Sich fügen heißt lügen

Die Tagebücher Erich Mühsams aus den Jahren 1910 bis 1924 geben Einblick in das Leben des außenseiterischen Revolutionärs

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist Zenzl Mühsam zu verdanken, dass wir heute über die Tagebücher ihres Mannes Erich Mühsam verfügen können. Kreszentia Elfinger, von Mühsam liebevoll Zenzl genannt, taucht in den Tagebüchern erstmals im August 1914 auf: "Ich bin sehr traurig", schreibt der von einer Geliebten verlassene Mühsam, "und will jetzt mal nach der lieben Frau sehn, die mir seit dreiviertel Jahren nun die Geliebte ersetzt - nach Zenzl Engler ..." Ein Jahr später, am 15. September 1915, heiratet Mühsam die "Bäuerin von der Holledau", die bis zu seinem Tode seine engste Vertraute blieb. Nach Mühsams Ermordung durch die Nazis am 10. Juli 1934 flüchtete Zenzl Mühsam über Prag in die Sowjetunion. Dort übergab sie 1936 den schriftlichen Nachlass Mühsams, darunter die Tagebücher aus den Jahren 1910 bis 1924, dem Moskauer Maxim-Gorki-Institut für internationale Literatur. Unmittelbar darauf wurde sie jedoch am 22. April 1936 wegen Bildung einer "konterrevolutionären trotzkistischen Organisation" verhaftet und verbrachte die nächsten zwanzig Jahre (mit einigen Unterbrechungen) in sowjetischen Internierungs- und Erziehungslagern. Erst 1956 konnte sie in die DDR ausreisen. Im gleichen Jahr überließen die Russen der ostdeutschen Akademie der Künste Mikrofilmkopien des Nachlasses. Kreszentia Mühsam starb 1962.

Die Tagebücher umfassen zwei Lebensabschnitte Mühsams. Von 1910 bis 1918 lernen wir den unkonventionellen Anarchisten Mühsam kennen, der es als Teil der Münchner Bohème zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Der zweite Teil der Aufzeichnungen von 1919 bis 1924 entstand nach dem missglückten Räterevolutionsversuch in Bayern in bayrischer Festungshaft. Die Tagebücher sind nicht vollständig. Einiges ging schon während der Entsteheungszeit verloren - so erfahren wir, dass die bayrische Gefängnisverwaltung mehrmals die Aufzeichnungen konfiszierte und an sich nahm - anderes verlor sich in der Sowjetunion. Eine Rolle spielte dabei auch, dass die Tagebuchaufzeichnungen für machtpolitische Intrigen missbraucht wurden. So versuchten die bayrischen Behörden mit der Veröffentlichung ausgewählter Passagen aus den Aufzeichnungen die ehemaligen Räterevolutionäre gegeneinander auszuspielen. In den 30er Jahren während der stalinistischen ,Säuberungen' bedienten sich die Ankläger der Aufzeichnungen, um dort Material zu finden gegen exilierte deutsche Genossen. Mühsam, der um die ,Brisanz' seiner Aufzeichnungen in fremden Händen wusste, führte aber dennoch sein Tagebuch immer in Klartextsprache. Er brauchte das Material für die eigenen polit-literarischen Arbeiten, sowie zur eigenen Vergewisserung und Selbstkontrolle. Im Tagebuch vor allem reflektierte er die politische Bedeutsamkeit seiner bohèmebedingten Spontanitäten als ernst zu nehmender anarchischer Revolutionär.

Die Tagebuchaufzeichnungen setzen im Sommer des Jahres 1910 ein. Seit einem Jahr in München lebend, füllt Bohèmealltag die Seiten. Vor allem "der Dalles", die Mühsam belastende finanzielle Armut, prägt diesen Alltag. Immer wieder mischt sich in die Klage über diesen Zustand die Anklage gegen den eigentlichen Urheber des Missstandes, den Vater. Als dieser einmal finanzielle Sicherheiten für ein Zeitschriftenprojekt verweigert, notiert Mühsam: "Ich würde ihn so gern lieben. Aber sein Verhalten zwingt mich ihn zu hassen. Denn auch in seinem Verhalten sehe ich kein Fünkchen Liebe zu mir; nur das Prinzip: Ich, der Vater, will recht behalten!" Der Konflikt mit dem autoritären Vater, hinter dem sich die unerfüllte Sehnsucht nach Anerkennung verbirgt, ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis von Mühsams politisch-existenzieller Extravaganz. Es ist ein mühsamer Emanzipationsprozess gegenüber dem Vater, dessen bürgerlicher Wohlstand zum dauernden Reibungspunkt wird. Eine Aussöhnung gelingt erst nach dem Tod des Vaters. Mühsam erhoffte ein Erbteil, das ihm endlich die existenziellen Sorgen nehmen konnte. Doch nun entdeckt er die tatsächlichen Vermögensverhältnisse des Vaters. Im Sommer 1915 notiert er: die Vermögenslage "hat mich gegen ihn versöhnlich gestimmt. Ich glaube, daß ich ihm manches abzubitten habe, da ich einsehe, daß er ein solches Maß von Unterstützung, wie ich es alle Jahre hindurch von ihm meinte beanspruchen zu dürfen, bei Wahrung seiner Absicht, seinen Kindern die nötigen Sicherheiten [...] zu hinterlassen, angesichts seiner Besitzverhältnisse gar nicht leisten konnte."

