Freuds Jahrhundertbuch

Schon vor 1900 erschien die "Traumdeutung"

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als "Urbuch der Psychoanalyse" sind die "Studien über Hysterie", das Gemeinschaftswerk von Josef Breuer und Sigmund Freud, 1995 gefeiert worden. Doch die eigentliche Gründungsurkunde der Psychoanalyse ist die "Traumdeutung". Sie hat mit der Verzögerung einiger dürrer Jahre - im ersten Jahrzehnt wurden nur 600 Exemplare verkauft - Freuds Ruhm begründet.Am 4. November 1899 wurde sie vom Franz Deuticke Verlag, Leipzig und Wien ausgeliefert.

Die angegebene Jahreszahl eilte freilich voraus: Zukunftsweisend wurde sie auf 1900 vordatiert. 23 Jahre später, im "Kurzen Abriß der Psychoanalyse" schrieb Freud: "Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine 'Traumdeutung', trägt die Jahreszahl 1900." Ein Buch, ein Autor, ein Jahrhundert, eine neue Wissenschaft.

Die Jetztzeit, die immer rücksichts- und kenntnisloser auf die Psychoanalyse und ihren Begründer einschlägt - das jüngste Beispiel liefert Edward Shorters "Geschichte der Psychiatrie" -, hat sich freilich die revanchistische Pointe nicht entgehen lassen, mit dem Jahrhundert sei auch die Psychoanalyse vorbei.

Die Lehre der "Traumdeutung" selber war nicht, wie es der Vorgriff auf das neue Jahrhundert vermuten ließ, prospektiv oder gar prophetisch orientiert. So waren bis dahin die Träume meist gedeutet worden. So wurden sie danach von Ernst Blochs "Träumen nach vorwärts", seiner utopischen Theorie des "Noch-nicht-Bewußten", wieder gedeutet. Die "Traumdeutung" war insofern retrospektiv - psychoanalytische Vergangenheitswissenschaft -, als sie sich auf ein Material bezog, das aus den in der Vergangenheit der Individuen fixierten Triebkonflikten resultierte.

Genau genommen, waren alle Träume Kinderträume. König Ödipus, den die "Traumdeutung" inthronisierte, auch der unschlüssige Königssohn Hamlet, dessen Geschichte die Erstausgabe noch in die Anmerkungen abgeschoben hatte, bevor die vierte Auflage sie in den Haupttext aufnahm, hatten als Infanten den Stoff erlebt, aus dem die Träume sind. Freilich ging es immer auch um aktuelles, "rezentes" Material. In der Form der "Tagesreste" tauchte mit einem gewissen Understatement Gegenwart auf. Und prospektiv war dann doch der Charakter der "Wunscherfüllung", später vorsichtiger der "versuchten Wunscherfüllung", den Freud den Träumen zuschrieb.

Wie aber reimte sich diese im Gesamtwerk des Pessimisten Freud seit je und heute mehr denn je befremdliche "Wunscherfüllung" mit dem offensichtlichen Angstcharakter so vieler Träume zusammen? Wie mit den unzähligen Strafexpeditionen gegen den eigenen Seelenleib, auf die sich die Träumer selber schickten? Nun, diese "Wunscherfüllungen" waren immer nur relativ, das Bestmögliche, das der Traum als "Hüter des Schlafes" - Schlaf ist der Wunsch aller Wünsche - inszenierte. Vor allem aber kam es darauf an, hinter dem "manifesten Trauminhalt" die "latenten Traumgedanken" zu entziffern, die alles andere als "Gedanken" waren.

Die psychoanalytische Traumdeutung ging mit Hilfe der "freien Assoziationen" der Traumerinnernden jene Wege zurück, welche die "Traumarbeit" zuvor in umgekehrter Richtung nach den Prinzipien der Verschiebung und Verdichtung vom latenten, unbewußten Stoff zu den manifesten Vorstellungen zurückgelegt hatte. Immer ging es bei Freud um Arbeit - was die vulgäre psychoanalytische Deutungswut mit ihren kommoden Symbolregistern, ihren trivialen Übersetzungen alles Länglichen, aller Lücken und Behälter in die Sexualorgane nur zu bald vergaß.

