Der fremde Leser, der befremdete Text

Robert Schindels Frühwerk und seine gesammelten Gedichte verkünden das Andere als das Wichtige

Von Ulrich SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Simon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Schindels Prosa und seine Gedichte gehören zur klassischen Postmoderne, sie verweigern sich der umstandslosen Zuordnung. Doch immerhin: dem Autor haben der literarische und der intellektuelle Markt eine eindeutige Funktion zugewiesen, so dass, sobald es um Fragen des Judentums und der Vergangenheitspolitik in Deutschland oder in Österreich geht, vor allem Robert Schindel maßgebliche Argumente liefern soll. Also, Herr Sch., wie antisemitisch ist denn nun der Herr Walser und sein Roman "Tod eines Kritikers"? Allerdings sucht Schindel sehr wohl auch selbst die Öffentlichkeit, reflektiert kontinuierlich, klug und anschaulich über die deutsche und die österreichische Gesellschaft und ihre Literatur. Seine Position benennt der Untertitel eines Buches, das er 1995 herausbrachte: "Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst". Germanisten befragen vorzugsweise seine Texte und seine Biografie, wenn sie versuchen, ,jüdischer Identität' und ,Holocaust-Literatur' nachzuspüren.

Zwischen 1986 und 2003 veröffentlichte Robert Schindel sechs Lyrik-Bände. Sein Roman "Gebürtig", ein zerrspiegelartiges Kaleidoskop zu Österreich und BRD in den 80er Jahren mit bestechenden Dialogen und ergreifenden Introspektionen, erreichte allein im Erscheinungsjahr 1992 drei Auflagen und gilt zu Recht als zentraler Text zur literarischen Darstellung der anhaltenden Folgen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Hartmut Steinecke attestierte dem Autor unlängst, er habe anders als viele "eine größere Sensibilität für eine Atmosphäre, ein schärferes Gehör für Alltagsäußerungen und Zwischentöne, für Änderungen in Mentalitäten, die sich nicht in Regierungserklärungen und Koalitionsvereinbarungen niederschlagen." Schindels Roman registrierte eine Reihe solcher Alltagssymptome und seine Leser habe der Aufstieg der Haider-Partei Anfang 2000 nicht überraschen können. Im Jahr 2002 kam die lange angekündigte Verfilmung von "Gebürtig" in die Kinos, Schindel war an Drehbuch, Regie und Produktion beteiligt. Da der deutsche Verleih sich in einem der zentralen Themen von "Gebürtig" - der Ignoranz - übte, können deutsche Zuschauer erst seit wenigen Wochen überprüfen, ob die durchweg lobende Kritik und die Nominierung als österreichischer Oscar-Beitrag gerechtfertigt sind. (Der Roman ist derzeit nur in der fünften Auflage der Taschenbuchausgabe lieferbar, erweitert um Filmfotos und um den Aufkleber "Jetzt im Kino"; sie ist in den Regalen engagierter Buchhändler bedauerlicherweise längst zum Staubschaden geworden.)

Und nun also, pünktlich zum 60. Geburtstag hat sein Hausverlag Suhrkamp eine Sammlung der Lyrik vorgelegt, die bezeichnenderweise "Fremd bei mir selbst" heißt. Bezeichnend deswegen, weil die Unbehaustheit des Haupttitel den Untertitel "Die Gedichte 1965-2003" dementiert, der klassische, also harmonische und gültige Auswahl verheißt. Der Band umfasst die Bände "Ohneland. Gedichte vom Holz der Paradeiserbäume 1979-1984" (1986), "Geier sind pünktliche Tiere" (1987), "Im Herzen die Krätze" (1988), "Ein Feuerchen im Hintennach" (1992), "Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen" (2000) sowie "Nervös der Meridian" (2003). Auch all diese Titel künden von Gefährdung, Zwiespalt, Unruhe, Versehrtheit, von Widerspruch und Widersprüchen, während der Sammeltitel "Die Gedichte" übrigens diejenigen Texte meint, die Schindel repräsentabel scheinen, und das sind immerhin über ein Dutzend weniger, als in den Einzelbänden erschienen waren. Verzichten muss der Leser hauptsächlich auf Älteres, aber auch auf zwei Gedichte der jüngsten Produktion. Dem Drucknachweis sind diese Informationen nicht zu entnehmen.

