Exilliteratur während des Ersten Weltkriegs

Deutsche Schriftsteller in der Schweiz

Von K. FranzRSS-Newsfeed neuer Artikel von K. Franz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschsprachige Exilliteratur in der Zeit des Nationalsozialismus ist schon lange ein etablierter Forschungsgegenstand der Literaturgeschichtsschreibung. Eine kollektives Exil deutscher Autoren und deutscher Literatur gab es freilich schon vor 1933, nämlich in der Zeit des Ersten Weltkrieges. Auch wenn die Machtverhältnisse im Kaiserreich mit denen des NS-Regimes nur begrenzt vergleichbar sind, ist es legitim, den Begriff Exilliteratur auf die in den Jahren 1914 bis 1918 außerhalb Deutschlands entstandene Literatur zu übertragen.

Von diesem Exil zwanzig Jahre vor dem Exil während der NS-Zeit handelt eine literaturwissenschaftliche Dissertation von Ahmet Arslan. Die neutrale Schweiz wurde damals zum Zufluchtsort der im eigenen Land als "vaterlandslos" diffamierten Kriegsgegner und zum Zentrum einer internationalen Friedensbewegung. Hier durften die deutschen Expressionisten und ihre literarischen Zeitgenossen das veröffentlichen, was die Zensur in Deutschland verbot. In der Schweiz lebten während des Krieges, mehr oder weniger dauer- und sesshaft, unter anderen Hermann Hesse, Iwan Goll, Ernst Bloch, Leonhard Frank, Ferdinand Hardekopf, Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Emmy Hennings, Stefan Zweig, Annette Kolb, Ricarda Huch, Franz Werfel, Alfred Wolfenstein, Fritz von Unruh, Else Lasker-Schüler, Margarete Susmann, Otto Flake, Klabund, Hugo Kersten, Walter Serner. Vor allem über den französischen Pazifisten Romain Rolland knüpfte die oppositionelle deutsche Intelligenz hier internationale Kontakte. René Schickele übersiedelte 1915/16 mit der expressionistischen Zeitschrift "Die weißen Blätter" unter dem zunehmenden Druck der Zensur in die Schweiz. Das "Zeit-Echo", das nach Kriegsausbruch als "Kriegstagebuch der Künstler" (Untertitel des ersten Jahrgangs) essayistische, dichterische und graphische Stellungnahmen unterschiedlicher Richtungen veröffentlichte, erschien mit dem dritten Jahrgang (ab Mai 1917) unter dem neuen Herausgeber Ludwig Rubiner nicht mehr in München, sondern in Bern und erhielt dort ein neues, dezidiert pazifistisches Profil.

Die Literaturgeschichte dieses Exils wurde, soweit man sie überhaupt als solche wahrgenommen hat, bislang nur in Ansätzen geschrieben. Ahmet Arslan informiert über die Situation der Autoren im Wilhelminischen Deutschland nach Kriegsbeginn sowie über die politischen und rechtlichen Bedingungen des Exils in der Schweiz. Sie waren nach 1914 erheblich günstiger als nach 1933. Die Exilsituationen von vierzehn ausgewählten Autoren und Autorinnen wird beschrieben. Warum zum Beispiel Annette Kolb, aber nicht Hesse in einem eigenen Kapitel berücksichtigt ist, bleibt unklar. Ein abschließender Teil geht auf wichtige literarische Werke und publizistische Schriften einiger Exilanten ein: auf Leonhard Franks ungemein erfolgreichen Novellenband "Der Mensch ist gut", Annette Kolbs Artikelsammlung "Die Last" und René Schickeles politische Abhandlungen aus der Zeitschrift "Die weißen Blätter".

Im Zentrum der Arbeit steht der Versuch, Einblicke in die Lebensverhältnisse deutschsprachiger Exilautoren zu vermitteln. Auf der Basis von Recherchen in diversen Archiven vermag das Buch bereits Bekanntes mit bislang unbekannten Details zu ergänzen oder gelegentlich auch zu korrigieren. Noch unveröffentlichte Briefe und Tagebücher, Polizeiberichte, Ausländerverzeichnisse in Zürich und Bern ermöglichten zum Teil neue Einblicke in Wohnverhältnisse, politische und literarische Aktivitäten, persönliche Beziehungsgeflechte und in die wirtschaftliche Situation der Exilanten. Erheblich besser als zuvor ist man nach der Lektüre der Arbeit vor allem über die wechselnden Aufenthaltsorte der Autoren in der Schweiz informiert.

Bei aller Freiheit, die die Autoren in der Schweiz genießen konnten, hatten sie doch unter erheblichen physischen und psychischen Belastungen zu leiden. Hugo Ball lebte immer wieder am Rande des finanziellen Existenzminimums. Emmy Hennings sah sich zeitweilig dazu genötigt, ihren Lebensunterhalt durch Gelegenheitsprostitution zu bestreiten. Leonhard Frank, dessen Finanzlage ähnlich desolat war, erlitt nach sechs Monaten Arbeit in völliger Isolation im Oktober 1916 einen psychischen Zusammenbruch. Für die meisten waren gesundheitliche Gründe die Vorraussetzung, die Ausreisegenehmigung zu erhalten, sich dem Militärdienst in Deutschland entziehen zu können und sich in der Schweiz behandeln zu lassen.

Die Exilbiographien der berücksichtigten Autorinnen und Autoren werden nicht systematisch und konzentriert genug unter Gesichtspunkten untersucht, die für die Exilproblematik wichtig sind. Die plausible Unterscheidung von drei "Exiltypen" in der "Schlußbetrachtung" wäre ein Ansatz gewesen, die Ausführungen zu systematisieren. Stattdessen zerfällt die Arbeit in vierzehn sich tendenziell verselbständigende Einzelportraits, deren Informationsgehalt im Hinblick auf das Thema von sehr unterschiedlicher Qualität ist. An einer Stelle wird beiläufig von einem "Spionagevorwurf" berichtet, der gegen Werfel erhoben wurde und den Else Lasker-Schüler ebenfalls zu befürchten hatte, ohne weiter nachzufragen, ob hier ein typisches Problem vorlag. Immerhin erhielt Otto Flake, wie beiläufig erwähnt wird, seine Ausreisegenehmigung nur, weil er sich zu einer Spionagetätigkeit verpflichten ließ.

Den Ansprüchen an eine systematische und umfassende Gesamtdarstellung des "Exils vor dem Exil" genügt dieses Buch noch nicht, liefert für eine solche Darstellung jedoch mit vielen Detailinformationen eine wichtige Grundlage. Und dabei macht es erneut deutlich, dass die literarische Intelligenz dieser Zeit keineswegs derart kollektiv der Kriegsbegeisterung anheim fiel, wie dies manche Historiker des Ersten Weltkriegs heute immer noch glauben.

Titelbild

Ahmet Arslan: Das Exil vor dem Exil. Leben und Wirken deutscher Schriftsteller in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges.
Tectum Verlag, Marburg 2004.
250 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3828886590

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