Funktionalismus mit menschlichem Antlitz

Margarete Schütte-Lihotzky erzählt ein Leben zwischen Politik und Architektur

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihr Weg zur Architektur steht am Ursprung der Avantgarde, als die Gestaltung neuer Räume unmittelbar eine neue gesellschaftliche und politische Verantwortung des Architekten anzeigt. Denn nicht mehr nur Bürgervillen zählen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zum Aufgabenfeld des Architekten; die Architektur begegnet der Herausforderung des sozialen Wohnungsbaus. Und die Speerspitze der Architekten bekennt sich zu einem funktionalen Baustil, in dem das Bekenntnis zum sozialen Wohnungsbau auch den Optimismus einschließt, die Lebensverhältnisse vieler Menschen zu verbessern.

Margarete Schütte-Lihotzky, die während des Ersten Weltkrieges in Wien ihr Studium aufnimmt und bei Oskar Strnad und Adolf Loos in die Lehre geht, ist eine politische Zeitzeugin der Architektur. Sie hat dabei das Glück, schon räumlich mitten im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen zu stehen. Im Wien ihrer Zeit steht die soziale Frage auf der Tagesordnung - und das nicht nur, weil entscheidende Köpfe einer neuen Rationalität (Freud, Loos oder Wittgenstein) hier ihre Heimat haben, sondern auch und vor allem, weil die politischen Konstellationen im "roten Wien" Rahmenbedingungen schaffen, die sozialen Wohnungsbau im großen Stil ermöglichen. Die Wiener Gemeindebauten der zwanziger Jahre sind zu ihrer Zeit eine bahnbrechende Neuheit und bis heute legendär. Mit ihren vielfältigen Gemeinschaftseinrichtungen (Zentralwäschereien, Ambulatorien, Klub- und Versammlungsräumen) werden sie zudem zum Zeichen eines gesellschaftlichen Aufbruchs, von dem Schütte-Lihotzkys Memoiren grundlegend durchdrungen sind. Immerhin waren Gemeindewohnungen, wie die im Winarsky-Hof in Wien, die ersten architektonischen Großprojekte, mit denen sie sich in die Reihe Adolf Loos, Oskar Strnad, Josef Frank etc. hat einreihen können. Und auch für die Siedlungsbewegung, derer sich die rote Wiener Kommunalregierung annimmt, kann Schütte-Lihotzky planen - und zwar in einer Weise, die einen bis heute menschenwürdigen Wohnraum hervorbringt.

Die Erinnerungen enthalten einen utopischen Überschwang, der sich leicht auf diese Erfahrungen zurückführen lässt. Er verschränkt das Bauen mit dem Gestalten einer neuen Gesellschaft. So diskutiert Schütte-Lihotzky etwa einen utopischen Konvergenzpunkt von Sozialismus und Feminismus: die Vergesellschaftung der Hausarbeit. Die Autorin ist überzeugt, "dass wir für einen Teil der Bevölkerung in Zukunft zu ganz anderen Wohnformen kommen werden, etwa zu Einküchenhäusern, Kommune- und Servicehäusern, oder wie man sie auch nennen mag."

Gleichwohl weist sie auch avantgardistische Illusionen zurück, dass das Neue Bauen bereits den Weg zur besseren Welt würde ebnen können. So schreibt sie "Nur durch den politischen Kampf für ein sozialistisches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem werden wir schließlich allen Menschen gute Wohnungen, allen Kindern schöne Kindergärten schaffen können."

Besonders interessant sind Schütte-Lihotzkys Berichte über die ersten Frankfurter Erfahrungen. Bei aller Fortschrittlichkeit empfindet sie ihre dortigen neuen Kollegen um Ernst May als unpolitisch. Während im roten Wien gerade unter Planern eine Atmosphäre des politischen Aufbruchs herrscht, steht sie in Frankfurt fast alleine da, wenn sie auf die Maidemonstrationen geht. Allein in Carl Grünberg, dem Gründer des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, hat sie einen politischen Mitstreiter.

Dieser Mangel einer politischen Kultur färbt sich auch auf das Bauen ab. Die neuen Siedlungen (Praunheim oder Niddatal) sind von einem durchaus anderen Geist getragen als die Gemeinde- und Siedlungsbauten in Wien. Gemeinschaftsküchen oder Versammlungsorte gibt es dort nicht. Darüber diskutierte man, wie Schütte-Lihotzky schreibt, "in Frankfurt nicht einmal."

Diese eher beiläufige Bemerkung zeigt vielleicht eine sympathische Besonderheit der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky an. Denn als eine hervorragende Vertreterin des Funktionalismus, die an den Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) teilnahm, steht Schütte-Lihotzky doch allemal für einen Funktionalismus mit menschlichem Antlitz. An den etwas starren stadtplanerischen Programmen der CIAM wurde kritisiert, dass sie über Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr die soziale Dimension der Kommunikation und Versammlung vergaßen. Schütte-Lihotzky hat gerade dafür ein feines Gespür. In ihren Memoiren, in denen sie von den Prinzipien der Funktionalität und der sozialen Verantwortung der Architektur nicht einen Deut abrückt, denkt sie dennoch die Bewohner immer auch als lebendige, als wohnende und handelnde Menschen. Das gilt, folgt man dem Tonfall ihres Rückblicks, für ihre ersten Gemeindewohnungen, für die Siedlungsbauten und auch für ihr berühmtestes Werk, die Frankfurter Küche.

