriften wurden vereinnahmt und durch seinen Verleger Ernst Schmeitzner und seine Schwester Elisabeth war er mittelbar in den Antisemitismus verstrickt: Schmeitzner war Mitglied und aktiver Organisator verschiedener antisemitischer Gruppierungen, Teilnehmer des Dresdner antisemitischen Kongresses und Organisator des Zweiten Internationalen Antisemitenkongresses in Chemnitz, der außerdem Marrs "Antisemitische Hefte" publizierte; Elisabeth heiratete Bernhard Förster, Organisator der Antisemiten-Petition und Vorsitzender des Deutschen Volksvereins, der zeitweise in engem Kontakt mit Theodor Fritsch stand, welcher wiederum 1885 die Rechte an den antisemitischen Titeln Schmeitzners erwirbt.

Das Kapitel über die vom Antisemitismus beschworene Gefahr einer "Überflutung aus dem Osten" gerät Zumbini etwas zu weitschweifig. Er zeigt jedoch plausibel auf, wie der antisemitische Diskurs in seinem Bild vom "Ostjuden" eine Möglichkeit findet, eine grundlegende, wenngleich nicht sichtbare und daher umso gefährlichere 'Fremdheit' aller Juden zu behaupten. Im achten und letzten Kapitel konstatiert er zunächst einmal die Niederlage der antisemitischen Bewegungen, um dann deren Bedeutung herauszustreichen: "Mit der Formulierung von Theorien, Themen und Stereotypen erreichen die Antisemiten weit mehr, als sie sich jemals hätten vorstellen können: es gelingt ihnen der Modernisierungsprozeß, in dessen Verlauf die 'klassischen' Argumentationsmuster zwar nicht beseite geräumt, wohl aber den neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Koordinaten sowie der zeitgenössischen Sprache angepaßt werden." Dazu gehört für Zumbini in erster Linie das neue Paradigma des Juden als "Mutanten", mit der die Verwandlungsfähigkeit zur zentralen 'jüdischen' Eigenschaft erklärt wird.

Dass erst im letzten Kapitel ein eigenes Teilkapitel der Auseinandersetzung mit "Interpretationsmodellen" gewidmet ist, markiert ein zentrales Defizit der Studie. Zumeist beschränkt sich Zumbini auf die bloße Nennung der Forschungsliteratur oder benutzt sie ausschließlich als Beleg; eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Forschung im Sinne einer kritischen Diskussion von Thesen findet sich nur selten.

Sowohl Vorzüge als auch Nachteile der Studie hängen in hohem Maße mit der Anlage der Arbeit zusammen: Die Entscheidung des Autors, seine Erkenntnisse weitgehend anhand zentraler Vertreter zu referieren, erscheint durchaus stimmig, wenn es darum geht, Handlungsräume Einzelner sichtbar zu machen. Da diese Akteure vielfach untereinander vernetzt sind, entstehen allerdings erhebliche Redundanzen, die eine von Kapitel zu Kapitel fortschreitende Lektüre sehr mühsam werden lassen. Problematisch aber erscheint die Anlage der Studie noch aus einem anderen Grund: Die detaillierte und fundierte Schilderung der Etappen des organisierten Antisemitismus lässt personelle Verflechtungen sichtbar werden, markiert unterschiedliche Positionen und Strategien der zentralen Agenten im antisemitischen Feld. Systematische Fragestellungen geraten dabei aber fast notwendig immer wieder aus dem Blick bzw. werden gar nicht erst aufgeworfen. Zumbini zieht die Texte seiner Protagonisten nur heran, um daraus Einstellungen und eventuelle Entwicklungen abzuleiten, lässt sich aber auf eine vergleichende Interpretation der Texte nicht ein. Da das Ergebnis der Studie jedoch lautet, dass der organisierte Antisemitismus zwar gescheitert sei, aber gesellschaftlich große Auswirkungen gehabt und Muster entwickelt hätte, welche die Nationalsozialisten nutzen konnten, überrascht diese Einschränkung: Denn die Frage nach der Begründung dieses Fazits führt zweifelsohne zur Frage nach den wirkungsmächtigen Strukturen des antisemitischen Diskurses - jenseits der von den Akteuren selbst proklamierten Differenzen in ihren Standpunkten, angesichts derer man eher im Plural von "Antisemitismen" sprechen könnte. Eine nahe liegende Möglichkeit wäre gewesen, die Texte der Akteure systematisch zu befragen, welche Lösungsstrategien sie aufzeigen, welche topischen und wirkungsmächtigen Argumentationsmuster und welche grundlegenden Strategien zur Plausibilisierung und zur Förderung der Akzeptanz von antisemitischen Positionen sich finden. Dieses diskursanalytische Vorgehen hätte Zumbinis eigener These wesentlich zugearbeitet.

Wie eng Fragen der Gliederung und der Methodik zusammen hängen, lässt sich auch am ersten Kapitel, der knapp 60-seitigen, sehr informativen Darstellung über die Situation der Juden im Kaiserreich zeigen. Offenbar geht es Zumbini hier wie auch in den späteren Ausführungen zum Judentum in Wien, Prag, Budapest, Odessa usw. darum, die realen Verhältnisse von Juden in der Gesellschaft darzustellen, um eine Grundlage für eine Bewertung der antisemitischen Vorwürfe zu erhalten. Er diskutiert aber nicht, ob ein solcher Abgleich nach dem Prinzip "Stereotype und Wirklichkeit" sinnvoll ist und wo er seine notwendigen Grenzen finden muss. So kann Zumbini beispielsweise Treitschke im Kapitel über die Ostjuden-Problematik "falsche Annahmen" über die Zuwanderung nachweisen. Wenn er dagegen in seinen Ausführungen über die Berufsstruktur darlegt, dass der Anteil von Juden am Bankensektor und an der Börse ebenso wie in der Presse überproportional war, dann meint er natürlich nicht, dass diese Fakten eine von Antisemiten behauptete 'jüdische Herrschaft' durch ökonomische und publizistische Macht bewiesen. Genau diese Bestätigung aber läge aufgrund des benutzten einfachen Widerlegungsmechanismus in der Logik der aufgestellten Korrespondenzbeziehungen. Damit aber lässt man sich auf die antisemitische Argumentation ein (aber nur dort, wo man sie zur Widerlegung nutzen zu können glaubt), statt grundsätzlicher zu untersuchen, auf der Basis welcher Einstellungen und Prämissen einzelnen ausgewählten Fakten Beweiskraft innerhalb antisemitischer Argumentationsmuster zugesprochen wird.

Zumbinis Studie ist ein verdienstvoller Überblick über den organisierten Antisemitismus im Kaiserreich, das Einsteigern in das Thema ebenso wie Fachleuten etwas zu bieten hat. Angesichts der Tatsache, dass der Autor über ein breites und fundiertes Wissen verfügt, regt sich im Leser allerdings beständig der Wunsch, dass er sich für einen stärker perspektivierten Zugriff auf sein Thema entschieden und sich damit in höherem Maße sowohl auf systematische Fragestellungen als auch auf die Erörterung grundlegender methodischer Aspekte eingelassen hätte.

Titelbild

Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2003.
774 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3465032225

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch