Die beispiellosesten Verbrechen werden von den gewöhnlichsten Leuten begangen

Susan Neimans Philosophiegeschichte des Bösen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Lektüre eines Buches, das sich einem derart ernsten Thema wie dem Bösen widmet, kommt es unerwartet, dass man gleich beim ersten Satz schmunzeln muss. Doch Susan Neimans Eingangsfrage "'Das Böse? Ist das nicht ein Thema für Theologen [...] oder allenfalls für Amerikaner?" schenkt einem dieses kleine Vergnügen und ist dabei bezeichnend für die stilistische Leichtigkeit, mit der die Autorin sich ihrer Aufgabe, das Böse zu denken, nähert. Dabei fließt ihr dann und wann sogar Aphoristisches aus der Feder: "Sich mit der Endlichkeit abzufinden ist gar nicht so schwer - vorausgesetzt sie hält sich in Grenzen" oder - natürlich im Abschnitt über Kant: "Gute Absichten ohne Folgen sind leer, gesetzmäßiges Verhalten ohne Absicht ist blind."

Die gelegentlich fast schon flott zu nennende Diktion des Buches dürfte seiner Zielgruppe entgegenkommen. Denn es setzt zwar einige fachspezifische, also philosophische Kenntnisse voraus, doch richtet es sich dezidiert nicht nur an Philosophen, sondern an ein breites Publikum. Dass Neiman auch schon einmal eine Verballhornung unterläuft, dürfte letzterem entgehen. Das philosophisch vorgebildete Publikum jedoch wird es kaum goutieren, dass sie Kants kategorischen Imperativ mit der bekannten "Volksweisheit" zusammenfallen lässt, nach der man sich "in einen anderen hineinversetzen" und ihm nicht zufügen soll, "was man selbst nicht zugefügt bekommen möchte" - wohinter sich die bereits in der Antike formulierte "Goldene Regel" verbirgt. Den kategorischen Imperativ wird man allerdings schwerlich auf diese Maxime reduzieren können. Derartige Fehlgriffe bleiben jedoch die Ausnahme und werden durch den Erkenntniswert, den das Buch für Laien wie für Fachphilosophen bietet, mehr als aufgewogen.

Nicht die anfangs zitierte rhetorische Frage steht im Mittelpunkt des Buches, sondern die Frage, welchen Sinn es "angesichts eines Bösen, das aller Vernunft trotzt", überhaupt noch habe, auf Vernunft zu setzen. Anhand dieser Fragestellung unternimmt die Autorin nicht weniger als eine neue Deutung der gesamten neuzeitlichen Philosophiegeschichte, deren "Wurzel" und "treibende Kraft" das "Problem des Bösen" sei. Ungeachtet des "einfältige[n], parteiische[n] und gefährliche[n] Gebrauch[s]" des Wortes "böse" durch die Bush-Regierung solle es nicht fallen gelassen werden. Denn es könne - trotz aller mit ihm verbundenen Probleme - verantwortlich gebraucht werden und zu "moralische[r] Klarheit" in Hinblick auf "philosophische Analyse bestimmter Ereignisse" beitragen.

Eine Definition dessen, was das Böse ausmacht, ist der Autorin zufolge nicht möglich. Zwar könne man Böses durchaus als solches erkennen, doch bedeute das nicht, dass es "etwas wie das Wesen des Bösen" gebe. So seien etwa weder Osama Bin Laden noch Adolf Eichmann "das Paradigma" des Bösen. Vielmehr repräsentierten sie jeweils bestimmte seiner Formen, ohne sie jeweils alle zu erschöpfen. Neimans Verständnis des Begriffs läuft auf etwas hinaus, das sich vielleicht als Familienähnlichkeit der Formen des Bösen bezeichnen ließe.

Diese Formen des Bösen in "größere" und "kleinere" einzuteilen sei nicht nur "witzlos", sondern "unerlaubt". Denn etwas als böse zu bezeichnen sei "eine Weise, die Tatsache zum Ausdruck zu bringen, daß es unser Vertrauen in die Welt erschüttert", und bedeute somit, "ihm jede Rechtfertigung und jedes Gewichten zu verweigern". Daher sollten die Formen des Bösen "nicht verglichen, wohl aber unterschieden" werden.

