An der Grenze lesbarer Diskurse

Ein Sammelband zur Semiotik und Lektüre von Körpern in der Moderne

Von Carolina GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Brigitte Prutti und Sabine Wilke stellen in ihrem Band Aufsätze vor, die sich alle im weitesten Sinne mit der Kulturgeschichte des Körpers und seiner literarischen Verarbeitung in der Moderne auseinandersetzen. Dabei fokussieren die Beiträge des ersten Teils, der mit "Semiotik" überschrieben ist, eher die Konstruktion und Lesbarkeit von Körpern in außerliterarischen Diskursen wie z. B. der deutschen Turnbewegung des 19. Jahrhunderts oder Fotografien von deutschen Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg. Dem sich in den 70er Jahren durch Foucault formierenden diskursanalytischen Ansatz folgend wird davon ausgegangen, dass ein literarischer Text immer verknüpft ist mit anderen Produktionstechniken und kulturellen Praktiken. Diese anderen Diskurse sind genauso lesbar wie literarische Texte, sie werden gleich behandelt und sind genau so fiktiv oder real. In der Diskursanalyse wird die Trennung von fiktiven und nicht-fiktiven Texten gar nicht mehr gemacht, da jegliche Textform Teil eines in einen kulturellen Kontext eingebetteten Konstrukts ist. Um also zu verstehen, welche Bedeutung der Körper zu verschiedenen Zeiten hatte, werden Texte im weitesten Sinne herangezogen, wobei sich die Frage nach einer Grenze von lesbaren Diskursen stellen müßte, ein Problem, auf das ich später zurückkommen werde. Am Ende wird sonst die ganze Welt Text.

Ebenfalls angeregt von Foucault und weitergeführt von Judith Butler gehen Prutti und Wilke vom Körper als Ort der Konstruktion kultureller Fantasien aus. In den Körper schreiben sich kulturelle Identitäten ein, die nach Butler auch Geschlechtsidentitäten einschließen. Damit wird das Thema von männlichen und weiblichen Körpern und deren unterschiedliche Beschriftung mitbehandelt. So wie Texte konstruiert werden, in denen von Körpern gesprochen wird, sind Körper Texte, die "gemacht" und entschlüsselt werden. Sie sind nichts Natürlich- Biologisches, sondern sozial geformt, gesellschaftlich kontrolliert und verändert.

"Wie werden Körper sozial geformt, wie werden ihnen Bedeutungen und Geschlechtsidentitäten zugeschrieben, und wie werden diese semiotischen Zuschreibungen von verschiedenen Subjektpositionen aus in den erörterten kulturellen Praktiken, Medien und Texten vorgenommen?" Mit diesen Fragen überlassen die Herausgeberinnen den Autoren und Autorinnen das Feld.

Im ersten Beitrag geht Simon Richter der Bedeutung der weiblichen Brust in zwei sogenannten "Ammenmärchen" von Wieland und La Roche nach. Er weist darauf hin, dass die etymologische Bedeutung von Brust als etwas Schwellendes, Wachsendes im Widerspruch steht zur Grimmschen Definition von Bruch und Mangel. Diese Doppeldeutigkeit löst er nicht auf, vermutet aber kulturelle Prozesse hinter der negativen Konnotation. Im Folgenden definiert er "Brust" als metonymischen Begriff, der im 18. Jahrhundert automatisch gleichgesetzt wird mit "Stillen", "Mutter" oder in höheren Gesellschaftsschichten mit "Amme". Im Vergleich zur Metapher, die auf Ähnlichkeit aufbaut und Beziehungen zwischen unterschiedlichen semantischen Feldern schafft, hängt die Metonymie von Kontiguität ab. Das Ammenmärchen wird somit automatisch mit der Brust in Verbindung gebracht, ohne dass der Verweis deutlich gemacht werden muß. So wie die Milch das Kind körperlich nährt, fördert die Amme mit ihren Geschichten die Sprache und Entwicklung des Kindes. In dieser Kontiguität sieht Richter die Berührung von Sprache und Körper, die aus dem Bedürfnis nach der physischen Präsenz des Wortes resultiert, so wie die Brust der Mutter das physische Bedürfnis des Kindes befriedigt.

In Wielands Märchen "Don Sylvio von Rosalva" ist jede Begegnung, jeder Name und jede Begebenheit mit der Brust verbunden. Der Prinz begegnet Feen mit schönen Brüsten, wählt aber am Schluss das schöne Milchmädchen zur Frau, das ihm bis zum 18. Lebensjahr verwehrt sein soll.

