Lehrreiche Fußballbetrachtungen

Klaus Theweleits hintergründige Bemerkungen über "Fußball als Realitätsmodell" öffnen ein "Tor zur Welt"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch ein Fußballbuch? Zu oft bleibt der Versuch, den Fußball als kulturästhetisches Phänomen zu beschreiben und aus seiner Erscheinungsweise Rückschlüsse auf den Zustand der Gesellschaft zu ziehen unbefriedigend. Hinter schwerdenkerischen Posen verbirgt sich am Ende doch oft nur Leichtgewichtiges. Ausnahmen bestätigen die Regel. Vor allem dann, wenn es Autoren gelingt, ihre Fußballbetrachtungen mit einem Schuss Ironie zu versehen, die gedanklichen Anregungen nicht mit allzu viel Theorieballast zu beschweren, sie vielmehr als Phänomene präzise zu beschreiben und dadurch Wirkungen zu erzielen. Klaus Theweleits "Tor zur Welt" gehört zu diesen Büchern.

Aber warum überhaupt das viele Gerede und Geschreibe über Fußball? Fußball, so Theweleit, ist heute Teil der Popkultur und diese ist der "Wörtergenerator Nr. 1". Soviel also zur Fülle der Popblasen. Interessanter die Begründung für die vielen angestrengt klugen Bemerkungen zum Phänomen. Da sei eine Leerstelle für alle Denker entstanden seit dem Ende der politischen Utopien. Auf der Suche nach anderen gesellschaftsrelevanten Themen, über die sich Theorie stülpen ließe, habe sich Fußball angeboten. So bleibt wenigstens die Praxis des Denkens in Übung.

Wie anders war das doch in den 50er Jahren. Aber Vorsicht: der Blick zurück in die Vorzeit des deutschen Fußballs, verklärt sich gerade in diesem Jubiläumsjahr im Banne des Wunder-Mythos von Bern 1954. Als die "Männer" um den "Chef" Sepp Herberger die Weltmeisterschaft gegen die favorisierten Ungarn gewinnen konnten, war - so erzählt es der Mythos - dies erst die wahre Geburtstunde der neuen Republik. Das wuchtige "Deutschland, Deutschland über alles", das die deutschen Zuschauer im Berner Wankdorfstadion zum Graus der internationalen Presse in ihrer Begeisterung anstimmten, war ebenso ehrlich wie unbedarft. Auf, lautete die Botschaft, in die Zeit des wirtschaftswunderlichen Verdrängens. Wie das wirkliche "Leben mit Ball" in jenen Jahren aussah, schildert Theweleit in schönen Impressionen aus der Kinderzeit der 50er Jahre. Auf eine wundersame Weise öffnet tatsächlich der Fußball das "Tor zur Welt" und damit auch zu den zeitgeschichtlichen Realitäten. In den sonntäglichen Radioübertragungen der Ergebnisse aus den Oberligen fügt sich für das Kind eine Landkarte Westdeutschlands aus den klingenden Vereinsnamen der Oberligen Nord und West, die heute größtenteils vergessen sind, zusammen. Westdeutschland wohlgemerkt, denn schon die Oberliga Berlin blieb seltsam fremd. Ebenso vergessen heute auch die 'Bälle', mit denen die Kinder spielen musste. Mangelzeiten, in denen Fußball Fluchtpunkte bot.

In solchen Betrachtungen zur Kindheitssozialisation mit Fußball stecken Anreize zur Erkundung jener "Parallelwelten", in denen Fußball und Politik zusammengeführt werden. Die "Regel" Theweleits: "Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert." Die Regel verleitet Theweleit nicht zu voreiligen Analogien zum Politikbereich. Eher bietet sie ihm Anlass, das Geschehen auf dem Fußballplatz rückwirkend auf das Gesellschaftliche zu beziehen. So waren beispielsweise die Bundestrainer Derwall und Vogts über derartige Interdependenzen offensichtlich überhaupt nicht im Bilde - oder hätten sie sonst ihre ebenso begabten wie 'schwierigen' Kicker Bernd Schuster bzw. Stefan Effenberg aufgrund "überholter Vorstellungen von Kameraderie und öffentlichem Anstand" aus der Gemeinschaft der Elitespieler ausschließen können? Ganz anders der Frauenfußball: Der ist - so wie er im Moment zu erleben ist - modern und fortschrittlich. Um aber eine "verlässliche Parallelwelt zum 'Politischen' darzustellen", fehlt ihm noch die "Aufmerksamkeitsmasse". Könnte es denn einstmals ein Paar Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundestrainerin Tina Theune-Meyer geben, so wie es in den fußballerisch glorreichen und politisch aufbruchbereiten 70er Jahren das 'Gespann' Brandt und Schön war? Eher nicht, "jedenfalls sind mir Züge, die der machtpolitischen Verschlagenheit der Politikerin entsprächen, bei der Bundestrainerin bisher nicht aufgefallen. Ich habe überhaupt noch nie ein blödes Wort von Theune-Meyer gehört."

Theweleit beobachtet überholte Vorstellungen im Fußball bis heute. Und es sind für ihn die Trainer und die Medienkommentatoren, denen es an Fähigkeiten zur Modernisierung mangelt. Vor diesem Hintergrund ist ein Bundestrainer wie Helmut Schön bereits eine Ausnahmeerscheinung, weil er es zulassen konnte, dass seine Spieler, zu denen Beckenbauer, Overath, Netzer oder Gerd Müller - der mit dem "müllerschen Silberblick", dem "Auge, mit dem man mehr sieht auf dem Feld, als eigentlich zu sehen ist" - einfach ihren modernen Fußball spielten. Ein solcher Trainer aber war und ist in Deutschland die Ausnahme. Statt dessen suchen sie, gedrängt von einer mächtigen Kommentatorenfront, nach wie vor den "Führungsspieler" vergangener Jahre. Akribisch weist nun Theweleit nach, dass das heutige moderne Spiel aber alles andere als einen Führungsspieler verlangt. Denn von der Raumorientierung, in der Günther Netzer seine Pässe 'aus dem Stand' schlagen konnte, entwickelte sich das Spiel netzartig. Heute braucht man balltechnisch gut ausgebildete Spieler, die das bewegliche Kurzpassspiel der gesamten Mannschaft bis zum tödlichen Steilpass beherrschen. Ein statischer raumorientierter Führungsspieler, wie Netzer es war, ist in diesem System ein Störfaktor. Trotzdem fordert ausgerechnet Netzer als TV-Kommentator der Fußballländerspiele immer wieder eine solche Spielerfigur. Dies Denken, so Theweleit, ist Ausdruck des 'alten' Raumverständnisses, eine Art kolonialistisches Elitedenken, in dem der 'Führungsspieler' eine Feldherrnrolle übernimmt: er ist der Regisseur, um ihn herum schuften die Wasserträger, damit er glänzen kann. Und deshalb ist des Bundestrainer Völlers medienimposanter Wutausbruch gerechtfertigt. Das ist "Scheißdreck"! Und: "Man könnte höchstens noch ein Adjektiv hinzufügen: totalitärer Scheißdreck."

Wem dies dann doch zu viel Politik im Spiel ist, der kann sich mit Theweleits eindrucksvollen Videoanalsysen zu ausgewählten Spielszenen auseinander setzen. Pfiffig gelingt ihm fast schon ein detaillierter Baustein für die Trainingslehre. Thema: Wie Kleinigkeiten Spiele entscheiden! Oder: Wie alle Rädchen ineinandergreifen! Durchaus lehrreich.

Titelbild

Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.
235 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 346203393X

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