Die lyrische Zwischenbilanz verzichtet zudem, ohne dass die Gründe dafür erkennbar wären, auf die Differenzierungen und die Binnenstruktur, welche die Originalausgaben so überaus bemerkenswert machen. Alle sechs bieten sich in Kapitel gegliedert dar, die zudem meist eine Binnenchronologie liefern. Und sie exponieren in der Kapitelüberschrift stets einzelne Verse bzw. Wörter der Gedichtgruppen. Allein aus diesen Hervorhebungen ließe sich eine Schindelsche Poetik ableiten: "Ohngenoß" - "Angelus Novus" - "Aschenjuchhe" - "Im schönen Zwischdraußen" - "Nun allerdings fielen Wörter" - "Ausgeatmet die Angst, die Lust". Auf all diese Aspekte muss der Leser der Gesamtausgabe verzichten. Ebenso auf einen Großteil der Bandmotti und die Bandwidmungen. Aber auch darüber schweigt sich die editorische Notiz aus. Dass die ursprünglich in alter Orthographie publizierten und ausweislich des Faksimiles auf dem Umschlag auch so verfassten Texte kommentarlos in neue Rechtschreibung überführt werden, ist insofern tatsächlich eine Lappalie.

Schindel hat ein Faible für zyklenartige Gedichtfolgen, greift sie auch gerne über Jahre hinweg immer wieder auf. So finden sich die einzelnen Bestandteile über mehrere Bände verstreut, und selbst innerhalb eines Bandes, ja selbst eines Kapitels sind sie nie hintereinander und in ihrer numerischen Folge lesbar, sie sollen es ganz offensichtlich auch nicht sein. Wenn man sich also entschließt, die Anordnung der Gedichte zu verändern, wie "Fremd bei mir selbst" das tut, liegt es nahe, beispielsweise die einzelnen Gedichte zusammen zu stellen und somit eine lineare Lektüre vorzuschlagen. Dies führt mitunter zu spannenden Veränderungen. Die zwei "Vineta"-Gedichte, um Schindels bekannteste Texte zu nehmen, lesen sich durch die Umstellung und direkte Konfrontation drastischer, in der Neuordnung wirkt der nunmehr erste und der letzte Vers noch provozierender: "Ich bin ein Jud aus Wien [...]" - "Lebe in dieser Stadt so mittelgern". Insgesamt allerdings praktiziert der Band ein befremdliches Weder-Noch der Textanordnung. Denn auch jetzt lassen sich Zyklen wie "Nullsucht" oder "Bin" nicht hintereinanderweg lesen, denn Schindel respektiert die Bandgrenzen, wohl weil ihm die Markierung von Entstehungszeiträumen wichtig ist. Nimmt man hinzu, dass ein Gedicht wie "Bleierne Zeit 3" des Untertitels wegen dem Zyklus "pour Hölderlin" zugeordnet wird, scheint in "Fremd bei mir selbst" mitunter Willkür zu herrschen, die sich aber auf den Autorwillen berufen kann. Man könnte auch sagen: Gerade in diesem Fall entziehen sich die Texte handgreiflich der Klassifikation.

So oder so bleiben dem Leser fast 350 Gedichte; sie imponieren wegen ihres Formenreichtums und ihrer Themenvielfalt, ihrer Anspielungsfreude und ihrer Originalität. Bei aller Variabilität fällt aber auch auf, gerade wegen der häufigen tagespolitischen oder zeitgeschichtlichen Anlässe, wie konsequent die Gedichte über vier Jahrzehnte hinweg vor allem drei große Themen verfolgen (die Motti des Bandes lassen sich auch dafür als Leseanleitung nehmen): die Intensität des Augenblicks, die nationalsozialistischen Massenmorde als Zivilisationsbruch und Möglichkeiten und Grenzen des Liebens.