Sophie La Roches Emilie in "Erscheinungen am See Oneida" verzichtet auf Milch, stillt aber ihr Kind. Für Richter nehmen die Märchen von Wieland und La Roche "die Dialektik vom Mangel und der Fülle der Brust in Anspruch". Don Sylvio bei Wieland empfindet die Erotik, aber auch die Überfülle und Übersättigung durch die Brust, bei La Roche erhöht sich die Fülle der Brust mit dem Mangel der Mutter. Richter betont abschließend die trotz des Mangels festzustellende Mammozentrik der Brust. Der metonymische Gebrauch der Brust setzt die auf Metaphern aufgebaute Symbolik der Phallogozentrik zum Teil außer Kraft, so dass die Vorherrschaft der Brust körperlich und sprachlich wirksam wird.

Im zweiten Beitrag von Thomas Alkemeyer und Anja Wiedenhöft wird der Einfluß nationaler Vorstellungen und Konstrukte auf politisch-pädagogische Konzepte der Turnbewegung des 19. Jahrhunderts reflektiert. Gleichzeitig interessiert wiederum die szenische Darstellung der verinnerlichten Konstrukte und ihr Einfluss auf das Bild des Nationalen.

Im Zuge des Zusammenbruchs traditionaler Werte und dem allmählichen Anwachsen einer wirtschaftsliberalen Konkurrenzgesellschaft ändert sich das Selbst- und Körperverständnis des Bürgers. In Abgrenzung zu aristokratischen Körperdisziplinen wie Reiten, Fechten und Tanzen zählen auf dem bürgerlichen Turnplatz Funktionstüchtigkeit und Effizienz. Mit der technischen Ausdifferenzierung von Kriegsgeräten, aber auch Turngeräten wird der Körper gemäß seiner Funktionen wie eine Maschine unterteilt und jedes Körperteil nach seiner Fähigkeit eingesetzt.

In den Turnkonzepten dieser Zeit spiegelt sich die enge Verknüpfung von körperlicher Ertüchtigung und politischer Funktionalisierung wieder. Jahn entwickelt sein Turnwesen, das er auch "Vaterländisches Turnen" nennt, mit dem Ziel, die Staatsbürger gegen napoleonische Fremdherrschaft und für ein künftiges Reich unter Preußens Vorherrschaft fit zu machen. Die Turnbewegung wird zum einen zum Motor nationalen Aufbruchswillens, gleichzeitig werden in ihr anti-zivilisatorische, bereits im Sturm und Drang formulierte Freiheitsfantasien erprobt.

Die von Jahn propagierte Eigeninitiative der Sportler wird von Spieß, der für das 19. Jahrhundert das wirkungsvollste Turnsystem entwickelte, unterbunden. Der einzelne Körper wird bei ihm zum mechanischen, sich unterordnenden Teil des Nationalkörpers, der allein der Leistungsmaximierung des Staats- und Militärapparats dient. Die Inszenierung und Zellebration des Nationalen in Festzügen und Turnfesten geht wiederum in Bildercodes des kollektiven Gedächtnisses ein. Im Gegensatz zur Idee des Nationalen als politisch-sozial konstruierte, wie sie Frankreich oder England verstehen, wird die deutsche Nationalität als ethnisch-kulturelle begriffen, die Jahn in seinem Programm der aktiven "Volkstumspflege" reproduziert.

Robert Tobin geht in seinem Aufsatz dem Entstehen des Diskurses der Homosexualität im 19. Jahrhundert nach. Er stellt fest, dass in Schriften von Sexologen und Psychologen die Homosexualität mit Hilfe eines Modells der Polarität von Männlichkeit und Weiblichkeit erklärt wird, bei dem ein männlicher Körper eine weibliche Seele haben kann. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen des Advokats Karl Heinrich Ulrichs, der Homosexuelle als Frauen mit kulturell erworbenem männlichen Habitus bezeichnet und somit die biologische Dichotomie von männlich und weiblich aufhebt. Er glaubt, dass diese Frauen in Männerkörpern in der Gesellschaft Männer spielen und dass für andere die äußerlichen Codes der Theatralisierung in Mode und Habitus sichtbar werden. Tobin weist darauf hin, dass von den Verteidigern der Homosexualität die drei großen Diskurse Religion, Medizin und Recht abgelehnt wurden, d. h. dass sie nicht einmal zur Legitimation der Mannesliebe benutzt wurden. Als "angenommenen Diskurs" bezeichnet Tobin hingegen die Urbanität. Große Städte werden als Orte dämonisiert, in denen Homosexualität entsteht.

