Sozialgeschichte als Literaturgeschichte

Zu Jost Schneiders "Sozialgeschichte des Lesens"

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band ist eine Literaturgeschichte - und der vorliegende Band ist eine Sozialgeschichte. Oder besser, wie im Titel formuliert, hier wird "Sozialgeschichte als Literaturgeschichte" verstanden. Was hat der Leser zu erwarten? Ein paar Eckpunkte der Darstellung seien kurz skizziert: "Die vorliegende Darstellung basiert [...] auf der Vorstellung, dass die geschichtliche Entwicklung sämtlicher literarischer Kulturen in Deutschland den Gegenstand einer deutschen Literaturgeschichte bilden muss. Als 'literarische Kultur' wird dabei eine institutionalisierte, epochen- und schichtenspezifische Praxis der literarischen Kommunikation definiert."

Die Probleme der Betrachtungsweise, der spezifisch soziologischen Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand "Literatur", sind deutlich. Die einzelnen Definitionsbestandteile - also was es zu untersuchen gilt - lassen sich beliebig "differenzieren" bzw. hinterfragen. Es gibt keine wirklich konsistenten "Bildungsschichten", Zeitverschiebungen und langwierige Entwicklungen müssen abstrahiert werden, um sich zum Untersuchungsgegenstand zu eignen. Diese Kritikpunkte entkräftet der Autor aber in seiner Einleitung nach und nach: "Das System der Bildungs- und Gesellschaftsschichten unterliegt allerdings historischem Wandel. Der Gelehrte des 16. Jahrhunderts darf nicht ohne weiteres mit dem Intellektuellen des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden. Und auch der Bauer des 19. Jahrhunderts war mit einer anderen Lebenssituation konfrontiert als der des 15. oder gar der des 5. Jahrhunderts. Eine Gesamtgeschichte der literarischen Kommunikation muss deshalb epochenspezifische Formen der literarischen Kommunikation voneinander zu unterscheiden erlauben." Die deutlichste Differenzierung, die die Darstellung bestimmen soll, ist die Festlegung zwischen "institutionalisierter" und "individueller" Kommunikation. "Das Attribut 'institutionalisiert' in der oben vorgestellten Definition soll verdeutlichen, dass nicht die individuelle, sondern die typische, nach anerkannten Regeln und Gebräuchen ausgeführte Kommunikationspraxis Gegenstand der Darstellung sein soll."

Eine weitere wichtige Grundlage für die Betrachtung der literarischen Kommunikation, die für den im Titel verwendeten Begriff des "Lesens" verwendet wird, ist der der Darstellung zugrundeliegende Literaturbegriff bzw., wie es der Autor formuliert, der Unterschied zwischen literarischer und nicht-literarischer Kommunikation: "Als literarischen Text definiere ich eine Abfolge von Laut- und Schriftzeichen, die fixiert und/oder sprachkünstlerisch gestaltet und/oder ihrem Inhalt nach fiktional ist." Es wird aufgrund dieser Definitionen eine erweiterte Literaturgeschichte zu erzählen versucht, die sich in einem Spannungsfeld zwischen "Zivilisations-, Mentalitäts- und Bildungsgeschichte" bewegt und die Frage nach der "spezifischen literarischen Kultur der einzelnen Gesellschaftsschichten" zu beantworten sucht. Dabei liegt die Problematik dieses Ansatzes natürlich in der Natur der Sache. Der Autor fragt sich zum Ende seiner Einleitung, welche "Detailliertheit eine solche kultursoziologisch und funktionsanalytisch orientierte Gesamtkulturgeschichte annehmen sollte". Der Ausweg aus den verschiedensten Fragestellungen und Problematisierungen führt, wie es der Titel des vorliegenden Bandes andeutet, auf die Perspektive, unter der die Darstellung von literarischer Kommunikation vollzogen werden soll. Der Autor rekurriert dabei auf Robert Prutz und seine zweibändige Studie über "Die deutsche Literatur der Gegenwart" (1859), um auf den Blickwinkel des Lesers zu verweisen, den Prutz als durchaus relevanten Aspekt bei der Einschätzung, Bewertung und Darstellung von Literatur hinzuzuziehen in Betracht zog. Mit den nötigen Ergänzungen und den Ergebnissen der aktuellen Lese(r)forschung versehen nimmt der vorliegende Band folgende Perspektive ein:

