Wie der Mond verschwand und die Romantik mitnahm

Mahesh Motiramani erzählt 35 ungewöhnliche Geschichten von einer verkehrten Welt

Von Annina MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Annina Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"In einer wunderschönen Mondnacht ertönte plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen, und der Mond war nicht mehr da! Wie das passieren konnte, ist unbegreiflich. Laut Augenzeugenberichten erschien am Himmel ein gigantischer Golfschläger und schlug den Mond wie einen Ball in den unendlichen Kosmos hinaus. Seitdem gibt es keine Romantik mehr, und die Menschen leben in ständiger Angst, es könne ihre Erde ein ähnliches Schicksal treffen."

Ist diese Idee nicht irgendwie zauberhaft? Und müssen Sie nicht zugeben, dass Sie wahrscheinlich selber noch nie auf so einen Gedanken gekommen sind? Oder Ihr Partner? Oder Ihr Nachbar? Auf solche Gedanken stößt man nicht gerade häufig, aber dem in Bombay geborenen Autor Mahesh Motiramani mangelt es nicht an Fantasie. Für sein Buch "Seelenflucht" hat er 35 Kurzgeschichten zusammengetragen, die alle von ähnlich geistreicher Qualität sind.

Obwohl alle verschieden sind und nicht aufeinander aufbauen, haben sie doch zwei Sachen gemeinsam: ihre Originalität und Ungewöhnlichkeit. Sie erzählen vom "schrecklichen Gedanken", der die Menschen unerwartet befällt und ihnen befiehlt auszuflippen. Oder von Professor Lochwitz, der sich von seinen Studenten kräftig in den Hintern treten lässt, damit sein verloren gegangenes Wissen wieder in seinen Kopf zurückkehrt. Oder von einem Krebskranken, der die Tage zählt, bis er endlich stirbt und durch seine Vorfreude auf den Tod geheilt wird.

Das Buch wimmelt von Fantasie und Skurrilität, die einen die Welt aus einer verdrehten Perspektive erleben lassen. "Putz dir die Zähne mit dem Fuß. Betrachte die Welt aus dem Kopfstand. Schwimm rückwärts, die Füße voran, schlaf im Stehen!" Mit diesen Worten fordert in einer Geschichte der Buddha eine junge Frau auf, ihre alten Muster aufzugeben. Sie stellt sich stur, weiß nicht, was er von ihr will, bis sie dem dicken Mann schließlich in den Zeh beißt. - "In der nächsten Sekunde war sie am Ziel ihrer Wünsche."

Die Geschichten sind schwerelos und gleichzeitig tiefsinnig, intelligent geschrieben, und der letzte Satz beinhaltet oft eine Art Lehre oder Moral. Zwischen den Zeilen behandeln sie die Problematik des Alterns, die Vergänglichkeit und den Sinn des Lebens. In vielen Kapiteln wird deutlich, dass man an sich glauben muss - und nicht erst auf einen bestimmten Tag oder auf eine Situation warten soll. Wie der Postbeamte, dem eine Frau sein Kosmogramm erstellt und er dadurch erfährt, dass er äußerst begabt ist und große Taten vollbringen kann. Der Mann, sich seines Berufes schämend, ändert durch diese Offenbarung zwar nichts in seinem Alltag, lebt jedoch mit dem Bewusstsein weiter, etwas Besonderes zu sein. Am Ende findet er sich jedoch damit ab, dass seine Begabung darin besteht, an seiner Bestimmung vorbeizuleben.

Dies ist nicht das einzige Kapitel, das irgendwie traurig und melancholisch endet. Viele Geschichten verbreiten eine eigenartige und schwermütige Atmosphäre.

Im Sammelsurium der Fantasiegedanken finden sich auch einige Kapitel, die so abgehoben und bizarr sind, dass sie gar dadaistisch anmuten. Wie die Geschichte über "Allerlei Figuren", in der sich Quadrate im Café treffen, Zigaretten rauchen und über Rechtecke lästern - letztere hätten doch keinen Sinn für Maß. In dem Kapitel "Hochzeitsnacht" artet die Handlung so aus, dass man sich als Leser fragt, was das nun zu bedeuten hat. Da sitzt Alexander auf dem Boden, schraubt sich ein Gliedmaß nach dem anderen ab, bis aus der Öffnung seines Rumpfes ein kleines, zitterndes Licht herausschwebt. Soll das nun eine Geschichte aus dem Horrorgenre sein? Der plötzliche Schluss macht den Leser auch nicht viel schlauer, und die Vermutung kommt auf, dass selbst Motiramani nicht wusste, was er nun mit der Geschichte anfange sollte - und sie deshalb mit keinem vernünftigen Ende ausstattete.

Trotz dieser wenigen "Ausrutscher" sind die Geschichten lohnend. Durch ihre Kürze sind sie zu jeder Tages- und Nachtzeit rezipierbar. Der Leser taucht in ein unirdisches, traumgleiches Wunderland ein, das die Fantasie beflügelt und ihn zu neuen Ideen anregt.

Der Autor, der als Zehnjähriger in den 60er Jahren nach Deutschland kam, begann nach dem Studium, inspiriert von russischen Autoren wie Tolstoj und Gogol, mit dem Schreiben. Die Kurzgeschichte ist sein "Spezialgebiet" und obwohl er vor "Seelenflucht" auch bereits andere, kleinere Sachen publizierte, bezeichnet er das Buch als seine erste wichtige Veröffentlichung.

Titelbild

Mahesh Motiramani: Seelenflucht. Kurzprosa.
Lyrikedition 2000, München 2003.
104 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3865200079

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