Wie immer - und anders

Zu Erich Hackls Erinnerungstexten aus sieben Jahren.

Von Elisabeth KapfererRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisabeth Kapferer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie geht man um mit Erinnerungen, die nicht die eigenen sind? Mit Stückwerk, mit Details von Biographien, die einem von unterschiedlichen Seiten zugetragen werden, die im Raum stehen, unvollständig, die es einem aufnötigen, zu erzählen, zu vervollständigen, wo Lücken sind, ein Andenken zu sichern, wo Vergessen droht? Wie geht man um mit einem Schicksal, das erinnert werden will, ohne dass es tatsächlich Erinnerungen gibt an dieses Leben? Erich Hackls jüngstes Buch "Anprobieren eines Vaters" versammelt mögliche Antworten auf Fragen dieser Art: Variationen zum Thema Erinnerung. Stets kreisen diese Texte um Biographien von Menschen, die stellvertretend und als Paradigma genommen werden können "für jene, von denen man nichts weiß, denen nie gedankt oder deren nie gedacht wurde"; stets sind es gleichzeitig Skizzen, die das einzigartige Leben unverwechselbarer Persönlichkeiten wiederzugeben und dem "Erinnerungsnebel" zu entreißen versuchen.

Einigen der "Geschichten und Erwägungen", die in "Anprobieren eines Vaters" vorliegen und die - mit Ausnahme der beiden in diesem Band erstmals abgedruckten Texte: der Titelgeschichte und der abschließenden Erzählung "Geschichte eines Versprechens" - zumeist in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht worden sind, ist die ursprüngliche Form der Veröffentlichung anzumerken. Da werden z. B. in "Familie Fleischmann" und "Um des Friedens willen" mittels der geschilderten Schicksale Fragen aufgegriffen, die den Blick vom Individuum sehr schnell auf das gesellschaftliche Ganze wandern lassen; über Jahrzehnte hinweg, über Argentinien und Israel bzw. über das Salzkammergut gelangt man letztlich ins heutige Wien, mitten in die Diskussion um das Anbringen von Gedenktafeln für Opfer des Nationalsozialismus an Wohnhäusern. Hier begegnet man Erich Hackl vordergründig als einem Autor des Feuilletons, und diese Begegnung lohnt sich nicht zuletzt deshalb, weil sie gleichzeitig den Blick auf den Literaten freigibt, dessen Methode zwar immer wieder dieselbe ist, der diese Methode aber in ihrer Ausführung unablässig variiert.

Hackl hört zu und recherchiert. In seinem Schreiben zählt in erster Linie das, was man ihm anvertraut hat. So wird der Erzähler zum Sprachrohr, und seine Sprache ist immer auch die seiner Zuträger. Mal berichtet er selbst, was zu sagen ist, mal lässt er die Stimmen der Erinnernden nebeneinander stehen, nimmt selbst einen Platz ein im Gefüge der Stimmen, einen Platz unter mehreren. Es entstehen Lebensbilder, die unaufdringlich sind, die zu interessieren und zu berühren imstande sind, die sich einprägen - Lebensbilder, wie man sie auch aus den früheren Büchern Hackls kennt.

Wie aber geht man um mit einer Geschichte, deren eigentliche Voraussetzung das Schweigen ist, das Nichtaussprechen von Erinnerung, das Geheimnis um die Vergangenheit, um ein Versprechen? Die "Geschichte eines Versprechens" unterscheidet sich grundlegend von den übrigen Texten des Bandes. Hier geht es nicht um die literarische Aufarbeitung einer Recherche, hier redet sich ein Mann das vom Herzen, was er eigentlich nicht erzählen darf. "Er könnte Wilhelm Gubi heißen. Willi. Und sie Elena, Hélène, Leni. Das würde die Sache erleichtern. Ihre wirklichen Namen blieben geheim." Und so kann Willi doch erzählen, es versuchen zumindest.

Der Fortgang des Geschehens wird in der "Geschichte eines Versprechens" über weite Teile völlig aufgebrochen in ein Nebeneinander verschiedener Zeitstufen, die ihre jeweils eigene Atmosphäre und Spannung in den Text bringen; die Klarheit der Situation, von der Hackls Texte sonst geprägt sind, weicht hier einem lange Zeit eigenartig diffusen Rahmen, der als "das große Unglück" umschrieben wird. Der Text liest sich wie ein Frage-Antwort-Spiel, wir haben nur die Antworten. Die Sätze winden sich mit dem Antwortenden um den eigentlichen Kern, können nicht ablassen davon, brechen ab, greifen erneut auf, setzen an - und schweigen dann, vorerst, doch wieder. Das Erzählen kennt hier keine Chronologie mehr, kaum noch Logik, der innere Aufruhr des Protagonisten wird zum treibenden Moment. Die Sprache ist dort leicht, wo sie ein gar nicht leichtes Schicksal wiedergibt, sie stockt, wo immer sie in die Nähe des 'Versprechens' rückt, sie gerät aus den Fugen, wo sie Gefahr läuft, am Geheimnis, das Folge des Versprechens ist, zu kratzen. Immer wieder drängen Sätze wie "Das ist die Wahrheit" herein, als gälte es, sich immer wieder dessen zu versichern, dass es in diesem Leben, das so untrennbar mit einer Lüge verknüpft ist, dennoch Wahrheit gibt.

Die Portraits, die Hackl in seinen Texten entwirft, beschreiben Menschen, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den Strom zu schwimmen versuchten. Die Texte wie auch manche Ausschnitte aus den Biographien der Portraitierten ähneln sich. Dennoch wird Hackl den unterschiedlichen Persönlichkeiten auf eine jeweils eigene Art gerecht. Er selbst nimmt sich dabei zurück hinter das geschilderte Leben, meist zur Gänze. Leider: Denn am wirkungsvollsten sind die Texte gerade dann, wenn Hackl sich explizit einbringt als einer, der Geschichten anprobiert, seine eigenen Mutmaßungen anstellt, oder aber, wenn er durch ein Innehalten, durch das Setzen von Leerstellen Platz für Mutmaßungen freigibt. Da geschieht etwas Merkwürdiges, es entsteht Nähe und Distanz gleichermaßen. Hackl löst sich aus dem Erzählten heraus, wird zu einer eigenen Instanz im Text. Er öffnet damit den Raum, in dem Literatur wirken kann. Es sind dann so kleine Dinge wie einzelne Sätze, die dafür ausreichen, dass Ferdinand Hackl, Ruth Fischer oder jener Mann, der Wilhelm Gubi heißen könnte, hier und jetzt vor uns stehen. Plötzlich ist da keine sichere Entfernung mehr, aus der man diese Leben betrachten kann, plötzlich betreffen diese vergangenen Geschichten einen ganz unmittelbar selbst. Und abseits der Katastrophen, die hinter dem jeweiligen Schicksal stehen, begegnet man Menschen, deren Probleme immer wieder auch die eigenen sein könnten. "Ich könnte also durchaus sein Sohn sein", schreibt Erich Hackl in der Titelgeschichte über Ferdinand Hackl. "Gut möglich, daß ich Ferdls Kindheitsgeschichte dann nicht aufgeschrieben hätte, gegen Ende eines Jahrhunderts, das noch lange geht." - Gut möglich. Gut und wichtig jedenfalls, dass Erich Hackl diese wie auch die anderen Geschichten anprobiert und aufgeschrieben hat.

Titelbild

Erich Hackl: Anprobieren eines Vaters. Geschichten und Erwägungen.
Diogenes Verlag, Zürich 2004.
303 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3257063849

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