Kunst - Geschichte - Geschichtskunst

Christian Boltanski und Bernhard Jussen als Signalgeber

Von Jan-Holger KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Holger Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes befindet sich seit 1999 eine Arbeit des französischen Künstlers Christian Boltanski: das "Archiv der Deutschen Abgeordneten". Es besteht aus rund 5.000 Blechschachteln; an jeden Reichstags- und Bundestagsabgeordneten wird mit einer namentlich gekennzeichneten Schachtel erinnert. Die Installation hat einen konkreten historischen Bezug, erweckt zugleich aber den Eindruck einer Urnenhalle und besitzt metaphysisch-religiöse Konnotationen. Diese Ambivalenz charakterisiert - in unterschiedlichen Ausprägungen - das gesamte Werk des 1944 geborenen Boltanski. Als er im Herbst 2001 mit dem Goslarer "Kaiserring" ausgezeichnet wurde, würdigte ihn der Kunsthistoriker Werner Spies in seiner Laudatio als Schöpfer von "Historienbildern". Was genau heißt dies? Wie formt der Künstler Boltanski Geschichte, und was unterscheidet ihn dabei von den akademischen Wächtern des kulturellen Gedächtnisses, den Historikern?

Solche Fragen nach dem Verhältnis von Kunst und Geschichte, Künstlern und Historikern waren der Ausgangspunkt für mehrere ambitionierte Veranstaltungen, die der jetzt in Bielefeld lehrende Mediävist Bernhard Jussen am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte organisierte. Aus den Kolloquien gingen jeweils Sammelbände hervor - zu Jochen Gerz (1997), Anne und Patrick Poirier (1999), Hanne Darboven (2000), Ulrike Grossarth (2003) sowie nun zu Christian Boltanski. Die gemeinsame Prämisse lautet, dass der künstlerische und der geschichtswissenschaftliche Umgang mit Vergangenheit sowohl durch konstitutive Differenzen als auch durch Ähnlichkeiten gekennzeichnet seien. Es solle versucht werden, Künstler und Wissenschaftler miteinander ins Gespräch zu bringen, um "das Verständnis in der Geschichtswissenschaft für aktuelle ästhetische Arbeitsweisen an den historischen Imaginerien der Gesellschaft [zu] schärfen".

Eröffnet wird das sehr ansprechend gestaltete Buch mit einer bislang unpublizierten Arbeit Boltanskis, die die Grundlage des Göttinger Kolloqiums vom November 2001 bildete. Boltanski hatte auf Pariser Flohmärkten etliche Ausgaben der Wehrmachtszeitschrift "Signal" gekauft und die Hefte so auseinandergenommen, dass jeweils zwei ursprünglich nicht zusammengehörige Farbseiten eine neue Doppelseite ergeben. Daraus resultieren überraschende Konstellationen, ja Konfrontationen: Die linke Seite des ersten Blatts zeigt eine Hummel auf einer Rosenblüte, die rechte ein sorgsam inszeniertes Porträtfoto des Generalfeldmarschalls Walter von Reichenau. An anderer Stelle werden deutsche Panzertruppen in der Ukraine und Hans Albers als "Münchhausen"-Darsteller der Ufa kontrastiert. Besonders beklemmend ist es, neben Michelangelos "David"-Statue (Bildlegende: "Symbole de Jeunesse") ein Foto offenbar frisch angelegter Soldatengräber zu sehen ("Novembre: Souvenir des Morts - Souvenir des Héros").

"Signal" erschien von April 1940 bis März 1945 in der Regel alle zwei Wochen. Es handelte sich um eine Kulturzeitschrift mit herausragendem Layout sowie ausgezeichneter Bild- und Papierqualität. Ihre Auflage betrug bis zu 2,5 Millionen Exemplare; als "Zeitschrift des Neuen Europa" (Untertitel) wurde sie in zahlreichen Ländern verkauft, überwiegend in Frankreich. Boltanskis Verdienst ist nicht allein der künstlerische Umgang mit dem Material; wohl ebenso wichtig ist es, die Zeitschrift selbst unter Historikern erst einmal bekannt zu machen, denn bisher liegt zu "Signal" nur ein längerer Aufsatz von 1986 vor. Dies überrascht, denn das Journal könnte als ergiebige Quelle transnationaler Geschichte und nationalsozialistischer Europavorstellungen dienen.

