Cyberpunk war gestern

William Gibson kommt mit seinem neuen Roman "Mustererkennung" in der Gegenwart an

Von Micha WischniewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Micha Wischniewski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An den verschiedensten Stellen des Internets tauchen kurze Videoclips auf, oft aus nicht mehr als einer Einstellung bestehend und lediglich von wenigen Sekunden Länge. Niemand weiß, wer der Filmemacher ist oder was dieser mit den einzelnen Filmschnipseln bezwecken will. Sind die Clips Bestandteile eines bereits gedrehten Films, der nun Stück für Stück ins Netz gestellt wird? Oder ist das Gesamtwerk noch in Arbeit, so dass unter Umständen nicht einmal der Urheber weiß, wie sich die Clips weiterentwickeln werden?

Von den Filmsequenzen fasziniert, hat sich eine kleine, doch treue Anhängerschar zusammengefunden, die jeden neu entdeckten Schnipsel eingehendst diskutiert und dem Gesamtphänomen geradezu kultische Verehrung entgegenbringt. Zu dieser Gemeinschaft zählt auch Cayce Pollard, eigentlich als Trendschnüfflerin tätig, die von ihrem Vorgesetzten, dem Gründer einer Vermarktungsagentur, den Auftrag erhält, den Verantwortlichen hinter den mysteriösen Clips zu finden.

Was William Gibson in "Mustererkennung" bloßlegt, ist der physische wie psychische Zustand einer Welt, die ihre Fortschrittlichkeit an Markenartikeln, technischem Spielzeug und dem Grad der "Effizienz" von Sub- wie Objekten misst - und dies fließt auch in die Sprache ein: Angereichert mit Anglizismen, ist sie sehr schlicht gehalten und dahingehend auf das Wesentliche beschränkt, dass Sätze oft nicht mehr als Ellipsen sind. So sehr die Grenzen zwischen virtueller Realität und Wirklichkeit verwischen, wird in gleichem Maße "gegooglet" und "geforwardet", ohne dass über eine Sphärentrennung auch nur nachgedacht werden würde. In diesem Sinne fragen sich etwa verschiedene Charaktere, um sich kennen zu lernen: "Wenn ich Sie google, finde ich ...?"

Wenn man Gibson eines nicht absprechen kann, ist es Mut: Als "Erfinder" des literarischen Cyberpunk, wie man ihn heute begreift, ging er mit seiner "Neuromancer"-Trilogie in die Geschichte der phantastischen Literatur ein und etablierte und definierte gleichermaßen ein bis dato nahezu unbeachtetes Genre, von dessen Bildsprache er sich nun in "Mustererkennung" gänzlich distanziert. Doch auch wenn Gibson die Handlung in der Gegenwart ansiedelt, ist dem Roman die Beschäftigung mit cyberpunkspezifischen Fragestellungen, die im Fall von "Mustererkennung" sogar ineinander greifen, nicht fremd: Er portraitiert den zeitgenössischen Markenwahn genauso wie den Technikfetischismus, der bei der Beschäftigung mit den Videoclips sogar ersatzreligiösen Charakter annimmt und skizziert am Beispiel Russlands den Zustand eines Landes, in dem die Herrschaft des Staates an eine Handvoll Oligarchen abgetreten wurde. Damit gesellt er sich zu Neal Stephenson, der bereits mit seinem "Cryptonomicon" von einem futuristischen Hintergrund Abschied nahm, ohne die für dieses Setting prägenden Themen aus dem Auge zu verlieren. Gibson hat genauso wie Stephenson eingesehen, dass das, was vormals vor einem fiktionalen Hintergrund als überspitzte Zeichnung gegenwärtiger Verhältnisse sozialkritisch gedacht war, Realität geworden ist. Aus der Erkenntnis, dass die im Cyberpunk beschriebene Welt keine Fiktion mehr, sondern im Hier und Jetzt präsent ist, hat er mit dieser Abkehr schlicht die Konsequenz gezogen und gleichzeitig einen Roman geschrieben, der trotz seines Schauplatzes mehr Substanz aufweist als so manches Actionspektakel, das sich durch die Verwendung der durch Gibson populär gewordenen Bildlichkeit als sozialkritisch geriert, ohne diesen Anspruch auch nur ansatzweise erfüllen zu können.

Mit "Mustererkennung" hat sich Gibson von "seinem" Genre nur oberflächlich abgewandt, hat er doch lediglich dessen Bildsprache verworfen, ohne die dem Cyberpunk innewohnenden Problemstellungen anzutasten - und so einen analytischen Blick auf die Gegenwart geworfen, der bei aller Schärfe auch ein für den Autor ungewöhnlich menschliches Moment aufweist.

Titelbild

William Gibson: Mustererkennung. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann und Christa Schuenke.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004.
460 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3608936580

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