Neiman, der Philosophiegeschichte zu betreiben nicht nur Geschichtsschreibung, sondern selbst eine philosophische Tätigkeit ist, legt mit ihrem Buch eine "andere Geschichte der Philosophie" vor, die nicht weniger ist als ein geschichtsphilosophischer Entwurf der Philosophie der Moderne von seltener Originalität. Drei Thesen bilden seine Säulen: 1. Das Problem des Bösen ist zum "Organisationsprinzip für das Verstehen der Philosophiegeschichte" besser geeignet "als jede Alternative", 2. Das Problem des Bösen bildet das "Band" zwischen Ethik und Metaphysik und schließlich 3. - ihre wohl wichtigste These - Die Unterscheidung zwischen natürlichem und moralischem Bösen ist historisch entstanden und wurde im Laufe der aufklärerischen Debatte um das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 entwickelt.

Dieses Erdbeben, so führt sie aus, habe für die damals lebenden Menschen eine ähnliche Bedeutung gehabt wie der Massenmord in Auschwitz und den anderen Konzentrationslagern für uns heutige. Dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf das Erdbeben von Lissabon anders reagiert werde als auf den Massenmord in Auschwitz, liege nicht nur an der Unterschiedlichkeit der Ereignisse, sondern sei auch "in unseren geistigen Konstellationen" begründet.

Auf das Erdbeben von Lissabon - und somit ein halbes Säkulum früher als Foucault und andere - datiert Neiman den Beginn der Moderne, weil in seinem Gefolge von europäischen Philosophen erstmals der Versuch unternommen wurde, die Verantwortung für eine Naturkatastrophe zwischen Gott und dem Menschen respektive zwischen dem natürlichen und dem moralischen Bösen zu verteilen. Zugleich wurde damit überhaupt erst die Basis für die "strikte Unterscheidung zwischen natürlichem und moralischem Bösen" gelegt, die Neiman zufolge für die Moderne kennzeichnend ist. Und hier zeigt sich eine gewisse Crux der Übersetzung. Denn offensichtlich wäre es der Sache angemessener von einer Unterscheidung zwischen natürlichem Übel und moralischem Bösen zu sprechen. Doch die Übersetzerin entschied sich dafür, den Begriff evil, der im englischen sowohl "übel" als auch "böse" bedeuten kann, stets mit "böse" zu übersetzen. Jedenfalls aber entstand die "radikale Unterscheidung" zwischen malum physikum und malum morale in der Diskussion um das Erdbeben von Lissabon und wurde zu einem zentralen "Charakteristikum der Moderne", wie die Autorin eindrücklich nachweist. Urheber der Unterscheidung war Rousseau, der - wie Neiman ihn referiert - nicht nur konstatierte, dass Katastrophen "keinen irgendwie gearteten moralischen Wert" haben, sondern dass sich zudem ihre negativen Folgen verhindern lassen, etwa indem man erdbebensichere Häuser baut. Somit war die Schuld von Gott bzw. der Natur genommen und den nachlässigen Menschen aufgebürdet. Wesentlich war hierbei die Feststellung, dass dem natürlich Bösen keine Bedeutung innewohnt, sondern dass es vielmehr "Teil einer buchstäblich bedeutungslosen Ordnung" ist.

