Der Stoff, aus dem Romane sind

Martin Walsers "Augenblick der Liebe" und sein wissenschaftliches Vorspiel

Von Sandra PottRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Pott

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob "Der Lebenslauf der Liebe" (2001) oder "Tod eines Kritikers" (2002) - in wenigen deutschen Romanen vermutete man so viel Wirklichkeit wie in denjenigen Martin Walsers. Einmal erkannte sich eine verarmte Millionärsgattin in seinem Text wieder, ein ander Mal bezichtigte das Feuilleton den Autor des Antisemitismus. Und jenseits der Vorwürfe, der Entlarvungsgesten, ist Wirklichkeit für den Autor selbst Programm. Literatur erwachse aus Lebendigem, aus Menschen, aus Stoffen, erläuterte Walser in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" aus dem Jahr 2001. Wirklichkeit als Wurzel, aus der Text entsteht: ein ganz ursprünglicher Realismus.

In seinem neuen Roman "Der Augenblick der Liebe" legt Walser die Wurzel Wirklichkeit in so unüblicher wie offensichtlicher Weise bloß: Er gebraucht die Namen lebender Zeitgenossen, die Namen unbekannter Wissenschaftler und Hochschullehrer. Warum? Will er das heiße Eisen der Affäre um "Tod eines Kritikers" erneut schmieden oder einen akademischen Insider-Witz zu erzählen, auf eine geheime Wirklichkeit anspielen, die sich nur wenigen Experten erschließt?

"Der Augenblick der Liebe" erlaubt keine einfache Antwort. Es handelt sich um einen vielschichtigen Roman mit verwobenen Handlungssträngen: Im Zentrum steht die 'Endlife-crisis' des weit über sechzigjährigen Müßiggängers Gottlieb Zürn. Sie wird durch eine Liebesgeschichte ausgelöst, die sich zugleich als philosophischer Roman entpuppt. Er dreht sich um Julien Offray de La Mettrie. Das enfant terrible der französischen Aufklärung als Amor, dessen Pfeil ins Herz trifft: Vermittelt durch La Mettrie lernen sich Gottlieb Zürn und Beate J. Gutbrod kennen, und die mindestens vierzig Jahre jüngere Frau wird Gottliebs Geliebte. "Heiliger Julien Offray, steh uns bei", das ungleiche Paar ernennt La Mettrie zum Schutzheiligen seiner liaison dangereuse. Gemeinsam leben sie, was Gottlieb als La Mettries "Befreiungsevangelium" begreift.

Den Namen des philosophierenden Arztes aus St. Malo trägt es zu Recht. Dieser erscheint nämlich erfreulicherweise nicht als platter Materialist, sondern als sympathischer Anwalt der Natur, der Sinne und der Einbildungskraft, als Erfahrungstheoretiker, als sanftmütiger Atheist. Wie später Rousseau fasst er die Erziehung des Menschen als "Ausbildung zum Gefangenen" auf. Wer ihr zuwiderhandelt, den spricht La Mettrie von Schuld frei. Mit seinem Segen telefonieren Gottlieb und Beate, riskieren Beruf und Ehe, lieben einander - schuldlos im seligen Augenblick. Doch steigert sich ihr Frühlingserwachen zu quälender Gluthitze: Gottlieb stürzt "ikarushaft" ab.

Grund dafür ist eine Episode, die Merkmale von Universitätsroman und Campus novel trägt: Beate stellt sich Gottlieb als deutsche Doktorandin aus North Carolina vor. Sie will über "La Mettrie in Deutschland" promovieren, über die Anfeindungen des philosophischen Paria durch seine Zeitgenossen, über die späte Würdigung seines schmalen Oeuvres nicht zuletzt durch Gottlieb. Mit Beates Projekt geht ein Vorhaben ihres Doktorvaters einher: Zu La Mettries 250. Todestag lässt er sich einen Kongress schenken, im sonnigen März-Berkeley.

Dem ehemaligen Gastdozenten Walser ist nicht nur Berkeley aus der Wirklichkeit bekannt. Seine amerikanische La Mettrie-Tagung hat ein wissenschaftliches Vorbild: Am Forschungszentrum für Europäische Aufklärung fand im regnerischen November-Potsdam des Jahres 2001 ein akademisches Ereignis statt, das dem erfundenen Kongress mehr als nur ähnelt. "Timo Kaitaro, Helsinki, Mariana Saad, Paris, Eckhard Höfner, Frankfurt/Oder, Ursula Pia Jauch, Zürich ...", so heißt die wissenschaftliche Population, die beide Tagungen, die erfundene und die wirkliche bevölkert.

"Der Augenblick der Liebe" als reality fiction? David Lodges "Kleine Welt", Malcolm Bradburys "Geschichtsmensch", Dietrich Schwanitz' "Campus", Jörg Uwe Sauers "Uniklinik" - ungezählte Campusromane und selbst Walsers Universitätsroman "Brandung" (1985) kommen ohne referierende Eigennamen aus. "Solange [eine Person] in meinen Gedanken so heißt, wie sie wirklich heißt, ist sie noch nicht meine Figur", sagte Walser in der "Welt". Eine poetologisch oder ethisch motivierte Zurückhaltung, die er in seinem neuen Roman aufgibt. Hier erklärt Walser die angesprochenen Personen zu Figuren, zu einem Forscherkollektiv, das zu Gottliebs Ungunsten handelt, das ihn im wahrsten Sinne des Wortes zum Schweigen bringt. Der "ganz normale Menschenfängerinstinkt des Schriftstellers" hat Wissenschaftlerfleisch im Visier. Walser verwischt die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion tatsächlich.

