Tod zerwebt

Edlef Köppens Montageroman "Heeresbericht" - ein vergessenes Buch über den Ersten Weltkrieg

Von Andreas BaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Baumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während der zurückliegenden Fußballeuropameisterschaft wurde den Gründen für die verhaltene Spannung vieler Begegnungen und das nur mäßige Spiel einiger Mannschaften auch im Feuilleton nachgeforscht. Der "Welt" fiel dabei ein, Bier sei Bier und Schnaps sei Schnaps: "Fußball, in dem nicht die blutige europäische Geschichte mit Klassenkämpfen und vaterländischen Kriegen nachhallt, ihn mit Erinnerung und Bedeutung auflädt und dem Match eine kathartische Wirkung zu geben vermag, ist wie alkoholfreies Bier: gut gemeint und ungenießbar." Nicht nur denjenigen, die sich, neunzig Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs, kein Bild mehr machen können davon, wie das Anfang des 20. Jahrhunderts war mit Blut und Ehre im Austrag zwischen den Nationen, möchte man die Wiederauflage von Edlef Köppens "Heeresbericht" empfehlen.

Denn dieses Buch von 1930 ist, seiner polemischen Qualität unangemessen, kaum noch bekannt. Von den vielen Romanen zum Weltkrieg, die sich Ende der Zwanziger Jahre literarisch am Streit um Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" beteiligten, ist Köppens Buch bestimmt das formal avancierteste: Neben Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" gilt es als erster Montageroman deutscher Sprache. In der Sache erklärt es sich mit Nachdruck gegen den Krieg. Aber während der Pazifismus seinem kultur- und gesellschaftspolitischen Sinn nach Front machte gegen die Bedrohung der ersten deutschen Republik durch Militarismus und Restauration, gehörte umgekehrt, wer gegen die Restauration der Vorkriegsverhältnisse war, nicht notwendig zum republikanischen oder pazifistischen Lager. Der Nationalrevolutionär Ernst Jünger etwa sah in einem aufgrund der Weltkriegserfahrungen gestrafften Kriegsbetrieb das Vorbild eines erneuerten und technokratischen Gesellschaftsaufbaus.

Zweideutig erscheint auch Köppens Roman, bevor er sich zum Pazifismus bekennt: da, wo er nur darstellt und den Erlebnisbericht des Kanoniers Reisiger konfrontiert mit Fundstücken aus offizieller Berichterstattung, Tagespublizistik, Kaiserreden und diversen anderen Quellen der Desinformation; auch dies natürlich eine Variante des von rechts wie links im Weltkriegsroman aufgenommenen Topos der Entfremdung zwischen Frontsoldat und Kriegsgesellschaft. Als Freiwilliger ins Feld gezogen, kommen jenem Reisiger die Zweifel an Sinn und Zweck des militärischen Unternehmens, weil er in der unaufhörlichen Materialschlacht sieht, dass der Krieg zur Maschine wird, aber die Maschine schon nicht mehr richtig läuft und erst recht nicht so, wie es Freund und Feind von der Propaganda weisgemacht wird. Trotzdem geht er äußerlich ganz und gar in diesem Betrieb auf. Vielleicht gerade deshalb zeigen sich ihm die Zustände in der Heimat während eines Fronturlaubs wie durch einen defekten Filmapparat hindurch wahrgenommen. Von scheinbar unkontrollierten Schnitten rhythmisiert ist, wie auch die Montage des Erzählten und des Gefundenen, das, was der unwirkliche Apparat abbildet; genau an dieser Stelle begründet der Roman seine Kriegswahrnehmung. Diese Texturierung, dieser Wiedereintritt des Ästhetischen an dieser Stelle ist bestimmt ein äußerst gelungener Streich in der Komposition des Romans und zeigt zugleich exemplarisch, wie exakt Köppen seine Montage gearbeitet hat und wie sehr er um ihre Begründung im Einzelnen bemüht war.