Im Beitrag von Richard T. Gray wird Goethes Rezeption als Physiognom reflektiert. Für verschiedenste Physiognomen dienten Goethes Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen inneren Substanzen und äußeren Erscheinungen als Legitimation ihrer Studien. Dabei hat sich Goethe eher mit Morphologie als mit Physiognomik beschäftigt, d. h. die Einzelelemente des Körpers werden eher hermeneutisch mit einer Konzeption des Ganzen in Zusammenhang gebracht, das sich verändern kann. Für Lavater, den Urvater der Physiognomik ist Gestalt hingegen immer eine festgefügte Form. Einzelne physiognomische Dispositionen rufen fest definierte Bewegungen hervor. Gray macht deutlich, dass Goethes Äußerungen zum Teil fragmentarisch übernommen, gedeutet und z. T. total umgedeutet werden. So folgt Carl Gustav Carus zwar Goethes Idee der Harmonie der einzelnen Körperteile untereinander, versteht aber den Körper als festgefügtes System und widerspricht damit Goethes grundlegendem antimechanischem Konzept.

Auf ein außerliterarisches Medium, das der Fotografie wird im nächsten Aufsatz zugegriffen. Dagmar Barnouw untersucht anhand von Bildern, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von Frauen gemacht wurden, wie unterschiedlich Realitäten erzählt werden können, ohne dass der Blick immer ein männlicher verdinglichender sein muss, wie er in der feministischen Medientheorie immer wieder festgestellt wird. Das spontane Moment der Dokumentarfotografie lässt gerade nicht zu, dass der Fotograf/die Fotografin sein/ihr Opfer sorgfältig aussucht und den Blick steuert.

Deutsche Frauen als diejenigen, die am Ende des Krieges die Hauptzeugen für die vom Nazi-Regime begangenen Verbrechen waren, stehen im Mittelpunkt amerikanischer Berichterstattung. Fotos, die desinteressiert und kühl erscheinende deutsche Frauengesichter vor Leichenbergen zeigen, dienen im Ausland dazu, klare Täter- und Opferbilder zu konstruieren. Die britische Berichterstattung ist an moralischen Unterscheidungen weniger interessiert, sondern fotografiert auch adrett aussehende Frauen, die ihren Alltag meistern und Soldaten freundlich zulächeln. Gerade in der ersten Phase der Besatzung ist das Fraternisierung noch strikt verboten, deshalb findet man kaum amerikanische Fotos mit deutschen Frauen und amerikanischen Soldaten. Im Folgenden analysiert Barnouw, wie unterschiedlich der Blick einzelner Fotografen auf die Schicksale der Frauen sind. Kühl, indifferent und realistisch distanziert fotografiert die amerikanische Fotografin Margaret Bourke-White für "Life", während der britische Fotograf Leonard McCombe physisches und emotionales Elend ohne klare moralische Unterscheidungen kommentiert.

Im ersten Beitrag des zweiten Teils des Bandes, der mit "Lektüren" überschrieben ist, untersucht Sylvia Schmitz-Burgard anhand von verschiedenen Spiegelszenen in Texten vom 18. Jahrhundert bis heute den Zusammenhang von weiblichem Schreiben und sich Spiegeln. In den von Christiana Mariana Ziegler, Sidonia Hedwig von Zäunemann, Johann Wolfgang von Goethe, Annette von Droste-Hülshoff, Sarah Kirsch und Gertrud Kolmar beschriebenen Spiegelszenen wenden sich schreibende Frauen von der durch Männer definierten Welt ab und sich selbst zu. Dabei wird ihnen die Konstruktion von weiblichen Zuschreibungen aber um so mehr bewusst, und sie bringen sie zur Sprache. Als Folie dient der Autorin Rousseaus Text "Sophie ou la femme", in dem sich das Aufeinandertreffen von narzistisch-selbstbewusstem Schreiben einer Frau und repressiven Strategien einer phallogozentrischen Macht als unvereinbar erweist.

In einer Analyse von Hofmannsthals Erzählung "Das Märchen der 672. Nacht" untersucht Imke Meyer, wie der Protagonist gegen sein ereignisloses Leben und die Angst vor dem Tod ankämpft, indem er sich sein eigenes Leben erzählt. Dieses Projekt misslingt letztendlich, weil der Kaufmannssohn immer wieder von seiner Geschichte, seiner verdrängten Vergangenheit eingeholt wird und er seine Lebenszeit nicht anhalten kann. Der Kunstkörper, den er zu kreieren sucht, wird zunichte gemacht durch die Verfallserscheinungen seines realen Körpers. Der Kaufmann versucht sich zum auktorialen Erzähler seines Lebens zu machen, doch er verliert die Kontrolle. Die Kluft zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit wird immer kleiner, das Geschehen erzählt sich selber auf den Tod des Kaufmanns hin. Meyer analysiert die Erzählung vor dem Hintergrund der in der Literatur der Wiener Moderne sichtbar werdenden Krisen der männlichen Identität, die ihrer Meinung nach durch Autofiktionen aufgefangen werden.