Um einen Schlüsselroman über die La Mettrie-Forschung zu schreiben? Walser beobachtet die akademische La Mettrie-Welt genau. Offenkundig beruht "Der Augenblick der Liebe" auf einem eingehenden Studium der Texte La Mettries und ihrer Interpretationen. Das belegen nicht nur die sorgsam ausgewählten La Mettrie-Zitate, sondern auch die treffsicheren Einblicke in die Forschung. Beates Promotionsthema beispielsweise klingt wie ein Vortragsthema der Potsdamer Konferenz. Und die Probleme, mit denen sie sich auseinandersetzt, zählen zum Kernbestand der La Mettrie-Philologie: Daß etwa "L'Homme machine" nur schwer zu übersetzen ist, wissen wir seit Beginn entsprechender Bemühungen um eine deutsche Fassung.

Mit vergleichbarer Raffinesse spielt Walser auf Positionen der Sekundärliteratur an: Warum La Mettrie so lange missachtet wurde und "jetzt doch jedermanns (wenn auch noch nicht jeder Frau) Darling ist", fragt sich Beate. Es ist kein Zufall, dass die Namen von Bernd A. Laska und Ursula Pia Jauch in Walsers Roman je dreimal vorkommen. Beide begeistern sich energisch für den Außenseiter La Mettrie - in unterschiedlicher Absicht und mit verschiedenen Mitteln allerdings: Während Bernd A. Laska in La Mettrie den Anarchisten vor dem Anarchismus erblickt, interessiert sich Ursula Pia Jauch für die rhetorischen und publizistischen Strategien der Gegner La Mettries.

Der Augenblick der Liebe zielt auf genau jenen Konflikt, wie ihn emphatische La Mettrie-Deutungen immer wieder hervorrufen. La Mettrie steckt an, lädt zu existenziellen Äußerungen ein, und Gottlieb geht ihm in die Falle. Walsers La Mettrie-Forscher spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle: Sie widersprechen Gottliebs "Befreiungsevangelium" namentlich - als akademische Autoritäten, verpflichtet auf Wahrheit.

Dennoch handelt es sich bei Walsers Text nicht um einen Schlüsselroman über die La Mettrie-Gemeinde. Weder werden hier verborgene Wahrheiten entdeckt noch dubiose Machenschaften vorgeführt. Und mehr noch: Nimmt man Walsers Forderung nach einer aus der Wirklichkeit erwachsenden Literatur ernst, dann fragt sich, ob Walser die La Mettrie-Forschung richtig darstellt. Zwar würde sich das Rudel wissenschaftlicher Hyänen umgehend auf stimmschwache Hobbyphilosophen stürzen, die sich zu ihrem Gegenstand derart kritiklos und identifikatorisch verhielten wie Gottlieb. Aber selbst politisch korrekten Kollegen aus den USA erschiene es unmenschlich, ihm - wie in "Der Augenblick der Liebe" - vorzuwerfen, die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands mit La Mettries "Befreiungsevangelium" entschuldigen zu wollen.

Vielmehr könnten die La Mettrie-Experten der wirklichen Wirklichkeit an Gottliebs Visionen vermissen, was ihren Gegenstand vor allem auszeichnet: Polemik, Ironie und Witz. Gottliebs prophetische Absicht, seine eschatologische Sehnsucht nach dem Augenblick - all das erweist sich als unlamettristisch. Ein existenzieller Konflikt lässt sich mit La Mettrie nicht beschwören. Verschenkt Walser diese Pointe absichtlich - trotz der gründlichen Auseinandersetzung mit seinen philosophischen Inspirationsquellen? Seine Figur Gottlieb Zürn jedenfalls wirkt schief, und seine Gegner erscheinen als Geisterschatten einer verblassenden Vergangenheit.

Wer durch die Brille La Mettries und seiner Erforschung blickt, wird Walsers Roman umschreiben wollen: Gottliebs Augenblick der Liebe scheitert nicht an der politischen Häme des akademischen Publikums, sondern er geht so schnell vorüber, weil der Jünger La Mettries seinen maître de plaisir enthusiastisch ernst nimmt, weil er jene Techniken der humorvollen Selbstdistanzierung ignoriert, ohne die La Mettries Gedankenspiele selbst einem La Mettrie unmöglich gewesen wären. Walsers "Augenblick der Liebe" nimmt die lamettristische Wurzel Wirklichkeit in sein literarisches Herbarium auf, und das ist ein Verdienst an sich. Doch Berkeley, "Brandung" und La Mettrie enthalten mehr Saft als "Der Augenblick der Liebe" erahnen lässt; ein entschlossenes 'Back to the roots' sucht der Leser in Walsers neuem Roman vergeblich.

Titelbild

Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498073532

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