Sex, nicht Liebe

Marieluise Jurreit spielt in ihrem Roman "Der Antrag" mit Geschlechterklischees und Männerphantasien

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Verlagsphoto könnte man sie fast mit Marge Piercy verwechseln, in den 70er Jahren eine der führenden Feministinnen der USA und seither zudem eine der besten feministischen Literatinnen des Landes (vgl. literaturkritik.de 6/2002). Auch Marielousie Jurreit hat in den 70er Jahren mit "Sexismus" einen feministisch Klassiker verfasst.

Dass sie über "die Abtreibung der Frauenfrage" schrieb, ist nun allerdings 30 Jahre her. Inzwischen hat auch sie sich zur Literatin gewandelt und in ihrem neusten Roman "Der Antrag" spielt sie gelegentlich mit Geschlechterklischees. So tröstet sich etwa Harry Weinlaub, ein alternder Fernsehstar, gerne mit Schokolade, dieser "selige[n] Süßigkeit, durch die er Kontakt mit der fernen, schamvoll erinnerten Kindheit hielt", während es von seiner meist abwesenden Lebensgefährtin Christina heißt, sie besitze die "Fähigkeit, dominierend zu schweigen", was bekanntermaßen ganz der 'männlichen' Rolle im Geschlechterkampf entspricht, die allerdings auch Harry einzunehmen versteht, indem er kopflos vor einer Kontroverse mit Christina flüchtet. Schillernd ist hingegen die geschlechtliche Konnotation seiner Unfähigkeit, den Herd in der gemeinsamen Wohnung zu bedienen. Nun handelt es sich bei der Küche von Alters her zwar um das Hoheitsgebiet und das Gefängnis der Frau, in dem Männer lange Zeit kaum als Besucher geduldet waren, doch Harry scheitert hier auf typisch 'männlichem' Terrain, ist er doch nicht in der Lage die Elektronik des Herdes zu bedienen. Während einer längeren Reise Christinas, einer "Diana der Kamera", die im fernen Russland einen Dokumentarfilm dreht, erledigt diese technisch diffizile Aufgabe schon mal Katja Westermann für ihn. Denn für die junge Frau ist die Funktionsweise des Herds kein Geheimnis - nicht etwa, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie zur Computergeneration zählt. So zumindest erklärt sich Harry ihre Kenntnisse. Kennen gelernt hat er sie wenige Wochen zuvor durch einen Brief mit beigelegtem Photo, in dem sie ihm geschrieben hatte, sie sei unheilbar krank und sie wolle mit "jemandem" schlafen, bevor sie sterbe, wobei sie ihre Jungfräulichkeit anzudeuten schien. Dieser Jemand ist der Adressat des Briefes. Der allerdings verkennt das Anliegen Katjas gründlich und fragt sich, wieso sie sich ihm anbietet. Davon kann allerdings keine Rede sein. Sie bietet sich ihm nicht an, sie verlangt ihn! Er wäre ihr nicht mehr als bloßes Mittel zur Befriedigung ihres Wunsches, dabei ohne Zweck an sich selbst. Ein Anliegen also, das kaum auf Kants Akklamation hätte rechnen dürfen.

Zum Sex zwischen beiden kommt es allerdings nicht. Zwar fühlt sich Harry durch Katjas Photo zur Masturbation stimuliert, doch kann ihn ihre Anwesenheit nicht erregen. Katja ihrerseits ist alles andere als Jungfrau, sondern hat sich selbst mit einem Vibrator defloriert. So behauptet sie später zumindest, was stimmen mag oder auch nicht, jedenfalls aber schläft sie im Laufe der Handlung mit fast allen näheren Bekannten des nicht eben begeisterten und zunehmend eifersüchtig reagierenden Harry.

Von Liebe kann dabei, wie - mit vielleicht einer Ausnahme - überhaupt im ganzen Roman, allerdings kaum die Rede sein, weder bei Katja noch bei den Männern, mit denen sie schläft, und schon gar nicht beim eifersüchtigen Harry. Immer - oder doch zumindest fast immer - geht es nur um körperliche Attraktion und fleischliches Begehren, kurz: um puren Sex. So ist es denn auch die Sexualität und nicht die Liebe, die in Jurreits Buch auf vielfältige Weise mit dem Tod verknüpft ist. Ein ganz und gar unromantisches Buch also, in dem der Mond, gemeinhin das Symbol selig verliebter Nächte, "drohend wie eine extraterrestrische Bombe, die jeden Moment auf die nächste Stadt herabzufallen drohte", am Himmel hängt.

Erzählt wird diese Geschichte von Sex und Tod, die im langen Schatten der Vergangenheit Harrys liegt, aus der Perspektive dieses wenig sympathischen Protagonisten, der kürzlich die ehemalige Wohnung seiner Eltern anmietete, in der er als Kind seinen Vater beim Sex mit einer fremden Frau beobachtet hatte. Eine voyeuristische Szene, die sich später mit verschobenen Vorzeichen wiederholen wird.

Wenn ihm sein "bester Freund" gegen Ende des Buches zurecht vorwirft, nicht einmal für seine Lebensgefährtin Christina "das geringste Verständnis" aufzubringen, kann er sich selbst nicht verhehlen, mit seinem sie zutiefst verletzenden Verhalten einen "seelischen Offenbarungseid" zu leisten. Doch ist ihm das gleichgültig, "begehrt" er sie doch nicht mehr - auch sie wurde also nicht geliebt, sondern nur begehrt. Statt sein "rüdes" Verhalten zu bedauern, badet er sich anschließend in weinerlichem Selbstmitleid und exkulpiert sich durch Schuldzuweisungen an seinen "unerträglichen Vater", der ihm schon vor Jahrzehnten "eingebrockt" habe, dass er noch heute "Leute, an denen ihm etwas [liegt]" beleidigt und verletzt.

Nicht nur, weil die Geschichte nur aus der Perspektive dieser einen Figur erzählt ist - oder darum weil andere, wie Katja, die Liebe zur Wahrheit nicht eben zu ihren Tugenden zählen dürfen - erfährt man über die meisten der anderen Figuren - als da sind Harrys Agent Lionel, ein homosexueller Nachwuchsschauspieler, der Regisseur Hellenbroich oder die Mitglieder einer Wohngemeinschaft - oft nur wenig Zuverlässiges, sondern auch, weil diese Harry kaum einmal etwas über sich selbst erzählen, dafür aber umso mehr über einander. So spiegelt sich eine jede in der anderen und sie alle sich in ihm. Katja etwa mag "außen einen Elfe, innen ein Vulkan" sein, eine "unberührbare, wesenlose Undine", all dies oder wohl doch eher nichts von alledem - sind diese Charakterisierungen doch das, was solche Zuschreibungen immer sind: bloße Männerphantasien. Diesmal aus der Feder einer Autorin, die mit ihnen ebenso zu spielen versteht wie mit Geschlechterklischees.

Insgesamt ein Buch, das man nicht unbedingt gelesen haben muss, das man aber durchaus lesen kann. Immerhin gibt es einen Absatz, wegen dem alleine schon die Lektüre sich lohnt. Nicht jedes Buch kann mit einem solchen Abschnitt aufwarten; und dieser sei hier nicht verraten. Nur so viel soll gesagt sein: Vom Golfstrom ist in ihm die Rede.

Titelbild

Marielouise Jurreit: Der Antrag. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2004.
287 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3627001117

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