Umsichtiger Augenzeuge

Das Tagebuch des Samuel Pepys in einer illustrierten Auswahl

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Monat endet mit einer langen Schönwetterperiode. Bin bei guter Gesundheit, abgesehen von gelegentlichen heftigen Blähungen. Die Königin ist seit einigen Tagen in Hampton Court. Alle sagen, sie sei eine außerordentlich vornehme und hübsche Dame, dazu sehr zurückhaltend, und der König sei überaus zufrieden mit ihr, was Madame Castlemaine, wie ich fürchte, gar nicht gerne hören wird. Der Hof ist jetzt vollständig in Hampton. Außerdem wurde kürzlich ein Friedensvertrag mit Algier geschlossen, auch dies eine gute Nachricht. Mein Vater ist seit einigen Tagen bei uns und berichtet mir vom Umbau meines Hauses in Brampton, worüber ich sehr zufrieden bin, auch wenn es einiges Geld gekostet hat und noch weiter kosten wird."

Die "Geheimen Tagebücher" des strebsamen Bürgers Samuel Pepys, zwischen 1660 und 1669 verfasst und der Nachwelt überliefert, lassen die Neigung erkennen, Bilanz zu ziehen. Es ist eine Bilanz des Heterogenen, die Pepys' berufliches Fortkommen ebenso wie seine Ehe mit Elizabeth (1640-1669), seine zahllosen außerehelichen Amouren und seine Verdauungsprobleme ebenso wie die politischen und sozialen Verhältnisse im London der Restaurationszeit umfasst - und dennoch heute zur Weltliteratur zählt. Eine Art "Halbfertigprodukt" (Anselm Schlösser) aus skizzenhaften Erstnotizen einerseits und ausgefeilten, genauen und dazu noch sozialhistorisch relevanten Beobachtungen andererseits, die uns das England der soeben restituierten Monarchie unter Charles II. lebendig vor Augen führen. Der große Brand Londons (1666) hat keinen umsichtigeren Augenzeugen gefunden als Pepys, die Pest (1665), die hunderttausend Menschen das Leben kostete, ist nirgendwo lebendiger und präziser beschrieben worden als bei ihm, und man erhält auch nirgendwo besser Einblick in die englische Volksseele, die dilettantische Regentschaft des Königs, das berechnende und unmoralische Treiben bei Hofe oder die chamäleonhafte Pragmatik der politischen Glücksritter der Zeit als in seinem Tagebuch.

Es ist eine Literatur, die dem aufstrebenden Londoner Bürger, Jahrgang 1633, quasi "unterlaufen" ist und dennoch einen - mittlerweile "klassischen" - Auftakt moderner Diaristik darstellt. Ein kaum stilisiertes Kunstwerk aus eher flüchtigen, teils höchst privaten, teils politisch brisanten Beobachtungen, die, in der wenig gebräuchlichen Shelton-Kurzschrift verfasst, nie zur Publikation gedacht waren. Dennoch wurde das "Geheime Tagebuch" 1825, mehr als hundert Jahre nach dem Tod seines Verfassers, transkribiert und auszugsweise veröffentlicht, weil infolge der 1818 erschienenen Diarien John Evelyns, eines Freundes und Zeitgenossen, das Interesse an Pepys' Person und an der Gattung Tagebuch erwacht war.

Pepys, ein Zeitgenosse Thomas Hobbes' und John Drydens, war ein Mann aus einfachen Verhältnissen, hatte aber Verwandtschaft im Landadel - die erste wichtige Sprosse seiner Erfolgsleiter. 1642, bei Ausbruch des Bürgerkrieges zu seinem Onkel Robert aufs Land geschickt, knüpfte er private Kontakte zu seinem Vetter Edward Montagu, dem späteren Graf Sandwich, der als politischer Opportunist der Restaurationsphase ein geschickter Protektor war und seinen jüngeren Cousin nach Kräften fördern konnte. Er wiederum fand in Pepys den intelligenten, in Cambridge gut ausgebildeten jungen Mann, der das Zeug zum "perfekten Höfling" und zum loyalen Beamten hatte, wie man ihn im Marine-Amt brauchen konnte - die Handelsrivalität mit Holland, überwiegend zur See ausgetragen (mit Kaperungen, Matrosenmeutereien, Invasionsangst und Seegefechten), erforderten einen umsichtigen Mann, der sich auch aufs Wirtschaften verstand. Und Pepys bewährte sich, bekam durch Lord Sandwich eine gut dotierte Stelle im Siegelamt und rückte von dort bis in die Verwaltungsspitze der Admiralität auf, war zeitweilig Sekretär der Royal Society und legte sich, in Maßen bestechlich, ein beträchtliches Vermögen auf die Hohe Kante.