Erst auf dem Wege einer nichttrivialen Deutungsarbeit, die überdies an die Kooperation von Analytiker und Analysand gebunden war, wurde die Traumdeutung der Königsweg, die "Via Regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben", wie der Schlußsatz der zweiten Auflage formulierte. Erst so beschritt die Psychoanalyse, sich von einem psychotherapeutischen Verfahren zu einer allgemeinen Tiefenpsychologie erweiternd, ihren Königsweg.

Ja, die "Traumdeutung" war in der Tat ein Jahrhundertbuch. Vorab ein mutiges Buch, weil Freud kein sexuelles und kein familiäres Tabu mehr gelten ließ und auch mit der Analyse von fünfzig eigenen Träumen bei aller Diskretion den autobiographischen Bezug nicht scheute. Er war selber der Ödipus, der um jeden Preis wissen wollte. Es war ein klares Buch, dessen stilistische Form zwar zu wünschen übrig ließ, wie der große Stilist Freud selber kritisch rügte, das aber in der Sache deutlich sagte, was zu sagen war.

Es war ein schöpferisches Buch, das den Menschen anders sehen lehrte, wahrlich nicht besser, nicht höher, sondern abgründiger, dunkler, aber auch tiefer, um einen ganzen Seelenerdteil, ein "inneres Afrika" erweitert: nichts weniger als ein "eindimensionaler Mensch".

Und es war in all dem ein epochemachendes Buch, das aus dem 20. Jahrhundert das an humaner Seelenwissenschaft reichste Jahrhundert gemacht hat. Ob die Neurobiologie und die Anthropotechniken das neue Jahrhundert zu einem humaneren machen werden, steht dahin.

Zum 100. Geburtstag legt S. Fischer, der deutsche Freud-Verlag, das Jahrhundertbuch in einem schönen Faksimile vor. Drei Abhandlungen zur "Traumdeutung"-Theorie und -geschichte sind in einem Begleitband beigefügt. Jean Starobinski denkt über das Vergil-Motto Freuds nach, das den Entdecker des Unbewußten in der Rolle des trotzigen Aufklärers, des prometheischen "Menschen in der Revolte" zeigt: "Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo", mit "Weigern´s die droben, so werd ich des Abgrunds Kräfte bewegen", sehr frei und sehr wenig plastisch übersetzt.

Mark Solms revidiert das inzwischen gängige Vorurteil, die Psychoanalyse harmoniere nicht mit der avancierten Neurowissenschaft, die ihr heute das Wasser abgraben soll. Und Ilse Grubrich-Simitis, die beste Kennerin der Textgeschichte des Freudschen Werkes, zeichnet detailliert und luzide die Metamorphosen der "Traumdeutung" von der ersten bis zur achten Auflage nach, die heute unserer Lektüre zugrunde liegt. Diese Metamorphosen zeigen den großen Arbeiter Freud, den kooperativen Pionier einer neuen Wissenschaft, der auch das Werk seiner Schüler integriert und der sein Buch insgesamt so eingreifend revidiert, daß er schließlich in den "Gesammelten Schriften" in einem Band die Urgestalt, in einem eigenen zweiten das Resultat der Weiterarbeit bietet.

Das Faksimile der Erstausgabe nun in Händen zu haben: ein bewegender Moment. Denn - die Psychoanalyse weiß das besser als manche andere Disziplin - allem Anfang wohnt ein Zauber inne".

Titelbild

Sigmund Freud: Fundamente, 3 Bde. Die Traumdeutung; Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie; Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
1312 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3100227603

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Titelbild

Sigmund Freud: Hundert Jahre "Traumdeutung". Beiheft mit Essays v. Jean Starobinski, Ilse Grubrich-Simitis u. Marc Solms. Repr.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
376 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3100228103

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