Wie beschreibt man Bereiche und Funktionen des Körpers, für die es in der Sprache wenig direkte Ausdrücke gibt? Dieser Frage geht Hans-Jürg Rindisbacher in seinem Aufsatz "Körper-Sprache - Sprach-Körper in Patrick Süskinds Roman "Das Parfum" nach. Er stellt fest: "Ein Hauptproblem der Versprachlichung von Geruch und Geruchseindrücken liegt darin, daß die Welt der Gerüche kein ausgebildetes spezifisches Vokabular kennt. Es gibt nichts, was z. B. mit der exakten Terminologie für Farben, Formen und Raumverhältnisse vergleichbar wäre." Süskind löst das Problem, indem er durch Beschreibung und Vergleich Assoziationen im Leser hervorruft, die ihn an die Gerüche heranführen. Dabei macht Rindisbacher ähnlich wie Simon Richter im ersten Beitrag die Unterscheidung zwischen metaphorischem und metonymischem Sprachgebrauch. Grenouille benutzt keine Formeln um Gerüche zu kategorisieren, er überträgt Düfte auf andere Medien, ohne ein Ordnungs- oder Vergleichsprinzip zu schaffen. Eine Farbe ist für ihn Geruch, ebenso Gebäude, Körper, Pflanzen. Duft und Ekel brechen auf die geordnete Zivilisation ein und zerstören die intellektuelle Schutzmauer. Der Akt des Lesens vollzieht sich parallel zu dem des Riechens und wird so verkörperlicht.

Körperliche Auflösungs- und Verwesungserscheinungen begegnen uns in Unica Zürns Prosa, mit der sich Karin Bauer beschäftigt. In Zürns Texten zerstören Frauen ihre Körper und Identitäten, parodieren diese Zerstörungsakte aber gleichzeitig, was Bauer als subversive Auflehnung gegen bestehende Normen liest. Im Gegensatz zu Butler, die jegliche Formen von emanzipatorischer Subjektkonstitution als unmöglich betrachtet, da selbst gestaltete Performanzen die gesellschaftliche und politische Ebene nicht bewusst verändern, betont Bauer, daß Zürns Frauenfiguren sich den Prozess der Entmaterialisierung immer wieder entziehen. Sie widersetzen sich immer wieder dem Wunsch nach Auflösung und verweisen damit auf den Körper als Ort der Identität. Bei Butler hingegen retten Frauen ihre Identität durch ihre körperliche Auflösung, weil sie sich somit festgeschriebenen Körpern entziehen.

Die Skizzierung der neun Beiträge zeigt, auf welch unterschiedliche Weise man sich dem Thema Körper nähern kann. Der Eindruck entsteht, dass wir es mit Körpern zu tun haben, sobald Menschen auf der Bildfläche erscheinen. Wird von Menschen gesprochen, so müssen wir auch von Körpern sprechen. Wie explizit werden Körper und Körperlichkeit aber überhaupt, wenn Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs fotografiert werden? Und wenn sie so präsent sind, in welcher Weise stellen sie sich uns dar? Schon die lange Einleitung der Herausgeberinnen mit Zusammenfassungen von jedem einzelnen Beitrag zeigt, dass eine allgemeine Bezugsfragestellung fehlt. Interessant wäre zu erfahren, wie sich das weibliche Körperbild in Texten vom 18. Jahrhundert bis heute verändert hat. Wenn der Begriff des Körperdiskurses so weit gefasst wird, wie es die Beiträge tun, eignet sich bald jeder irgendwann geschriebene Text für eine Analyse, da Körper immer erscheinen. Jeder Text ist gleichsam ein Körper.

Nichtsdestotrotz ist jeder Beitrag an sich interessant und für unterschiedlichste Forschungsdebatten zu empfehlen. Beiträge wie der erste zur Bedeutung der weiblichen Brust bei Wieland und La Roche und der letzte zu körperlichen Auflösungsfantasien bei Zürn bleiben meiner Meinung nach auch im Rahmen eines sich auf den Körper beziehenden Forschungsansatzes. Jedenfalls empfiehlt sich eher eine diskursive Lektüre als eine lineare, was vielleicht ganz im Sinne der Autoren ist.

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Brigitte Prutti / Sabine Wilke (Hg.): Körper - Diskurse - Praktiken. Zur Semiotik und Lektüre von Körpern in der Moderne.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2003.
282 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3935025165

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