Zu Beginn zersplittert der Roman das Sehen des einfach nicht Fassbaren, des Krieges, durch die Montage in eine Vielfalt von Ansichten, die sich wechselseitig bestreiten. Am Ende bestreitet der Soldat dem Krieg überhaupt jeden Sinn. Der Grund ist einfach: Es ist die sichere Niederlage, durch die sich das fortgesetzte industrialisierte Abschlachten nicht mehr rechtfertigen lässt. Das ist immerhin Grund genug gegen den laufenden Krieg, zu wenig aber gegen seine Möglichkeit. Mit seinem ins Irrenhaus gesperrten Helden verweigert sich Köppen nun der weiteren Beteiligung am Krieg, aber womöglich nicht nur dieser. Der Krieg sei "das größte Verbrechen", so heißt es zum Schluss. Mit dieser Anrufung des Rechts übergibt der Soldat das eigene Urteil einer höheren Gewalt; inwieweit aber Sinnloses Gegenstand rechtlichen Urteilens werden kann, bleibe hier offen. Eigenes Engagement jedenfalls muss mindestens bis zur Entscheidung warten. Das Bekenntnis des Buches zum Pazifismus klingt nun, bei aller Wut der Rhetorik, so förmlich wie ein amtlicher Bescheid gegenüber den "Sachen selbst". Aber durch die Montage hatten diese vermeintlich rohen Fakten bereits einen Sinn gewonnen, sie belegen die Verkommenheit der durchmilitarisierten wilhelminischen Kultur, insofern sie mit ihrer Stumpfsinnigkeit und organisatorischen Unbeholfenheit den Weg zum sicheren Untergang bereitet. Das Ordnungsverlangen, das sich hiergegen im Roman meldet, fühlt sich wohl eher einem durch und durch zweckrational geregelten Betrieb verbunden. Zumindest sollte eine solche Organisationsidee jedoch hinreichend unterschieden werden können von jener Art im Grunde, wenn man so sagen darf, chaotischer Formation, die zu ihrer höchsten Wirksamkeit den integrierenden Führer, das in "Stahlgewittern" an der Front gewachsene "eiserne, rücksichtslose Geschlecht" herbeirufen mußte. Köppens Held wird an diesem Charakter nämlich irre.

Dennoch konfrontiert "Heeresbericht", wie allerdings die meisten Kriegsromane, egal ob sie sich affirmativ oder kritisch verstehen, den Leser in einem nahezu pornographischen Entwicklungsrhythmus mit "Stellen" immer drastischer werdender Darstellung und Ausstellung von spektakulären Körperzuständen, hier der Inszenierung von Tod, Verstümmelung und Wahnsinn im totalen Kriegstheater des Stellungskrieges. Sie vermag entsprechend veranlagte Gemüter gewiss jederzeit affektiv mobil zu machen, die feineren von ihnen aber auch im Glauben an Unmögliches wie "tragische Pflichterfüllung" stärken. Teilweise wird das grausige Geschehen von Köppen geradezu dramatisch stilisiert. Aber "Heeresbericht" ist nicht nur ein Roman über den Krieg, sondern auch über dessen Darstellung: Solche Stilisierungen verhalten in zunehmend sarkastischem Ton und vom Pathos bleibt womöglich nur die Meldung seiner Anwesenheit. In ihrer Knappheit klingt die zertrümmert wirkende Sprache wie wieder eingesammelt, aber noch nicht wiedergewonnen. Als hätte es der Erfahrung die Rede verschlagen, dokumentiert sie das Geschehen mit dem Gestus: "Seht her, es spottet jeder Beschreibung!" So drängt es den ernüchterten Expressionisten Köppen über die ohnmächtig gewordene Sprache hinaus zur Montage.

Dass Köppen - von 1929 bis 1933 Redakteur der Berliner "Funk-Stunde" - selbst ein Gefühl für die Zweideutigkeit von Kriegsliteratur hatte, zeigte er wenig später mit seiner Radiocollage "Wir standen vor Verdun", in die er Bruchstücke kriegsbejahender Texte von Schauwecker, Beumelburg und Jünger einfügte, um sie dadurch einen entgegengesetzten Sinn offenbaren zu lassen. Schon die in "Heeresbericht" zur Wirkung kommenden Produktionsverfahren von Sprachgestaltung und Montage entstammen zweifellos den Köppen auch beruflich vertrauten, seinerzeit modernsten Massenmedien Radio und Film. Nachdem seine pazifistischen Sendungen zur Entlassung aus dem Radiodienst zugunsten Arnold Bronnens, seines Nachfolgers im Amt, geführt hatten, arbeitete Köppen, bis zu seinem Tod an den Spätfolgen einer Kriegsverletzung im Jahre 1939, als Chefdramaturg der Tobis, der größten deutschen Filmgesellschaft der Dreißiger Jahre neben der Ufa. Die Mitarbeit des Nichtparteimitglieds Köppen bei der seit 1937 dem Propagandaministerium unterstellten Tobis, wo er sich nach allem, was bekannt ist, gegen die Aufnahme antisemitischer und offen propagandistischer Filme in das Programm zur Wehr setzte, nimmt sich ähnlich ambivalent aus wie sein 1933 verbotener Kriegsroman, schwierig auch wie die literarische Neue Sachlichkeit überhaupt, zu deren Werken "Heeresbericht" gemeinhin gezählt wird.

