Barbarisierung des Krieges

Der britische Kriegshistoriker Hew Strachan schildert den Ersten Weltkrieg auch jenseits der eurozentrischen Perspektive

Von Manu SlutzkyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manu Slutzky

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Im Mai 1917 wurde vor Irlands Küste die "Lusitania" versenkt, ein britisches Passagierschiff, das neben 1.200 Fahrgästen und 130 Besatzungsmitgliedern auch Munition an Bord hatte. Zu den Opfern zählten 128 US-Amerikaner, und als Colonel Edward House, ein Bevollmächtigter Präsident Wilsons in London, von der Tragödie erfuhr, telegrafierte er sofort an seinen obersten Dienstherrn, dieser möge öffentlich erklären, dass Amerika nun "am Scheidewege" stehe und sich entschließen müsse, ob es "für zivilisierte oder unzivilisierte Kriegsführung eintreten" wolle.

In den vergangenen Wochen ist oft die Situation beschrieben worden, in der George W. Bush die Nachricht vom Attantat auf die Twin Towers erfuhr. Michael Moore zelebriert genüsslich diese Szene der Ratlosigkeit in seinem Film "Fahrenheit 9/11", und nicht wenige Betrachter wünschten sich, Bush hätte - ähnlich wie damals Wilson - jemanden als Berater zur Seite gehabt, der wie Edward House an den Idealismus des Präsidenten appelliert hätte. Vielleicht wäre dann in den zurückliegenden drei Jahres Vieles anders gekommen, doch Fehlanzeige: Während die Regierung Wilson tatsächlich an die Überzeugungskraft demokratischer Werte und Tugenden glaubte und ein Werteprogramm in Politik umzumünzen suchte - wenn auch mit beschränkt tauglichen Mitteln, wie schon der Kriegseintritt der USA zeigen sollte - und auch noch nach der Versenkung der "Lusitania" daran festhielt, bewies Bush jeden Tag aufs neue, was er von Rechtstaatlichkeit hielt. Die mittelalterlichen Methoden, mit denen Amerika die Gefangenen von Guantanamo behandelt, beweisen zur Genüge, dass ihm idealistische Werte nur Lippenbekenntnisse sind, die seiner ruchlosen Machtpolitik die notwendige Unterstützung des Wahlvolkes sichern helfen sollen.

Der Begriff "Weltkrieg", ursprünglich von "Weltpolitik" abgeleitet, ist geprägt worden, bevor ihm zwischen 1914 und 1918 eine Wirklichkeit im Wortsinne entsprach. Aber schon vor dem Kriegseintritt der USA und ihrer Verbündeten im April 1917 waren, fast überall auf der Welt, Koalitionen entstanden und Bündnisse geschmiedet worden, die immer mehr Ländern einen Krieg aufnötigten, dessen Ursachen und Ziele ihnen eigentlich kaum Vorteil bringen konnten. Es ist das Verdienst des britischen Historikers Hew Strachan mit Lehrstuhl in Oxford, den eurozentrischen Blick unserer Geschichtsschreibung relativiert und gezeigt zu haben, dass sich damals tatsächlich die ganze Welt im Krieg befand.

Im November 1914 beispielsweise rief Scheich ul-Islam von Konstantinopel den Dschihad gegen England, Frankreich, Russland, Serbien und Montenegro aus. Doch was konnte das Osmanische Reich veranlasst haben, sich den Mittelmächten anzuschließen und der Entente einen islamischen Krieg zu liefern? Wie Strachan ausführt, lebten damals von den weltweit 270 Millionen Muslimen nur etwa 30 Millionen unter muslimischer Herrschaft; fast 100 Millionen lebten im Einfluss des Commonwealth oder waren britische Untertanen, 20 Millionen Muslime, vor allem in Nord- und Äquatorialafrika, mussten Frankreich zugerechnet werden, weitere 20 Millionen lebten als russische Staatsangehörige im vorderasiatischen Raum. Ihnen allen drohte Scheich ul-Islam, sie würden "in der Hölle schmoren", wenn sie seinen Aufruf zum Dschihad missachteten.

