Im Daueraustausch mit längst Toten

Durs Grünbeins Postskriptum zu Senecas "Die Kürze des Lebens"

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Freiburger Literaturzeitschrift "GrauZone" wurde Durs Grünbein einmal nach der Funktion des Zitats im Gedicht befragt. Dieses gewähre nicht nur die Polyphonie der Verse, es stelle auch eine Möglichkeit dar, Fragen zu konservieren, "die an mich gestellt wurden in einem Daueraustausch mit längst Toten". Man nähert sich damit einem Wesenselement der Dichtung Grünbeins an. In etlichen Anspielungen und Zitaten, in Grußadressen und Briefen, etwa in der "Epistel an einen englischen Arzt" aus dem Band "Erklärte Nacht", erweist der 1995 mit dem Georg-Büchner-Preis gewürdigte Dichter den Ahnherren dieser zeitgenössischen Poesie und Denkweise seine Reverenz. In Gestalt eines vielbezüglichen Dialogs, der zugleich das fremde Werk kommentiert, wird das eigene Schaffen reflektiert, in eine große Tradition gestellt oder aber explizit von dieser abgegrenzt.

Diese Methode lässt sich direkt von Heiner Müller herleiten, an den sich Grünbein mit einem nahezu programmatischen "Brief an den toten Dichter" wandte. Müller hatte im Hinblick auf sein eigenes Werk wiederholt auf ein nicht abreißendes Gespräch mit den Toten hingewiesen: "Für wen sonst schreiben wir / Als für die Toten allwissend im Staub", heißt es z. B. in "Mommsens Block". In seinem Nachwort zu einer von ihm zusammengestellten Gedichtauswahl Müllers definiert Grünbein das Schreiben gleichermaßen für den Kollegen, wie für sich selbst: "Bei aller Begierde nach Prominenz, blieb das Schreiben doch, was es immer gewesen war: der einsame Dialog mit ein paar längst gestorbenen Wegbereitern, die per Inspiration an die Schädeldecken ihrer Nachfolger pochten, um über deren Auftragserfüllung Rechenschaft zu verlangen."

Nun widmet sich Grünbein einem weiteren wirkungsmächtigen Text, den er in anderen Zusammenhängen bereits vielfach zitiert hat: Lucius Annaeus Senecas didaktischer Arbeit "Die Kürze des Lebens". Ein bibliophiles Bändchen der "Bibliothek der Lebenskunst" vereint die stoische Schrift des Philosophen mit Grünbeins Gedicht "An Seneca. Postskriptum", seinem Kommentar "In eigener Sache" und einem Essay "Im Namen der Extreme". Die Quintessenz der beigefügten Texte des in Dresden geborenen Dichters unterläuft subtil das Ansinnen der im Suhrkamp Verlag erscheinenden Reihe. Es besagt, dass die Texte zur Lebenskunst mit Vorsicht zu genießen seien, und so bekannt und zeitgemäß die Klage Senecas heute noch erscheint, als so zwiespältig und verlogen nimmt man sie nach Grünbeins Erläuterungen wahr. "Es mangelt uns nicht an Zeit, sondern wir verschwenden sie." Beherrschten wir die Kunst der Muße, so wäre unser Leben, mag es auch noch so kurz sein, lang genug. Doch wir sind Vielbeschäftigte, "occupati", die sich von allem und jedem die Zeit rauben lassen: "Unter Belastungen wird man durchs Leben gestoßen, nie hat man Muße, immer wünscht man sie", schreibt der, der als Quaestor unter Caligula, als Erzieher des jungen Nero - der ihn später zum Selbstmord zwang, was wiederum Heiner Müller zu dem Poem "Senecas Tod" inspirierte -, als wohlhabender Dramatiker und Politiker unvergleichlich Karriere machte. "Die Vielbeschäftigten hast du, der Vielgesichtige, / Verhöhnt als einer, der auf jeder Hochzeit tanzte", fasst Grünbein die Widersprüchlichkeit in Verse.

Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Texte ergeben sich zahlreiche, reizvolle Bezüge, so dass letztendlich auch Grünbein viele der an ihn herangetragenen Fragen eines Toten offen lassen muss. Denn gerade er, der auch Senecas Tragödie "Thyestes" ins Deutsche neu übertragen hat, kann als hoch gelobter poeta doctus zu jenen gerechnet werden, die gemäß Senecas Anweisung "täglich mit Zenon, mit Pythagoras, Demokrit und den übrigen großen Gelehrten wie Aristoteles und Theophrast möglichst vertrauten Umgang pflegen". Seneca selbst empfahl also die jenseitige Zwiesprache mit Geistesgrößen, die Grünbein heute mit ihm wieder aufnimmt. Dieser empfahl sich schon im Tagebuch "Das erste Jahr" als einer der "letzten, die den Kontakt zum Totenreich halten. [...] Wir übersetzen und übersetzen, was uns von dorther erreicht." Schön, dass wir dieser geistreichen Auseinandersetzung als "occupati" lauschen dürfen.

Titelbild

Durs Grünbein: An Seneca, Postskriptum. Seneca Die Kürze des Lebens.
Übersetzt aus dem Lateinischen von Gerhard Fink.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
120 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 351841609X

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