Missbrauch und Geschwisterliebe

Dagmar von Hoffs Studie über Inzest in Literatur und Film der Gegenwart

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inzest rührt in seiner "spezifischen Kopplung" von Liebe, Begehren, Verbot und Überschreitung an "fundamentale Probleme der subjektiven, kulturellen und gesellschaftlichen Existenz", so lautet die Ausgangsthese einer unter dem Titel "Familiengeheimnisse" erschienenen Studie Dagmar von Hoffs. Dies gelte auch für ihre literarischen oder cineastischen Verarbeitungen, die versuchen, die in der Inzestthematik zum Ausdruck kommende "nicht auflösbare Grundspannung des menschlichen Lebensvollzugs" in "mehrdeutigen Denkbildern" zur poetischen Darstellung zu bringen. Von Hoff befasst sich mit literarischen Texten und fiktionalen Filmen, welche die "spezifische Aura" der Thematik verhandeln, die - so die zentrale These der Autorin - sowohl eine "grausame Handlung" als auch einen "Liebesrausch" beschreibe, Ausdruck für Destruktion und für Schöpfung und somit nicht nur ein Zeichen für Dekadenz sondern ebenso wohl für Utopie sei. Diese in der Forschungsliteratur bislang vernachlässigte "Pluralität" als erste herausgearbeitet zu haben, nimmt die Autorin für sich in Anspruch. An den vorliegenden literaturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Inzestthematik moniert die Autorin zudem eine zu starke inhaltliche Orientierung bei weitgehender Absenz ästhetischer Fragestellungen. Daher will sie selbst den Inzest nicht so sehr als Motiv, sondern vielmehr "im Sinne einer diskursbildenden Kraft" untersuchen.

Von Hoffs literarisches Quellenmaterial - das bis zu Hesiods "Theogonie" (Wende vom 8. zum 7. Jahrhundert v. Chr.) zurückreicht - umfasst im Wesentlichen Werke kanonisierter AutorInnen des gesamten 20. Jahrhunderts, aber auch wenig bekannte Texte aus dessen letzten beiden Jahrzehnten sowie aus der Zeit der Weimarer Republik, so etwa Hermann Ungars Roman "Die Verstümmelten" (1923). Damit kommt ein umfangreicher Fundus literarischer Werke zusammen, an dem die Autorin zwei gegenläufige erzählerischer "Bewegungen" ausmacht, deren eine den Inzest mythisiert und sein Geheimnis verschleiert, während der andere gerade die "Entschlüsselung des Geheimnisses" betreibt, und den sie sowohl unter mythischer als auch unter ethischer Perspektive beleuchtet. Zu den herangezogenen cineastischen Narrationen zählen etwa John Newlands "My Lover, my Son" (1969), David Lynchs "Twin Peaks" (1992) und Michael Hanekes Literaturverfilmung "Die Klavierspielerin" (2001).

Wie von Hoff unter anderem anhand der Bezugnahmen von Ingeborg Bachmanns "Franza"-Fragment (1978) auf Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" (1930-1952) zeigt, wurde nach dem zweiten Weltkrieg in der deutschsprachige Literatur anders als in anderen Literaturen die Literarisierung der Inzestthematik nicht nur durch die Erfahrung des Antisemitismus und des Nationalsozialismus geprägt, sondern blieb auch dem Inzest-Diskurs um 1900 verbunden. Knüpfte die deutschsprachige Literatur an "Konstellationen" der literarischen Moderne an, so stellte sie gleichzeitig die Verbindung von 'Rassen'-Diskurs, Geniekult und Inzestthematik zur Disposition, wobei vor 1945 völkisch und nationalsozialistisch inspirierte Inzest-Erzählungen die damalige doppelte Denotation des Begriffs "Blutschande", der Inzest und 'Rassenschande' bezeichnete, zur antisemitischen Hetze nutzten.

Sind die von der Autorin beleuchteten intertextuellen Bezüge zwischen Bachmann und Musil schon des öfteren unter die Lupe genommen worden, so überrascht sie mit dem Hinweis, dass Bachmanns Text auch auf William Faulkners Roman "The Sound and the Fury" (1929) rekurriert, der ebenfalls geschwisterlichen Inzest literarisiert. Mehr noch als für Bachmann oder etwa Thomas Bernhard und Peter Weiss interessiert sich von Hoff für Max Frisch, dessen "Homo Faber" (1957) sie sich besonders ausführlich widmet. Nach den 50er und 60er Jahren macht von Hoff ein erneutes Interesse für die Thematik in Literatur und Film des ausgehenden 20. Jahrhunderts aus. Habe der literarische Inzestdiskurs um 1900 - damals ein "Lieblingsmotiv der Epoche" - als Topos vor allem das inzestuöse Geschwisterverhältnis bevorzugt, so habe die Rückkehr der Inzestthematik in den 80er in 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter den "Ettikett[en]" des sexuellen Missbrauchs und des victim talks gestanden.

So gründlich von Hoffs Untersuchung des Quellenmaterials auch ausfällt, so lebt ihre zentrale These von der "Pluralität" der Inzestthematik doch von der gängigen Subsumtion sowohl der Geschwisterliebe als auch des elterlichen Missbrauchs unter den Oberbegriff des Inzests. Diese aber ist womöglich ebenso fragwürdig wie die Subalternation des Inzests und der 'Rassenschande' unter den beide vermeintlich einenden Begriff der Blutschande.

Titelbild

Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart.
Herausgeben von Inge Stephan und Sigrid Weigel.
Böhlau Verlag, Köln 2003.
444 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3412098035

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