Auch wenn der Publikationsrhythmus der vergangenen Jahre Anderes vermuten lassen könnte, ist Robert Schindel ein hochskrupulöser Autor: Die Schaffenspausen wechseln, so scheint es, direkt mit Produktionsschüben. Bereits 1998 publizierte er in "Manuskripte" das erste Kapitel eines Romans, der als "Der Kalte" angekündigt wurde. Seither ist zu diesem Projekt nicht mehr bekannt geworden. "Der Kalte" ist offenbar ein Text über Hermann Langbein (1912-1995), also über den Auschwitzüberlebenden, dessen Bedeutung für die Dokumentation und die weltweiten Strafprozesse als juristische Reaktion auf die Massenmorde kaum zu überschätzen ist, auch wenn er sehr zu Unrecht noch weit weniger Anerkennung erfahren hat als Simon Wiesenthal.

Bei Robert Schindel manifestiert sich eine "tiefe Verstörung seiner Existenz", auf die Harald Hartung in seiner Laudatio anläßlich des Mörike-Preises 2000 hingewiesen hat. Schindels Affinität zum Grotesken lädt geradezu ein zu einer biographistischen Lektüre, schließlich wurde er 1944 als Säugling unter falschem Namen in ein Wiener Kinderheim der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt geschmuggelt. Seine jüdischen Eltern wurden als Mitglieder einer kommunistischen Widerstandsgruppe verhaftet; der Vater wurde in Dachau ermordet, die Mutter überlebte Auschwitz und Ravensbrück. Salomon Schindel, der Großvater des Autors, "wurde nebst schizophrenem Erstgeborenen fünfundsiebzigjährig quer durch Europa gefahren, damit man ihm und Georg im Rumbulawald zu Riga in den Bauch schießt", so hat das Robert Schindel einmal formuliert in dem für ihn typischen, durch seine Saloppheit gezielt schockierenden Duktus.

Sein poetisches Programm kann man seinen Wiener Poetik-Vorlesungen entnehmen: "Erkenne dich fremd." Es beschreibt eine umfassende Perspektive auf die Welt, eine Gegenposition zur Aufforderung des antiken Orakels zu Delphi, erkenne dich selbst. "Erkenne dich fremd" kann geradezu als Kondensat von Moderne und Postmoderne gelten. Schindels Texte wollen den Leser befremden, sie bedienen sich daher einer hochartifiziellen, sehr rhythmischen Sprache, die den Kalauer, den abgründigen zumal, nicht scheut. Das hat ihm häufig den Vorwurf des Manieristischen, des "Wort-Lamettas" eingetragen. Er ist insofern berechtigt, als Schindel systematisch versucht, die Erwartungen des Lesers zu unterlaufen, durch Neologismen und Aussparungen vor allem. Die Verstörung des Lesers als rhetorische Strategie zeigt sich etwa bei dem mittlerweile kanonisierten Gedicht "Wolken 1" (die Gesamtausgabe hat die Ziffer aus dem Titel getilgt). Der poetologische Text über Auschwitz und die Gegenwart beginnt mit dem Vers: "Ich spreche über die Ermordung etlicher Menschen". Die Provokation des "etliche" springt sofort ins Auge. Es hat für Schindels Schreiben zu dieser Zeit, Ende der 60er Jahre, eine zentrale Bedeutung. Denn es begegnet mehrmals in ähnlicher Funktion auch in Schindels 1967/68 entstandenen Text "Kassandra (Roman)". Ihn hat der Haymon-Verlag verdienstvollerweise neu herausgegeben. "Kassandra" war 1970 der Auftakt einer Reihe von Kassibern, in denen Robert Schindel, Christof Šubik, Gustav Ernst und Leander Kaiser Texte veröffentlichten, die heute allenfalls noch im Wiener Literaturhaus oder in der Österreichischen Nationalbibliothek einsehbar sind. Sie publizierten Eigenes, aber auch Adorno, Habermas und Lukács. Das Projekt, das eng mit der Wiener Studentenbewegung zusammenhing, hörte auf den Namen "Hundsblume" und ging rasch in der parallel gegründeten Zeitschrift "Wespennest" auf.

"Kassandra" konfrontiert den Leser mit elf Textteilen, deren eindeutige Lesbarkeit sich auch durch die vermeintliche Schlußsynthese nicht einstellt, auch wenn wiederholt auf Vietnam und Auschwitz hingewiesen wird. Kassandras Warnungen werden nicht befolgt, weil sie nicht verstanden werden. Schindels Text nötigt den Leser geradezu zur Erfahrung des Nichtverstehens. So äußert denn auch die "Figur", wie sie genannt wird, "Der Andere": "Das Wichtigste im Leben ist das Andere. [...] Ich bin der Andere. Deine Asche. Das Allgemeine. Deine Wahrheit: Kassandra."

