Das Tagebuch des Harry Graf Kessler

Mit den Aufzeichnungen aus den Jahren 1892 bis 1897 startet eine aufwändige Unternehmung

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wenigen Kundigen haben es lange ersehnt: Endlich, die Tagebücher Harry Graf Kesslers werden gehoben. Tagebücher aus 57 Lebensjahren, begonnen 1880, fortgeführt bis ins Todesjahr 1937. Verfasst von einem Kosmopoliten, vielseitig gebildet, ein Kenner der Kunstmoderne, ein Homme de lettres, wie er ungewöhnlich war für das in Deutschland vorherrschende Milieu chauvinistisch-nationalistischer Provinzialität. Zugleich aber mit allen und jedem dieser Gesellschaft bekannt - kurzum ein Fundus zur kulturellen und politischen Zeitgeschichte.

Aus der Fülle des Materials lag bislang nur eine 1961 erschienene Auswahl mit Aufzeichnungen aus den politisch besonders interessant erscheinenden Jahre 1918 bis 1937 vor. In jenen Jahren verlegte auch Kessler sich verstärkt aufs Politische. Der Diplomat war 1918 erster deutscher Gesandter im 'neuen' Polen. 1924 kandidierte das Gründungsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) vergeblich für den Reichstag. Kessler engagierte sich als Pazifist in der Deutschen Friedensgesellschaft, deren Präsidium er von 1919 bis 1929 angehörte. Ende der zwanziger Jahre nahm Kessler als Publizist Einfluss auf die politischen Diskussionen der Weimarer Republik. Er schrieb eine Biografie des 1922 von Rechtsextremen ermordeten Politikers Walter Rathenau, seit 1932 erschien die von ihm mitherausgegebene antifaschistische Zeitschrift "Das freie Wort". 1933 verließ Kessler Deutschland und ging ins Exil nach Paris. Der Großteil der Kessler'schen Tagebücher befand sich in seinem Nachlass, der im Deutschen Literaturarchiv lagert. Seit den sechziger Jahren konnten immer wieder weitere Bände des Tagebuchs erworben werden. 1985 fand sich in einem seit 50 Jahren verschlossenen Schließfach einer Bank auf Mallorca, wo Kessler 1933 eine Zeitlang lebte (und sich von Albert Vigoleis Thelen "Gesichter und Zeiten" ins Reine schreiben ließ), ein weiterer Teil des Tagebuchwerks; noch fehlende Reste konnten schließlich 1992 erworben werden. Damit konnte nun die Herausgabe des vollständigen Tagebuchwerks starten. Sie ist auf neun Bände geplant. Der ersterschienene Band ist in der geplanten Abfolge der zweite, der die Jahre 1892 bis 1895 umfasst. Der Band ist 776 Seiten stark, davon 450 Seiten Tagebucheintragungen. Das umfangreiche Namensregister braucht 224 Seiten. Die Herausgeber verzichten auf 'Ereigniskommentare' zu den einzelnen Tagebucheintragungen und geben in Fußnoten nur knappe Informationen, wie z.B. Übersetzungen oder Auflösung unkenntlicher Namen, die dann im Namensregister auffindbar sind. Deshalb ist dieses mit Anmerkungen zu den Personen versehen. Das vermeidet einen Nachteil vieler Tagebucheditionen, die mit umfangreichem Anmerkungsapparat arbeiten. Dort finden sich die Personenerläuterungen zumeist nur im ersten Anmerkungseintrag. Will man an anderer Stelle noch einmal über diese Informationen verfügen, so wird man auf die ursprüngliche Anmerkung verweisen, was zuweilen mit umständlichem Blättern verbunden ist.

Hier sind dergleichen Informationen im Namensregister praktischerweise 'immer' an der gleichen Stelle verfügbar. Ungewöhnlich ist das "Register der Schreiborte". Es umfasst sämtliche Orte, an denen Kessler Eintragungen ins Tagebuch vornahm. Es sind nicht wenige, vor allem sind sie in der ganzen Welt verstreut. Woraus sich ergibt: Diese Tagebuchedition ist ein umfangreiches Unterfangen und der es schrieb, war viel auf Reisen.

Titelbild

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880 - 1937. Zweiter Band 1892 - 1897.
Herausgegeben von Günter Riederer und Jörg Schuster.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004.
776 Seiten, 58,00 EUR.
ISBN-10: 376819812X
ISBN-13: 9783768198127

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