Die stereotype Identifizierung Schütte-Lihotzkys mit der Frankfurter Küche ist allerdings auch ein bisschen unfair. Schütte-Lihotzky war die erste Architektin mit Wiener Diplom; sie plante in mehreren Ländern Wohnungen und Siedlungen. Wenn sie heute allein für die Frankfurter Küche steht, dann auch aus einem sexistischen Ressentiment: Als Frau sei sie für die (Planung einer) Küche besonders geeignet, während doch aber nur Männer wahre Architekten seien. Schon die technisch exakten Berechnungen und wohntechnischen Erwägungen, die zur Frankfurter Küche geführt haben (Schütte-Lihotzky legt sie ausführlich dar) und die ein feines architektonisches Geschick bezeugen, widerlegen solche Stereotypen. Das ganze Leben der Architektin steht zu ihnen im Widerspruch.

Inwieweit die Frankfurter Küche, die die Hausarbeit nachhaltig rationalisierte, ein sozialer Fortschritt gewesen ist, diskutiert Schütte-Lihotzky ausgiebig. Niemals vergisst sie den Hinweis darauf, dass neue Zeiten neuer Maßstäbe und neuer Fortschritte bedürfen. Schon das macht ihren Funktionalismus menschlich: er denkt historisch und kann deswegen auch seine eigenen Grenzen einsehen. Wenn man so will, war Schütte-Lihotzky eine Architektin, deren Bedeutung in einer historischen Tat liegt, und nicht so sehr in möglicherweise "zeitlosen Werken".

Der menschliche Aspekt des Funktionalismus tritt in dem Buch noch in anderer Weise hervor. Die Autobiographie berichtet von persönlichen Begegnungen nicht nur mit Ernst May, sondern auch mit Adolf Loos und Walter Gropius. Schütte-Lihotzky beschreibt vor allem Loos und Gropius zwar mit großem Respekt, dennoch aus persönlicher Nähe. Schon physiognomisch und habituell erschienen ihr beide einem "Urbild des Architekten" ähnlich: sachlich orientiert, leise, markant und universell interessiert.

Loos tritt in sympathischer Weise als ein charakterlicher Extremist hervor, der der bedingungslosen Bejahung oder Verneinung zugeneigt ist. Etwas kauzig und durchaus humorvoll provokant erinnert er an Thomas Bernhard, wenn er einmal, wie Schütte-Lihotzky erzählt, die französische Küche lobt: "Äußerst aufgeräumt erzählte er, er ginge jetzt in eine Kochschule, schwärmte von der französischen Küche, wetterte gegen den Wiener Apfelstrudel - ganz Österreich sei ein Apfelstrudel - und lud mich und meinen Begleiter, einen österreichischen Arzt, für den Abend zu einem Essen ein, das er selbst zubereiten wollte. Loos war ein Gourmet." Gerade diese anekdotenhaften Einblicke in die Produktionszentren der Architekturavantgarde machen die Memoiren zu einem ausgesprochen lesenswerten Buch.

Ähnlich spannend lesen sich die Passagen über Walter Gropius. Schütte-Lihotzky begegnet ihm nach dem Zweiten Weltkrieg auf einem CIAM-Kongress und notiert vor allem seine Niedergeschlagenheit angesichts der Zerstörungen. Architekt durch und durch war der "Eindruck der bombenzerstörten Städte für ihn niederschmetternd" und: "Während der Kongresstage habe ich ihn nicht ein einziges Mal lächeln sehn!" Später tritt Gropius noch einmal als "ein Mensch mit Herzensbildung" hervor, als er sich für die Architektin einsetzt, die im Wien der Nachkriegszeit nach einigen Jahren im Nazi-Zuchthaus nur schwer wieder Fuß fassen kann.

Etliche Lebensphasen der Architektin, die immerhin 102 Jahre alt wurde, bevor sie im Januar 2000 starb, spart das Buch aus. Das ist zum Teil der thematischen Eingrenzung "Warum ich Architektin wurde" geschuldet, lässt zum Teil aber auch Fragen offen, deren Beantwortung man sich gewünscht hätte. Die später geschiedene Ehe mit Wilhelm Schütte wird nur sehr marginal gestreift. Überhaupt beschränkt sich das Buch auf die öffentliche Person der Architektin.

Gerne hätte man auch mehr über Schütte-Lihotzkys Zeit in der Sowjetunion erfahren, die 1930 beginnt und mehrere Jahre währt. Nur am Schluss des Buches finden sich einige Seiten zur Reise und zur Ankunft in Moskau, die jedoch vor allem auf die Teamarbeit der Gastmannschaft aus Frankfurt abhebt und nicht sehr viele Eindrücke aus der Sowjetunion enthält. Wer sich ferner für Schütte-Lihotzkys Engagement im antifaschistischen Widerstand interessiert, der wird ebenfalls enttäuscht. Dem widmet sich ein anderes Buch, das bereits 1985 im Konkret Verlag erschien: "Erinnerungen aus dem Widerstand - Das kämpferische Leben einer Architektin 1938-1945".

Insgesamt sind Schütte-Lihotzkys Erinnerungen ungeachtet einiger Aussparungen und mancher Wiederholungen zügig und mit Begeisterung zu lesen. Das Buch ist das ebenso glaubhafte wie reflektierte Zeugnis einer politischen Architektin. Es erzählt von einer Zeit des sozialen und ästhetischen Aufbruchs, in der jene mit der Emphase des Fortschritts und einem gehörigen Stück Optimismus haben auftreten konnten. Wem die Architektur und die Zukunft der sozialen Gerechtigkeit (die doch erst in der Gestaltung des bewohnten Raumes konkret wird) am Herzen liegt, der sollte unbedingt, dieses Buch lesen.

Titelbild

Margarete Schütte-Lihotzky: Warum ich Architektin wurde. Erinnerungen und Betrachtungen.
Residenz Verlag, Wien 2004.
240 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3701713693

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