Den Geheimnissen auf den Grund

Verbotenes und Verborgenes am Beginn der europäischen Moderne

Von Rita Unfer LukoschikRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rita Unfer Lukoschik

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seiner "Göttlichen Komödie" bietet Dante Alighieri um 1300 eine recht eigenwillige Interpretation der Gestalt des Odysseus. Im XXVI. Gesang der "Hölle" lässt der Dichter den homerischen Helden kurz vor dem Erreichen Ithakas erneut in See stechen. Ihn treibt die Neugierde, die Welt hinter den Säulen des Herkules auszukundschaften, der Wille, der Natur allen Verboten zum Trotz ihre Geheimnisse zu entreißen. Nach beschwerlichen Wochen scheint die Reise endlich einem erfolgreichen Ende zuzueilen, als urplötzlich das Schiff samt Besatzung in einen sich auftuenden Abgrund hineingezogen wird und auf ewige Zeiten darin verschwindet.

Noch immer oszillieren Interpretationen dieser Umformung des antiken Mythos durch Dante zwischen der Verdammung des Sünders und der Verherrlichung des übermenschlichen Helden, indem sie Ulisses für seine letzte Fahrt mal Hochmut, die in der Vormoderne tadelnswerte Curiositas, mal Wagemut, den Discovery-Geist des modernen Menschen zuschreiben.

In diesen gegensätzlichen Lesarten zeigt das Geheimnis sein Janusgesicht am einprägsamsten: einerseits als das Verbotene, das zur Erhaltung der etablierten Ordnung förderlich ist, andererseits als das Verborgene, das die Entfaltung des Einzelnen und den Fortschritt der Gesellschaft hemmt.

Diese Wertungen des Geheimnisses werden somit gleichsam zum Lackmuspapier des auf der Schwelle zur Moderne einsetzenden, tief greifenden Wandlungsprozesses, in dessen Verlauf Subjekt und Gesellschaft, Öffentlichkeit und 'Privatheit' sich in ihren Wechselwirkungen neu definieren und zueinander positionieren. Die schützenswerten Geheimnisse der politischen und religiösen Obrigkeit und das - wie es Georg Simmel nannte - "Menschenrecht auf Geheimnis" des Individuums begegnen einander: Der nunmehr seinerseits als schützenswerte Sphäre gewertete Bereich des Privaten wird durch das dem Individuum gewährte Recht auf eigene Geheimnisse der Kontrolle durch übermächtige Instanzen weltlicher oder religiöser Obrigkeit entzogen.

"Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne" geht dieser semantischen Umdeutung und Ausdifferenzierung des Begriffs "Geheimnis" in einem epochalen Umbruch auf exemplarische, außerordentlich anregende Weise auf den Grund.

Hervorgegangen aus der im Mai 2000 in Frankfurt am Main gehaltenen Konferenz "Zur Geschichte des Geheimnisses" und den Ergebnissen des Forschungsprojekts über Geheimnisse in der Frühen Neuzeit am New Yorker Trinity College, stellt der vorliegende Band eine ideale Fortsetzung der bahnbrechenden Arbeiten dar, die Aleida und Jan Assmann in "Schleier und Schwelle" zwischen 1997 und 1998 zum Themenkomplex "Geheimnis" im Münchner Fink Verlag herausgegeben haben.

In einen einleitenden Teil und vier jeweils überaus klug eingeführten Sektionen unter den Titeln "Öffentlichkeit und Herrschaftswissen", "Öffentlichkeit und Intimität", "Körper und Sexualität" sowie "Künste und Wissen" gehen 32 Beiträge aus der alten und neuen Welt auf höchstem wissenschaftlichen Niveau und in einer anregenden, oft witzigen, durchweg eleganten, sehr selten sich in wissenschaftlichem Jargon verlierenden Prosa den politisch-gesellschaftlichen und ethischen Aspekten sowie den historiographischen, kulturwissenschaftlichen, literatur- und kunstgeschichtlichen sowie schließlich den naturwissenschaftlichen Implikationen des Phänomens "Geheimnis" am Beginn der europäischen Moderne nach.

Ein Abstract auf Englisch am Ende eines jeden deutschen Beitrags und auf Deutsch bei den englischen Aufsätzen gewährt eine schnelle Orientierung, so dass deutschsprachige Leserinnen und Leser des vorliegenden Sammelbandes sich mühelos - um nur einige wenige Beispiele anzubringen - mit Melissa Meriam Bullards Behandlung der Rolle des Geheimnisses in der politischen Sprache der Renaissance, mit Linda Gregersons Überlegungen um die kulturellen und politischen Funktionen geheimnisumwobener weiblicher Sexualität am skandalumwitterten Hof der Tudor, mit Leonida Tedoldis Darlegungen der delikaten Machtmechanismen im Umkreis des vom 16. bis zum 18. Jahrhundert wirkenden ominösen und gefürchteten venezianischen "Rats der Zehn" befassen können.

Auch für den des Deutschen nicht mächtigen Anglophonen nachvollziehbar behandeln wiederum, um auch hier nur einige Beispiele zu nennen, Alois Hahn die scheinbar paradoxe kommunikationsfördernde und -strukturierende Funktion des Geheimnisses; Klaus Krüger die neue, 'opake', d. h. nicht durch eindeutige Bedeutungskonturen eingefasste Wahrheit hinter der geheimnisvollen hermetischen Malerei der italienischen Renaissance; Helmut Puff den polemischen Gebrauch der Sodomie in den Schriften Martin Luthers; Sybilla Flügge das Wissen der Hebammen in der Frühen Neuzeit sowie Horst Wenzel das Wechselspiel zwischen öffentlichem Repräsentationsprinzip von König und Ständeadel und dem geheimen Spiel der Machtausübung anhand der im Mittelalter neu entstandenen Figur des 'Sekretärs', die sich aus dem Bedürfnis der Machtausübenden an nichtöffentlicher Beratung durch einen Secretarium, einen Vertrauten, dem sie ihre intimen Secreti eröffnen können, verdankt.

Schnell wird man dieses Buch nicht aus der Hand legen, und immer wieder wird man danach greifen, um aus der Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen unseres Menschseins in der Gesellschaft Anregungen zu schöpfen und ihnen historische Dichte zu verleihen.

Titelbild

Gisela Engel / Brita Rang / Klaus Reichert / Heide Wunder (Hg.): Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne. Aus der Reihe: Zeitsprünge 6 / 2002, Heft 1-4.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2002.
531 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-10: 3465031466

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