Die knappe Kasse dominiert Mühsams Bohèmeleben. Von dem wenigen aber, was ihm eine geschwisterliche Unterstützungsvereinbarung und seine geringen Honorare einbringen, gibt er Anteile an diejenigen, denen es noch schlechter geht als ihm. Darunter auch die ein oder andere Liebschaft. Mühsams Tagebuch gibt Aufschluss über die sexuelle Freizügigkeit eines Teils der Münchner Bohème. Das kann das reizvolle Stubenmädchen Frieda sein, "mit der ich das alte Jahr mit einem schön verlaufenen und durch kein Korsett und keinen Klingellärm gestörten Koitus verabschiedete"; es kann aber auch das ob eines "elenden Trippers" so offensichtlich gestörte Liebesleben sein. Umso erleichterter dann der Eintrag vom Juli 1911: "Der Diwan in meiner Stube kann endlich wieder eine Liebesgeschichte erzählen..."

Mühsams Lebensstil war ein bewusster Akt gegen den "vertrottelten Konventionsdrill", wie er an anderer Stelle einmal schrieb, einer patriarchalisch-autoritären Bürgergesellschaft. Um das Politische seines Lebensstils zu verdeutlichen, verband Mühsam die extensiv gelebte Bohèmeexistenz mit den Ideen des Anarchismus. In seiner publizistisch-literarischen Arbeit, vor allem in ,Kain', der ,Zeitschrift für Menschlichkeit', benannt nicht nach dem Brudermörder, sondern dem ersten Rebellen der Menschheit, formulierte Mühsam seine außenseiterischen politischen Hoffnungen. Die Resonanz blieb gering, bei der politischen Linken galt Mühsam eher als kurioser Einzelgänger. Typisch eine Äußerung Johannes R. Bechers, die Mühsam Ende 1913 wiedergibt: "Als ich erklärte, die Leute kauften doch das Blatt [den ,Kain', HGL] gerade, um meine Ansichten kennenzulernen, meinte Herr Becher ganz ungeniert, das glaube er nicht, man kaufe den ,Kain' nur der Kuriosität wegen. Ich brach das Gespräch ab und ging sehr aufgeregt weg ..."

Mit Ausbruch des Krieges verändert sich die Stimmung. Im Tagebuch finden sich Schilderungen der hysterischen chauvinistischen Kriegsbegeisterung in Münchens Straßen, von der auch Mühsam und die meisten der Schwabinger Caféhausstrategen im Café Stefanie, den Torggelstuben oder im Simpl nicht unbeeinflusst blieben. Am 11.8. notiert er bewundernd "[...] die Zuversicht der Deutschen [...] Es ist jetzt eine seelische Einheit vorhanden, die ich einmal für große Kulturdinge erhoffe." In dieser Stimmung teilt er seinen Lesern die vorläufige Einstellung des ,Kain' mit, damit es vereint gelingen möge, "die fremden Horden von unseren Kindern und Frauen, von unseren Städten und Äckern fernzuhalten." Es dauert einige Wochen und viele Gespräche vor allem mit dem eindeutigen Kriegsgegner Heinrich Mann bis Mühsam sich seines Irrtums bewusst wird. Am 23. 3. 1915 notiert er einigermaßen rückblickend: "Nun habe ich gerade in den letzten Tagen wieder gelesen, was ich in den ersten Kriegswochen ins Tagebuch schrieb, und war bei einzelnen Stellen ganz betroffen."