Trotz der Beanspruchung durch sein Amt fand Pepys noch Zeit, sein Haus umbauen zu lassen, Gesangsunterricht zu nehmen, ins Theater zu gehen oder fremden Röcken nachzusteigen: "Zu Fuß nach Westminster. Dort verspürte ich große Lust, durch die Fleet Alley zu spazieren, wo ich eine ausnehmend hübsche Dirne in der Tür stehen sah. Ich ging ein-, zweimal an ihr vorbei, doch hielten mich mein Ehrgefühl oder mein schlechtes Gewissen davon ab, mit ihr hineinzugehen. Beinahe gegen meinen Willen fuhr ich mit der Kutsche nach Westminster Hall, stieg am Haus von Mrs. Lane aus und verabredete mich mit ihr zu einem Ausflug auf die andere Seite der Themse. Wir trafen uns beim Anleger an der Channel Row und setzten zum alten Gasthaus in Lambeth Marsh über, aßen und tranken dort - sie verschaffte mir zweimal höchste Wonnen."

Die widerstreitenden Empfindungen - sexuelles Begehren versus moralische Bedenken - paaren sich mit der Angst, sich Probleme sozialer oder gesundheitlicher Natur einzuhandeln (Pepys' jüngerer Bruder Thomas war 1664 an der Syphilis gestorben). Auch ist Pepys ein großer Kirchgänger, der sich und seiner Frau ein eigenes Gestühl bauen lässt, der die Predigten mit großem Ernst verfolgt (und sie bisweilen aus dem Gedächtnis aufzeichnet) und wenig Verständnis für die Leichtlebigkeit anderer aufbringt. Einen Sinnspruch seines Protegées ("Eine Frau zu schwängern und sie anschließend zu heiraten, sei so, als würde man in seinen Hut scheißen und ihn anschließend aufsetzen") kommentiert er mit den Worten: "Ich entnehme daraus, daß Mylord sich weit von allen religiösen Dingen entfernt hat und sich nichts aus derlei Fragen macht."

Pepys' Tagebuch demonstriert in einzigartiger Deutlichkeit, wie im 18. Jahrhundert moralische Konformität, gesellschaftliche Erwartungsmuster und religiöse Pressionen mit der egoistischen und privatistischen Bilanzierung von Vor- und Nachteilen in sexuellen Fragen kollidieren. Hier wird die innere Pluralität des Selbst entdeckt und thematisiert, deren Grundfigur das Gespräch des Ich mit sich selber ist und die keine einfachen Lösungen mehr kennt. Diese Form der 'inneren Kommunikation' hat es natürlich immer gegeben, doch die Gewichtung hat sich im Laufe der Zeit verschoben: Bis ins 18. Jahrhundert hinein geht es dieser Figur um den Vollzug einer vernünftigen moralischen Selbstkontrolle gegenüber Abweichungstendenzen des sündenfälligen Menschen. Das Selbstgespräch dient moralischen Zwecken, es will das Subjekt mit den Werten und Normen außerhalb seiner versöhnen, aber mit Zielsetzungen, die partiell den Interessen, Neigungen, Leidenschaften des Selbst widersprechen. Im Zuge des 18. Jahrhunderts entwickelt sich das Selbstgespräch im Tagebuch folgerichtig zur Expedition in ein bis dato unbekanntes Terrain: dem Herausfinden des wahren eigenen Interesses, selbst wenn es über die sozial akzeptierten Grenzen hinausführt. Hier sind die "Geheimen Tagebücher" des Samuel Pepys ein frühes Dokument, das mit der Erfahrung gesellschaftlichen Fortkommens auch die partielle Freisetzung des Subjekts von überkommenen Moralvorstellungen thematisiert, freilich im Hochadel deutlich ungezügelter und gewissenloser als im aufstrebenden Bürgertum, wo den Regularien des eigenen Herkunftsraumes noch immer mäßigende Funktion zukommt.

Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Nirgendwo wird dies deutlicher als in den immer frecheren Eskapaden, die sich der offenbar vitale und potente Diarist gestattet, dabei schwere Konflikte mit seiner Frau in Kauf nehmend. Gleichzeitig versucht er jedoch, durch Reue und (mehr oder weniger erfolgreiche) Gelübde der Enthaltsamkeit - übrigens nicht nur in Bezug auf seine Promiskuität und seinen bisweilen ungezügelten Alkoholkonsum, sondern auch bezüglich seiner exzessiven Theaterleidenschaft - für eine moralisch ausgeglichene Bilanz zu sorgen. Solche Bilanzierung ist Ausdruck seiner puritanischen Erziehung und zugleich ein Zeitphänomen, wie das bedeutendste fiktive Tagebuch der Epoche, Daniel Defoes "Robinson Crusoe" (1719) belegt, denn auch Defoes Romanheld neigt dazu, sich Rechenschaft vor sich selbst abzulegen. Freilich konnte dieser erste moderne englische Roman für Pepys' Tagebuch noch kein Vorbild sein, und auch Defoes fiktives "Tagebuch des Pestjahres" (1722), welches dem Medium den Horizont als literarische Gattung wenn nicht erschlossen hat, so doch sichern half, liegt zeitlich später. Gleichwohl hat Samuel Pepys es verstanden, in seinem Diarium seinen höchst persönlichen, neugierigen, lebenshungrigen Blick auf die Welt mit großer Plastizität festzuhalten.

