Treitschke auf dem langen Weg nach Westen

Stefan Bergers "The Search for Normality"

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen ein neues deutsches Reich, einen souveränen deutschen Nationalstaat nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer", schrieb Heinrich August Winkler 1986 in einem Beitrag zum Historikerstreit. Nachdem jedoch Deutschland 1989/90 unerwartet seinen "langen Weg nach Westen" beendet hatte, sah die Welt plötzlich ganz anders aus. Nun vertrat der Historiker die Ansicht, Einheitsskeptiker wie Günther Grass und Oskar Lafontaine seien von einem "negativen Nationalismus" beseelt. Und wer wie Lafontaine der Meinung war, Deutschland solle, gerade auch wegen Auschwitz, eine Vorreiterrolle im europäischen Einigungsprozess übernehmen, den kanzelte Winkler mit dem griffigen Verdikt ab, dies entspreche der Logik "Prädestination durch Perversion" - und das Resultat sei ein neuer deutscher Sonderweg.

Nach der Wiedervereinigung erlebte das nationale Paradigma innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft insgesamt eine Renaissance: die (zumeist eher konservativen) Historiker, die das Ziel eines geeinten deutschen Nationalstaats nie aus den Augen verloren hatten, triumphierten und geißelten die postnationalen Illusionen ihrer Kollegen, während manch anderer (eher links-liberaler) Historiker sich von eben diesen Positionen verabschiedete und in zwei Bänden darlegte, warum alles so kommen musste, wie es schließlich 1989/90 kam.

Der an der University of Glamorgan Neuere Geschichte und Zeitgeschichte lehrende Stefan Berger steht diesem Engagement seiner Kollegen sehr kritisch gegenüber. Seiner Meinung nach sollen Historiker eher zur Dekonstruktion als zur Konstruktion der nationalen Identität beitragen. In seiner Studie "The Search for Normality", zuerst 1997 veröffentlicht und nun, mit einem neuen Vorwort versehen, als Taschenbuch erschienen, widmet sich Berger daher der Verbindung zwischen der Geschichtswissenschaft und der Erschaffung einer nationalen Identität. Es geht ihm also vor allem um die politische Rolle der Historiker und ihrer Werke; methodische Debatten treten demgegenüber in den Hintergrund. Die Studie gliedert sich in zwei Teile: zunächst skizziert Berger die nationale Tradition innerhalb der deutschen Geschichtsschreibung vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre, schildert den Wandel der deutschen Geschichtswissenschaft im Gefolge der "Fischer-Kontroverse" und beschreibt ihre Entwicklung von den 60er bis zu den 80er Jahren. Der zweite Teil der Studie widmet sich dann der "Suche nach Normalität" nach 1990. Hier skizziert Berger den Gang der Kaiserreich-, Nationalsozialismus-DDR- und BRD-Forschung seit der Wiedervereinigung, setzt sich mit dem "national revival" in der deutschen Geschichtswissenschaft auseinander und schildert schließlich die Reaktionen britischer und amerikanischer Historiker auf diesen Wandel innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft.

Besonders hervorzuheben ist im ersten Teil das Kapitel zur Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen den 60er und den 80er Jahren. Hier argumentiert Berger überzeugend, dass sich die Historische Sozialwissenschaft Bielefelder (oder anderer) Prägung trotz diesbezüglicher Klagen einiger Traditionalisten keineswegs zur unter deutschen Historikern herrschenden Schule entwickelt habe. Denn zum einen waren die Diplomatiehistoriker (Andreas Hillgruber und andere Vertreter einer "Modernen Politikgeschichte") sowie andere Historisten nach wie vor einflussreich, zum anderen sahen sich die Historischen Sozialwissenschaftler bald von der Alltagsgeschichte wegen ganz anderer Schwächen kritisiert. Die mit der Historischen Sozialwissenschaft oft verbundene Interpretation des deutschen "Sonderwegs" blieb nicht nur unter deutschen Historikern höchst umstritten, sie wurde auch bald von englischen Neo-Marxisten unter Beschuss genommen. Und schließlich war die - nicht im methodischen, sondern im politischen Sinn - postnationale Orientierung in der deutschen Geschichtswissenschaft immer eine Minderheitenposition. Somit kam es in jener Zeit nicht zur Ablösung eines Paradigmas durch das nächste, sondern vielmehr lediglich zu einer Pluralisierung der historischen "Zunft".