Max Horkheimers 1934 im Schweizer Exil geäußerte Kritik an der Manier der Neuen Sachlichkeit, das Grauenhafte und Skandalöse kommentarlos auszustellen im Vertrauen auf die Aussagekraft der bloßen Fakten, lediglich zu appellieren an eine humanistische Moral, während das aufziehende Regime sich gar nicht mehr darum kümmert, die Brutalität seiner Geschäfte noch moralisch zu verklären, traf die kulturpolitische Wirklichkeit von Köppens Roman. Sie bezeichnet auch eine Schwäche der Montageform. Umgekehrt ist jedoch, subtrahiert man die pazifistische Sinngebung des Romans, auch der Versuch zu würdigen, durch die Montage, durch die aktive Zerrüttung des erzählerischen Bewusstseins, ein Abbild der Zerrüttung der militärischen Organisation, an der Front und in der Heimat, der Zerrüttung ihrer Moral und ihres Selbstbewusstseins zu geben. Diese Zerrüttung greift jeden Boden an, die Möglichkeit noch des mythischen. Köppens Schilderung einer gespenstischen Begehung des Schlachtfelds nach einem lange und minutiös vorbereiteten Generalangriff war für Kurt Tucholsky "große Dichtung". Kaum ließe sie sich hingegen erhaben nennen, obwohl das Dargestellte mit der Vernunft nicht mehr zu erfassen ist, denn hier führt der Weg nicht mehr durch eine irdische Landschaft in der Mitte Europas, sondern über die Oberfläche eines fremden Planeten, und nur die Rechte konnte dieses Gebiet zum Zeichen und Schauplatz sittlichen Heldentums entpolitisieren.

Es ist ein Bild des Ausnahmezustands und seiner Wirklichkeit, der scheinbar nur vorläufigen Außerkraftsetzung des Sinns. Der noch aus dem Expressionismus her klingende Ruf von Köppens Soldaten nach der Rettung des Menschen durch das gerechte Recht kommt in einer neuen Welt an, in der das Recht sich zum Sicherungsverfahren des Ausnahmezustands wandelt, der die Nationen bedroht und vereint. Für die deutsche Republik war die Unterzeichnung des Briand-Kellogg-Paktes von 1928, der die bis heute gültige völkerrechtliche Außerrechtsetzung des Angriffskriegs ausdrückte und ihn als internationales Verbrechen bezeichnete, neben der Völkerbundaufnahme eine außenpolitische Wegmarke ihrer kurzzeitigen Stabilisierungsphase während der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre. Auch lieferte der Vertragsabschluss der Deutung des zurückliegenden Weltkriegs einen erheblichen neuen Streitpunkt und war so, zehn Jahre nach dem Waffenstillstand, gewiss mitverantwortlich für die Konjunktur des Weltkriegsromans. Natürlich fällt hier zudem ein Licht auf die inkriminierende Erklärung von Köppen Beitrag dazu, fast als hätte sie für dessen Zweideutigkeiten eine ähnliche Funktion wie der Friedenspakt für das zerbrechliche Gefüge der Nachkriegsweltordnung.

Der Schwierigkeiten eingedenk, die Köppens Montageroman "Heeresbericht" aufwirft, umgekehrt aber auch eben wegen seines dadurch bemessenen Streitwerts, kann sich heute die Aufmerksamkeit diesem, wie G. Hermann in einer zeitgenössischen Rezension formulierte, "unvergeßlichen Wechselgesang des Grausigen und des Blöden" weniger wie einem Abbild, denn wie einer noch offenen symptomatischen Durcharbeitung des Ersten Weltkriegs zuwenden. Gegenüber Karl Krauss und seinem Lesedrama "Die letzten Tage der Menschheit", jener anderen Montage und Polemik gegen das Kriegsfeuilleton von 1919, überwiegt bei Köppen allerdings die Beschwörung des Grausigen. Aber für die Blödheiten sorgt das Feuilleton, immer wo das Nationale in den Vordergrund kommt, schließlich bis heute unentwegt schon selbst. Was Köppens Roman dergleichen entgegenhält, seine letzten Worte, kann hier niemals vollkommen falsch sein, es sind die unsterblichen des Götz.

Titelbild

Edlef Köppen: Heeresbericht.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004.
400 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 342105777X

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