Verknüpft Neiman den Beginn der Moderne mit dem Namen der Stadt Lissabon, so deren Ende mit dem des Ortes Auschwitz. Stehe Lissabon für "die Unhaltbarkeit der traditionellen Theodizee", so habe Auschwitz bewusst gemacht, "daß es ihren Nachfolgern nicht besser ergeht". Denn der Massenmord in Auschwitz habe eine "Möglichkeit in der menschlichen Natur" offengelegt, "von der wir gewünscht hätten, wir hätten sie nie erlebt". Somit stehe der Name des Ortes nicht etwa für das "Versagen einer bestimmten Nation", sondern für den "Zusammenbruch der Moderne überhaupt". Auschwitz steht nicht etwa am Ende der philosophischen Moderne, weil es der Hoffnung und dem Projekt ihres aufklärerischen Beginns, die Perfektibilität des Menschen mithilfe der Vernunft ins Werk zu setzen, endgültig den Garaus bereitete, was nahliegend erscheinen könnte, sondern - wie ich finde, weniger plausibel - "aufgrund der Art und Weise, wie es unser Entsetzen prägt".

Neiman folgt der (geistesgeschichtlichen) Entwicklung der Moderne nicht chronologisch, sondern gliedert ihr Buch thematisch, indem sie zwischen Philosophen, "die neben der scheußlichen Ordnung, die uns unsere Erfahrung präsentiert, noch eine andere aufzufinden behaupten" und denjenigen unterscheidet, "die eine Realität jenseits der nackten Erscheinungen verneinen". Zu ersteren zählt sie Leibniz, Pope, Rousseau, Kant, Hegel, dem sie die Ehre zuspricht, "das Problem des Bösen als erster untheologisch formuliert" zu haben, und schließlich Marx, zu letzteren Bayle, Voltaire, Hume, Sade und Schopenhauer, gegen dessen "entschlossenen Nihilismus" der kategorische Imperativ "nichts aufzubieten" habe. Nietzsche, dessen "Hymnus auf das Leiden" christlichen Vorstellungen, die das Leiden heiligen, "dermaßen nahe kommt, daß beides kaum noch auseinanderzuhalten" sei, passe ebenso wie Freud in keine der beiden Kategorien. Sie werden von der Autorin daher gesondert abgehandelt.

In einem weiteren Kapitel wird die "Fragmentierung der Tradition" im 20. Jahrhundert anhand der "fragmentarischen Antworten" von Camus, Adorno, Horkheimer, Ralws und Arendt illustriert, wobei Arendts unter dem Titel "Eichmann in Jerusalem" veröffentlichter "Bericht von der Banalität des Bösen" der "wichtigste philosophische Beitrag" des gerade verstrichen Jahrhunderts zum Problem des Bösen darstelle. Die jüdische Philosophin habe die "entscheidende Erklärung" dafür geliefert, warum Auschwitz zum "Sinnbild" des zeitgenössischen Bösen wurde. Denn sie habe deutlich gemacht, "daß Verbrechen, die so ungeheuerlich sind, daß die Erde selbst nach Vergeltung schreit, heute von Leuten begangen werden, deren Motive einfach nur banal sind", dass die "beispiellosesten Verbrechen" also von den "gewöhnlichsten Leuten" begangen werden können. Böses Handeln erfordert mithin keine bösen Absichten, banale Motive reichen hin.

In einem aktuellen und eher politischen denn philosophischen Schlusskapitel unterstreicht die Autorin, dass wir dem (moralisch) Bösen nicht hilflos ausgeliefert sind, und verdeutlicht dies ebenso überraschend wie letztlich überzeugend ausgerechnet an den Ereignissen des 11. September 2001. Die Absicht der Terroristen, "uns unsere Ohnmacht vor Augen zu führen", sei fehlgeschlagen. Vielmehr sei gerade deutlich geworden, "daß wir so ohnmächtig nicht sind". Die Geschehnisse "führte[n] uns nämlich vor, inwieweit das Böse, aber auch der Widerstand dagegen, in den Händen einzelner Menschen liegt". Denn die Passagiere des Fluges 93 "bewiesen, daß Menschen frei sind und ihre Freiheit nutzen können, um eine Welt zu beeinflussen, von der wir fürchten, dass sie sich unserer Kontrolle entzieht". Eine Theodizee sei das zwar nicht, nicht einmal ein Trost, aber eine Hoffnung. Und eine andere, so schließt sie, haben wir nicht.

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Susan Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Christiana Goldmann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
488 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-10: 3518583891

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