Nach dem künstlerischen Auftakt und Jussens konzentrierter Einleitung interpretieren drei Aufsätze Boltanskis Arbeitsweise. Thomas Lentes geht der in den meisten Werken des Franzosen dominierenden religiösen Formensprache nach. Er vertritt die plausible These, "dass Boltanski zwar formal in Kontinuität zu den unterschiedlichsten Formen der jüdisch-christlichen Gedächtniskultur" stehe, die "Diskontinuitäten in der Aussage" freilich überwögen. "Erinnerungstechniken werden bei ihm nicht so sehr zur Vergegenwärtigung von Personen angewandt, sondern vielmehr um auf das Prekäre von Erinnerung und Gedächtnis aufmerksam zu machen." Andererseits betont Lentes, dass diese Gedächtniskunst zumindest in Boltanskis Rauminstallationen eigentlich keine Geschichtskunst sei, sondern tendenziell unhistorisch. Sogar der Holocaust "wird lediglich zur Parabel für die allgemeinen existenziellen Erfahrungen des Übergangs des Subjekts zum Objekt und all der unterschiedlichen Spielarten, wie Menschen einander zum Objekt zu degradieren vermögen" - eine anthropologische Perspektive, die legitim sein mag, aber zumeist nicht diejenige von Historikern ist.

Otto Gerhard Oexle setzt Boltanskis Werk zur abendländischen Memorialkultur der Vormoderne in Beziehung. Anders als Lentes vertritt Oexle eher eine Kontinuitätsthese; Boltanski revitalisiere "die Konstituierung der Gegenwart der Toten im Bild und durch die Nennung ihrer Namen". Außerdem erläutert Oexle Boltanskis Berliner Arbeit "The missing house" (1990), die Markierung der Leerstelle eines bombenzerstörten Hauses in der Großen Hamburger Straße. Der Artikel ist detail- und kenntnisreich, doch erscheinen die verschiedenen Abschnitte etwas unverbunden. Im dritten Aufsatz, einer kaum modifizierten Wiederveröffentlichung von 1995, erläutert Monika Steinhauser Boltanskis Werkgeschichte. Sie hebt hervor, dass Boltanski seit den 80er Jahren explizite Bezüge zum Holocaust herstellt, was allerdings auf spezifisch künstlerische Weise geschehe: "Photos und Dokumente figurieren dabei nicht wie in der Geschichtswissenschaft als interpretationsbedürftige Quellen, sondern als 'Images stimuli', deren Inszenierungsform die Richtung möglicher Assoziationen bestimmt."

Dies gilt wohl auch für Boltanskis Umgang mit der Zeitschrift "Signal", die leider nur in den Texten von Jussen und Oexle ausdrücklich angesprochen wird. Als Historiker hätte man sich detailliertere Informationen zu den abgedruckten Bildmotiven und ihren originalen Kontexten gewünscht. Zudem fehlen im Literaturverzeichnis wichtige Artikel, in denen Boltanskis Umgang mit Vergangenheit diskutiert worden ist. Dennoch stellt diese (durchgängig deutsch-englische) Publikation eine Bereicherung dar, weil sie die vermeintlich festen Grenzziehungen zwischen Kunst und Geschichte neu befragt. Weitere derartige Explorationen wären zu wünschen - etwa zum Werk des meist überschätzten belgischen Malers Luc Tuymans, aber auch zu den kürzlich verstorbenen DDR-Künstlern Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke. Vor allem aber wäre eine allgemeinere Diskussion nützlich, ob und wie Ansätze der Gegenwartskunst für die historiographische Beschreibung des 20. Jahrhunderts fruchtbar gemacht werden können.

Titelbild

Bernhard Jussen (Hg.): Signal - Christian Boltanski.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
140 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3892446539

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