Dieser Aufruf, der einen Flächenbrand von der Krim bis nach Indien, von Afghanistan und dem Iran bis nach China hätte entfachen können, hatte glücklicherweise kaum Resonanz. Aber er zeigt doch, dass der Militärkult Kaiser Wilhelms II. auch im Orient großen Widerhall fand: "Man nannte ihn dort 'Hadschi' Wilhelm, was bedeutete, dass man in ihm einen 'heiligen Mann' sah, der nach Mekka gepilgert war." Und eines seiner Kriegsziele - das "verlogene, gewissenlose Krämervolk" der Engländer solle "wenigstens Indien verlieren" - fand auch im Osmanischen Reich Zustimmung. Mit seiner gewaltigen geographischen Ausdehnung - vom Kaukasus im Norden bis zum Persischen Golf im Süden, von Nordafrika im Westen bis zum Irak im Osten - musste das einst mächtige multinationale Reich versuchen, seine Brückenköpfe in Europa (Mazedonien) und Afrika (Libyen) sowie seine Besitzungen im Osten und Südosten zu sichern, um dem weiteren Zerfall entgegenzusteuern.

Französisch-Sudan, Französisch-Indochina - Soldaten aus Zentralafrika oder Arbeitsbataillone aus Südost-Asien verstärkten das Aufgebot der Großmacht Frankreich. Die Grande Nation rekrutierte über 600.000 Mann in ihren Kolonien, die Mehrheit in Nord- und Westafrika. Ein Teil davon kämpfte sogar auf den Schlachtfeldern Europas, ein Umstand, gegen den die Deutschen heftig protestierten, weil sie darin eine "Barbarisierung des Krieges" sahen. Die Kampfkraft dieser oft in den Krieg gepressten Söldner war jedoch oft nicht so hoch wie erhofft, da die Askari oder Senegalesen keinen Idealismus für die Staaten, auf deren Seite sie kämpften, aufbringen konnten. "Sie sagten, wir müssten jetzt Soldaten werden", berichtet Kazibule Dabi, ein afrikanischer Söldner, der in britische Gefangenschaft geriet:

"Wir fragten, was sie uns dafür bezahlen. Sie antworteten, 1 Pfund, 1 Schilling und 4 Pennies [im Monat]. Wir sagten, dass wir nicht einverstanden seien. Wenn wir für die Deutschen kämpften, würden wir 3 Pfund, 10 Schilling erhalten. Wir lehnten ab, und es gab ein großes Palaver. Als wir sahen, dass wir nicht einlenken wollten, gaben sie uns nichts mehr zu essen. [...] Schließlich machten wir mit."

Den Industriestaaten brachte der Krieg neben Inflation, Korruption und sozialer Verelendung (vor allem in der unteren Mittelschicht) auch Vollbeschäftigung. In Waffenschmieden wie Henri Farman (Frankreich), Hogstaede (Belgien) und Vickers (England) arbeiteten Männer, Frauen und halbe Kinder im Schichtbetrieb, und als der Krieg zu Ende ging, fürchteten viele um ihren Arbeitsplatz - ihre Jugend hatten sie schon verloren. Und auch die Sargtischler hatten gut zu tun: Im Mai 1915 kam im irischen Queenstown alles zum Erliegen, als die 130 Mann Besatzung der soeben gesunkenen "Lusitania" in einem Massengrab beigesetzt werden mussten.

Hew Strachans lesenswerte Darstellung steht in der Tradition angelsächsischer Geschichtserzählungen, ist solide gearbeitet und reich illustriert. Sie demonstriert, wie es Deutschland gelang, den Kriegseinsatz auf Kosten seiner Verbündeten zu erhöhen und wie die Mittelmächte die ebenso illegalen wie dilettantischen politischen Händel ihrer Administrationen zu kaschieren und als überlebensnotwendige Politik zu verkaufen wussten.

Titelbild

Hew Strachan: Der Erste Weltkrieg. Eine neue illustrierte Geschichte.
C. Bertelsmann Verlag, München 2004.
448 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3570007774

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