Mühsam ist längst zum aktiven Politiker geworden. Leider fehlen die Tagebücher aus den Jahren 1916 bis 1919, in denen Mühsam für eine kurze Zeit zum aktiven Revolutionär werden konnte. Sie setzen erst wieder ein, als alles vorbei ist. In Bayern ist die Räterepublik mit grausamer Konsequenz zerschlagen, viele Mitstreiter Mühsams, darunter Gustav Landauer, - "so grauenvoll; mein Freund und Führer, mein Lehrer und Genosse" -, wurden ermordet. Mühsam selbst wurde zu 15-jähriger Festungshaft verurteilt.

In den Haftaufzeichnungen dominieren zunächst polittheoretische Exkurse. Was wird mit der Revolution angesichts der "Bibelgläubigen" in der sozialistischen Bewegung, denen die "Lehren der Kirchenväter" - gemeint ist vor allem Marx - wichtiger sind als "Leidenschaft, Sehnsucht und Empörung"? Mühsam spekuliert eine Zeitlang mit dem Bolschewismus als "Brücke zwischen Marx und Bakunin". 1919 wird er sogar für kurze Zeit Mitglied der KPD. Am 14 Oktober 1914 notiert er: "Am meisten beschäftigt mich mein Eintritt in die KPD, der von meinen Freunden mit sehr gemischten Gefühlen aufgenommen wird und dem ich selber noch mit recht gemischten Gefühlen gegenüberstehe." Denn: "Ich bleibe Anarchist und Bakunist. Was mich zum Bolschewisten macht, ist die Erkenntnis, dass wir um die proletarische Diktatur nicht herumkönnen." Und deshalb ist dann auch schon am Ende Oktober 1919 die "Mordsdummheit" wieder erledigt: "Ich habe das Gefühl, als hätte ich einen zu engen Hut abgenommen..."

Die Festungshaft ist in der ersten Zeit, während der die Revolution binnen Wochen erwartet wird, eine weitere taktische Option. In dieser Erwartung sind sich die Festungshäftlinge, zu denen zeitweise auch der Schriftsteller Ernst Toller gehört, einig. Je mehr aber die Revolutionserwartung enttäuscht wird, umso deutlicher treten die Konflikte zwischen Mühsam und den "Bibelgläubigen" hervor. Intrigen und Machtspielchen, initiiert einerseits von der kommunistischen Parteiführung und immer wieder gierig aufgegriffen von der bayrischen Justizverwaltung, die aus den Streitereien Vorteile ziehen zu können glaubt, machen die Haft für Mühsam beschwerlich. "Es ist noch lange nicht sicher, ob ich nicht eines Tages statt von Offizieren von Parteikommunisten an die Wand gestellt werde" notiert er im Juni 1920. Der Streit eskaliert schließlich in dem verleumderischen Vorwurf der Veruntreuung von Geldern aus Solidarfonds für die Häftlinge. Die Verleumdungen werden gezielt in die Presse lanciert, derweil Mühsam systematisch daran gehindert wird, sich zu verteidigen. An Silvester 1921 notiert er: "1921 geht heute vorüber. Ich glaub in summa war es wohl das ärgste Jahr in meinem nicht eben an argen Jahren armen Leben.[...] Aber mein Optimismus ist nicht klein zu kriegen; und im Rheinland streiken die Eisenbahner!"

Es ist diese optimistische Hoffnung, die den außenseiterischen Revolutionär trotz allem nie erlahmen lassen. Er bleibt ungebeugt. "Sich fügen heißt lügen" dichtet er in der Haft, die in den letzten Jahren vor allem durch die bemühten und sinnlosen Schikanen der Gefängnisverwaltung geprägt wird. Längst ist Mühsam auch unter den Kommunisten rehabilitiert. Der skandalöse Umgang mit den Festungshäftlingen in Bayern beschäftigt mittlerweile auch die Reichspolitik. Amnestie ist zu erwarten. Bereits 1923 organisiert Zenzl den Umzug nach Berlin. "München, wo ich bestimmt dachte, meine Tage zu beschließen ist Vergangenheit, unser neues Heim ist in Charlottenburg..." Aber erst vom 20. Dezember 1924 datiert der letzte Eintrag: "Vormittag, zehn Uhr dreißig. Frei!"

Die von Chris Hirte herausgegebenen und knapp kommentierten Tagebücher Mühsams erschienen 1994 erstmals bei dtv. Wenn sie nunmehr in der dritten unveränderten Auflage vorliegen, dann belegt dies ein still-stetiges Interesse an einer ungewöhnlichen Persönlichkeit und ihrem Leben. Gut so!

Titelbild

Erich Mühsam: Tagebücher 1910-1924.
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Chris Hirte.
dtv Verlag, München 2004.
418 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3423132191

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