Seit 1825 hält die Wirkung seines Tagebuchs nun schon vor, eine ungeheuer lange Zeit, in der Pepys - vor allem in England - breiteste Leserschichten erreichte. Dies dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass Pepys, als sein Tagebuch 1660 einsetzt, bereits ein geübter Schreiber war. Man vermutet, dass er frühere Aufzeichnungen vernichtet hat, und man weiß von ihm selbst, dass er schon als Student in Cambridge seinen schriftstellerischen Neigungen nachgegangen ist und einen 'leichtfertigen' Roman mit dem Titel "Trügerische Liebe" verfasste, den er freilich Anfang 1664 vernichtete, nachdem er ihn zuvor, nicht ohne Behagen, noch einmal gelesen hatte.

Diese schriftstellerische Begabung hat sich auch in den zahlreichen (Teil-) Übersetzungen niedergeschlagen, die von den "Geheimen Tagebüchern" existieren. Mit großem Genuss liest man den deutschen Pepys aus der Werkstatt von Georg Deggerich. Seine Übersetzung geht auf den Impuls des 2003 verstorbenen Künstlers und Musikers Volker Kriegel zurück, der seit langem das Projekt einer illustrierten Ausgabe verfolgt hat, die nicht nur den 'historisch wertvollen' und repräsentativen, sondern auch den amourösen, 'verstopften' oder sonstwie indisponierten, zutiefst fehlbaren und somit 'menschlichen' Pepys zeigen sollte. Da Kriegel sein Vorhaben nicht mehr zu Ende führen konnte, haben sich Robert Gernhardt und Roger Willemsen seiner angenommen und es auf die Beine gestellt. Ihre Auswahl enthält alle wichtigen Ereignisse, die in den Darstellungszeitraum fallen, die Wiederherstellung der Monarchie in England (1660), die Krönung Charles II. in St. Paul's Cathedral (1661; Pepys nahm trotz heftigen Harndrangs daran teil), den Verkauf Dünkirchens an Frankreich (1662), den zweiten holländischen Krieg (1664-1667), die schwarze Pest und das London verheerende Feuer, den Sturz Lordkanzler Clarendons (1667) und die Reform der Marine. Doch anders als die seit 1982 maßgebliche Auswahl des Leipziger Insel Verlages, begreifen Gernhardt und Willemsen und ihre Mitstreiter, die Illustratoren der Neuen Frankfurter Schule, Pepys' Tagebuch nicht primär als kulturhistorisches Dokument, das das zeitgeschichtlich Bedeutsame und biografisch Unerlässliche zu bieten hat, sondern eben auch als privates Refugium, das alles für den öffentlichen Raum Unwichtige zeigt, dasjenige, das die eher privaten und eher sonderlichen Aspekte des Diaristen dokumentiert, selbst wenn durch diese Gewichtung "systematische Inkonsistenzen" in Kauf zu nehmen sind.

Durch die "generös" beigesteuerten illustrierenden Blätter von Künstlern wie F. W. Bernstein, Greser und Lenz oder Michael Sowa ist hier eine Art Hausbuch entstanden, das man sich - vielleicht zusätzlich zur Insel-Ausgabe - in seine Bibliothek stellen sollte. Erstens der schönen Übersetzung wegen, und zweitens, weil beide Ausgaben nur etwa ein Fünftel des Gesamtumfangs des englischen Originals ausmachen und sich in Teilen ergänzen.

Titelbild

Samuel Pepys: Das geheime Tagebuch.
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Anselm Schlösser.
Übersetzt aus dem Englischen von Jutta Schlösser.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
708 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3458323376

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Titelbild

Samuel Pepys: Die geheimen Tagebücher. Mit einem Nachwort von Roger Willemsen und Illustrationen von Beck, F. W. Bernstein, Robert Gernhardt, Greser & Lenz, Nikolaus Heidelbach, Ernst Kahl, Volker Kriegel, Bernd Pfarr, Michael Sowa, Hans Traxler und F. K. Waechter.
Herausgegeben von Volker Kriegel und Roger Willemsen.
Übersetzt aus dem Englischen von Georg Deggerich.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
414 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 382183742X

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