Ob angesichts geänderter ästhetischer Konventionen und eines verbreiteteren allgemeinen Wissens zum Nationalsozialismus der experimentelle Text "Kassandra" heute auf andere Lesereaktionen trifft, wird spannend zu beobachten sein. Schon jetzt aber zeugt der Textrahmen von hermeneutischen Reaktionen: Eingerahmt ist der "Roman" von einem ausführlichen Vorwort von Schindels Freund Robert Menasse (2004) und zwei Nachworten (1970); weitere Kommentare in späteren Ausgaben ließen sich denken, die ,Wut des Verstehens' lässt grüßen - dem Text nehmen sie kaum etwas von seiner Fremdheit.

Anders als vor 35 Jahren verwendet Robert Schindel das Befremden, die Erfahrung von Differenz, heute eher als Befund denn als Provokation. Das zeigt sich deutlich in seiner jüngsten Essay-Sammlung "Mein liebster Feind". Die gleichnamige melancholische Selbstreflexion mildert die Wucht der folgenden Essays "Schweigend ins Gespräch vertieft". Wieviel drastischer und schroffer las der sich im Oktober 1999 als Aufmacher des Themenhefts "Literatur und Holocaust" von Text und Kritik und als Kommentar zur sogenannten Walser-Bubis-Debatte. "Die Täterländer sind zugedeckt mit einem notorischen Geplapper über Auschwitz. [...] Merken wir, dass unter diesen Wörtern" - wie Shoahbusiness und Auschwitzkeule - "in den Debatten die Toten immer mehr verschwinden, vergessen werden als wirklich Ermordete. Und indem wir es merken, müssen wir noch mehr reden [...]. So wird, indem wir schweigend ins Gespräch vertieft sind, die Shoah das, was sie immer war: unwirklich. Denn sie geschah."

Befremden als ästhetisches Verfahren ist bei Robert Schindel eng verknüpft mit Wissen. Ihm ist bewusst, dass viele seiner Anspielungen von den meisten Lesern kaum verstanden werden. Dies zu ändern ist ihm offenbar so wichtig, dass er allen seinen Büchern in den vergangenen 20 Jahren (ausgenommen "Gott schütz uns vor den guten Menschen") Glossare beigegeben hat. Sie erläutern Austriazismen wie Jiddisches, weisen auf Namen und Ereignisse hin. Sie sollen dem Leser von Gebürtig verständlich machen, welches unterschiedliche Wissen die Protagonisten trennt. Selbst "Mein liebster Feind" besitzt diesen lexikalisierten Selbstkommentar; im Anhang zu "Fremd bei mir selbst" sind die Glossare der Originalausgabe zusammengefügt und leicht erweitert worden.

Angesichts der unhintergehbaren Fremdheit der Welt kann man dies für einen humanistischen Akt des Aufklärers Schindel halten. Ein Hilfsmittel, die Widersprüche auszuhalten. Um Kraft zu schöpfen für das Gefühlsleben. Denn das "erkenne dich fremd" verändert auch die Empfindungen. Die Liebesgedichte Schindels, sie zählen zu seinen brillantesten, tragen die Versehrtheit meist schon im Titel, einer der Zyklen heißt: "Lieblieder". Deren drittes führt exemplarisch vor: Auch im Rausch der Vereinigung ist man getrennt: "Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies / [...] Während wir uns küssen Mund und Ohren / Tritt Fremdheit ein und applaudiert". Soll man die Schlusspointe "- und das Glück wächst unbeirrt" für Trost oder Drohung halten?

Titelbild

Robert Schindel: Fremd bei mir selbst. Die Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
474 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518415948

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Titelbild

Robert Schindel: Kassandra. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2004.
128 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3852184460

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Titelbild

Robert Schindel: Mein liebster Feind. Essays, Reden, Miniaturen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
147 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518123599

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Titelbild

Robert Schindel: Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies. Liebesgedichte.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
76 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3458192476

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