Eine Begleiterscheinung des "national revival" in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1989 war Berger zufolge die Entwicklung eines positiveren Bildes des Deutschen Kaiserreichs, dessen aggressive Außenpolitik Historiker wie Michael Stürmer auf die "Mittellage" des Bismarck' schen Nationalstaats (und nicht etwa auf imperialistische Neigungen der Eliten oder gar auf die krisenhafte innenpolitische Situation) zurückführten. Allerdings erlebten diese Konzepte schon Ende der 70er Jahre (z. B. bei David Calleo) und dann zu Beginn der 80er Jahre ein comeback; hier markierte nicht erst die Wiedervereinigung einen Wandel der Interpretationen.

In der NS-Forschung in den 90er nennt Berger unter anderem die Debatte um die angebliche Modernität des Nationalsozialismus und die etwa von Werner Maser wieder aufgewärmte Präventivkriegsthese als Hinweise auf eine insgesamt mehr apologetische Bewertung des Nationalsozialismus. Aber, wie Berger auch selbst einräumt, diese Positionen vertrat immer nur eine Minderheit innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft, und 2004 lässt sich noch deutlicher erkennen als 1997, dass eine "Historisierung" à la Rainer Zitelmann unter deutschen Historikern kaum Anhänger gefunden hat.

Überzeugend und präzise schildert Berger die politische Dimension der DDR-Forschung, wie sie sich etwa in der Diskussion um den Nutzen der Totalitarismus-Theorie manifestiert. Dieser nach der Wiedervereinigung so stark expandierende Forschungsbereich ist auch ein gutes Beispiel für die manchmal wenig subtile Indienstnahme historischer Forschung für parteipolitische Zwecke, wie die Querelen um das Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung beweisen.

Nach einem Kapitel zur BRD-Forschung (in dem der Autor die nach der Wiedervereinigung erfolgte Umdeutung wohl etwas überschätzt) und einer Zusammenfassung seiner Thesen zum "national revival" innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft widmet sich Berger abschließend den Reaktionen britischer und amerikanischer Historiker. Allerdings ist es fraglich, ob letztere nach wie vor zum Großteil den Thesen der deutschen "kritischen Geschichtsschreibung" anhängen - so war etwa die These eines deutschen Sonderwegs unter amerikanischen Historikern nie sonderlich populär, wenn diese auch den enormen Beitrag der "kritischen" Historiker zur Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft anerkannten.

"The Search for Normality" informiert nicht nur zuverlässig über wichtige Trends in der deutschen Geschichtswissenschaft seit der Wiedervereinigung, sondern verdeutlicht ebenso die politische Dimension der Neueren und der Zeitgeschichtsschreibung. Stefan Bergers Studie ist aber auch insofern ein politisches Buch, als der Autor keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, was für ihn die Aufgabe des Historikers ist: kritische anstatt bloß affirmativer Geschichtsschreibung - den Treitschkes unter seinen deutschen Kollegen steht Berger skeptisch gegenüber. Darüber kann man sicherlich geteilter Meinung sein, aber Berger verbirgt seine Erkenntnisinteressen zumindest nicht hinter der so oft reklamierten, angeblichen Objektivität des Historikers. "The Search for Normality" ist nicht nur ein informatives, sondern auch ein sehr ehrliches Buch.

Titelbild

Stefan Berger: The Search for Normality. National Identity and Historical Consciousness in Germany Since 1800.
Berghahn Books, New York 2003.
308 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 1571816208

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