Historische Übergangsgesellschaft

Volker Brauns Band "Das unbesetzte Gebiet"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Laienspiel, das die Amis grinsend, der Iwan verblüfft verfolgte, bevor das agitatorische Stück abgesetzt wurde", so bezeichnet Volker Braun den 42 Tage währenden politischen Schwebezustand, in dem sich die Region um Schwarzenberg am Ende des Zweiten Weltkriegs befand. Stefan Heym hat über die von den Alliierten vergessene Region am Rande des Erzgebirges bereits 1984 einen opulenten Roman veröffentlicht. Volker Braun, Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2000, nähert sich dem Thema jedoch auf pointiertere Art. Viele Figuren und deren Schicksale in der "Übergangsgesellschaft" (die Anleihe an Brauns 1988 erschienenes Theaterstück sei erlaubt) werden nur kurz beleuchtet, Leidenswege sukzessiv wie Zahlenketten addiert. So entstehen (ohne jeden verbalen Zierrat) präzise Texte, die in ihrer Lakonie auch das Übergangsstadium der Gesellschaft widerspiegeln, von denen sie erzählen.

Es ist eine Periode zwischen Hoffen und Bangen, zwischen dem Ende des schrecklichen Krieges und der Ungewissheit über das Bevorstehende. In und um Schwarzenberg etabliert sich so etwas wie eine Volksdemokratie, basierend auf einem Häuflein wackerer Antifaschisten, die sich beherzt dem Kampf gegen die Ewiggestrigen unter den Einheimischen stellen, denn es gab reichlich Personen, wie den kleingeistigen Beamten namens Gärtner, "der wollte erst seine Pensionsansprüche geregelt wissen".

Ob der 65-jährige Volker Braun von den heimkehrenden Überlebenden aus den Konzentrationslagern, von den vorsichtigen Berührungen mit den amerikanischen und den russischen Besatzern in der Nachbarschaft oder von den heftigen Diskussionen der selbst ernannten Übergangsregierenden berichtet: Es ist stets ein assoziatives, philosophisch untermauertes Erzählen. Jeder Untergang, jedes Unglück - so suggeriert Braun - impliziert auch die Möglichkeit einer Zäsur, eines grundlegenden Neuanfangs.

Vor allem im zweiten Teil des Bandes, der aus kurzen Prosafragmenten besteht, die an Brechts Keuner-Geschichten und Julio Cortázars Prosa "Ein gewisser Lukas" erinnern, zieht Volker Braun alle Register seines Könnens und schafft durch Allegorien den Brückenschlag aus der Historie in die Gegenwart. Die Beschreibung eines Bergbauunglücks aus dem 16. Jahrhundert mündet in den Satz: "Es kann auch eine Gesellschaft verunglücken und verschüttet werden." Der Herbst 1989 lässt grüßen, ohne dass Braun jedoch ostalgische Töne anschlägt.

Das Modell Schwarzenberg hat Braun fasziniert, weil es die plötzliche, wenn auch zeitlich begrenzte Chance bot, durch eine basisgesteuerte Eigendynamik ein gesellschaftliches System "auszuprobieren". "Die bewegliche Gesellschaft, die fähig wäre, sich zu besinnen und sich aus sich selbst zu reißen" ist die Wunschvorstellung des Autors, eine Art Utopie im Blochschen Sinne.

Ein Buch gegen den Trend der leicht verdaulichen Mainstreamliteratur, ein anspruchsvolles, hintersinniges Kompendium für alle Querdenker, die mit Volker Braun die Einschätzung teilen, "daß auch ich mich in einem besonderen Gebiet befinde, das zu niemand gehört."

Titelbild

Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
131 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518416340

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