Lesereise in die Wohnzimmer

Christa Wolfs Projekt "Ein Tag im Jahr" als Hörbuch, gelesen von der Autorin selbst

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihrem "Horror vor dem Vergessen" versucht Christa Wolf durch das Schreiben zu begegnen. "Gegen diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein wollte ich anschreiben. Ein Tag in einem jeden Jahr wenigstens sollte ein zuverlässiger Stützpfeiler für das Gedächtnis sein - pur, authentisch, frei von künstlerischen Absichten beschrieben, was heißt: dem Zufall überlassen und ausgeliefert." Seit über 40 Jahren hält sie deshalb jeweils den 27. September protokollartig fest. Im Herbst 2003 sind 41 dieser Tages-Niederschriften unter dem Titel "Ein Tag im Jahr. 1960-2000" als Buch erschienen. Nun gibt es sie auch als Hörbuch.

Glücklicherweise wurde kein professioneller Sprecher dafür engagiert. Stattdessen liest die Autorin selbst aus ihrem bislang persönlichsten Buch. Christa Wolf setzt damit ihre Lesereise vom Herbst letzten Jahres quasi in den Wohnzimmern der Leser fort. Ruhig und getragen klingt die Stimme der Autorin, gedankenvoll der Vortrag. Fast schon monoton. Eine große Bandbreite an Nuancen kann Christa Wolf als Sprecherin vielleicht nicht vorweisen - doch zur intimen Atmosphäre der Tagesprotokolle, zu Wolfs nachdenklicher Prosa passt das. Sie liest aus ihrem Buch wohltuend unaufgeregt.

Und der Hörer der Protokolle taucht von Tag zu Tag mehr ein in die Alltagswelt der Autorin, lernt ihre Macken und "Kaufmanie" kennen, ihre beiden Töchter und die Schwiegersöhne, die jahrzehntelange Diskussion mit ihrem Mann Gerd über Literatur und Politik. Er begleitet die junge Christa Wolf beim Geschenke-Kauf für den Geburtstag der kleinen Tinka, erfährt immer wieder Hintergründe und Gedanken zur Entstehungsgeschichte ihrer Werke und erlebt mit der älteren Christa Wolf Wende und Wiedervereinigung.

Alle 41 Tages-Protokolle des 27. September eines jeden Jahres versammelt das Hörbuch - im Gegensatz zur gedruckten Ausgabe - jedoch nicht, 15 Jahres-Tage fehlen. Die Auswahl erscheint wie bei jeder Kürzung teilweise etwas willkürlich. Doch bieten die fünf CDs sicherlich einen guten Einblick in das Projekt "Ein Tag im Jahr", das ursprünglich auf einen Aufruf der Moskauer Zeitung "Iswestija" zurückging. 1960 wurden die Schriftsteller der Welt aufgefordert, den 27. September zu beschreiben. Die 31-jährige DDR-Autorin Christa Wolf - ihr Erstling "Moskauer Novelle" war noch nicht gedruckt - hat der Gedanke, einen Tag des Jahres so genau wie möglich zu beschreiben, "sofort gereizt": "Ich setzte mich also hin und beschrieb meinen 27. September 1960."

Und sie kann bis heute nicht damit aufhören. "Vielleicht können Mitteilungen wie diese dazu beitragen, die Meinungen über das, was geschehen ist, im Fluß zu halten, Vorurteile noch einmal zu prüfen, Verhärtungen aufzulösen, eigene Erfahrungen wiederzuerkennen und zu ihnen mehr Zutrauen zu gewinnen, fremde Verhältnisse etwa näher an sich heranzulassen ...", schreibt Christa Wolf im Vorwort zur Buchausgabe. Im besten Falle können sie das alles. Ein Zeitzeugnis, das seinesgleichen sucht, sind die Niederschriften ohne jeden Zweifel. Erst recht als Hörbuch.

Titelbild

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000. 5 Audio-CDs. Gelesen von Christa Wolf.
Random House Audio, Köln 2004.
ca. 350 Minuten, 29,50 EUR.
ISBN-10: 3898306801

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