Für Prutz war der Anlass seiner Studie die zunehmende Bedeutung von Übersetzungen französischer und englischer Lektüre für den Literaturmarkt. Eugene Sue und Scott, die Dumas und William Thackeray, Victor Hugo und Jane Austen bestimmten die Lektüre seiner Zeitgenossen und fanden größeres Interesse beim Publikum. Diese Erweiterung der "kanonischen" Literatur um die Perspektive des Publikums ist denn auch Anstoß für die unterschiedlichsten Betrachtungen über Literatur, über die verschiedenen Kanons, die der Literaturgeschichtsschreibung zugrunde gelegt wurden und die in der Monographie von Jost Schneider zu einer wichtigen Bezugsgröße gehören. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist man in der vorliegenden "Sozialgeschichte des Lesens" zwischen zwei Aspekten hin und her gerissen. Die plausible Einleitung, die die partielle Entgrenzung der kanonischen Textbasis feststellt bzw. festlegt, und die verschiedenen Werkzeuge und Schnittebenen, mit denen man sich in der Darstellung Zugriff zur "literarischen Kommunikation" durch die Bevölkerungsgruppen, durch die geographischen Gebiete, durch die Zeit und die Sprachen hindurch verschafft, führen zu einem durchweg gut lesbaren, in vieler Hinsicht plausiblen und aufschlussreichen Buch. Und der Autor schafft es immer wieder, die zwischenzeitlich aufkommenden Zweifel an der Darstellbarkeit des avisierten Untersuchungsgegenstandes zu zerstreuen.

Was man noch wissen sollte: Jost Schneider geht von einem gänzlich anderen Untersuchungszeitraum als die herkömmlichen Literaturgeschichten aus. Größtenteils um 800 n. Chr. mit der Darstellung der Literatur beginnend wird in vorliegender Monographie mit dem Abschnitt "Literarische Kommunikation im Stammeszeitalter (ca. 4. Jh. v. Chr. bis 8. Jh. n. Chr.)" begonnen. Dies ist, wie auch die drei folgenden Abschnitte, auf den hier verwendeten Begriff der Kommunikation zurückzuführen. In den Kapiteln über das feudalistische (9. Jh. bis 1789), das bürgerliche (1789 bis 1918) und das demokratische Zeitalter (seit 1918) werden jeweils die "Gesellschaftsgeschichtlichen Rahmenbedingungen" skizziert und die dem Begriff der literarischen Kommunikation entsprechenden gesellschaftlichen Gruppierungen oder Milieus untersucht. Dabei sind es vor allem die Verknüpfungen bzw. Nicht-Verknüpfungen der verschiedenen Bereiche literarischer Kulturen, die als Erkenntnis dem Leser bei der Lektüre bleiben. Daher auch einer der vielleicht auch schon von vornherein sichtbaren Erkenntnisse des Bandes: "Zu den Hauptergebnissen dieses Buches zählt die Erkenntnis, dass 'die' deutsche Literatur in mehrere literarische Kulturen unterteilt war und ist, die nebeneinander existieren."

Wenn nicht dieses Fazit schon interessant genug ist, die hierzu führenden Gedankengänge nachzulesen, so sollte es die durchgängig unterhaltsame und gute Darstellung sein - für eine Literaturgeschichte nicht immer selbstverständlich -, die den Leser auf eine einen Zeitraum von zweitausend Jahren durchschreitende Kulturreise mitnimmt. Ihre Anlässe sind die Literatur, das Lesen und die literarische Kommunikation. Sie verweist letztlich auf die Differenzen in der Betrachtung von "literarischen Produkten" unterschiedlicher Gesellschaften, Gesellschaftsschichten und "gesellschaftlicher Repräsentanten und Funktionsträger" und damit auf die Vielgestaltigkeit des Subjekts.

Und um noch einmal auf die Differenz zur herkömmlichen Literaturgeschichtsschreibung zu verweisen und den umfassenderen Ansatz dieser Kulturgeschichte deutlich zu machen, schreibt Schneider: Es "sei hier noch einmal betont, dass sie Autonomisierung 'der' Literatur zwar mit zu den Gegenständen der Literaturgeschichtsschreibung gehört, innerhalb einer Gesamtgeschichte der literarischen Kommunikation jedoch nur eine von vielen Spielarten des Umgangs mit literarischen Texten darstellt. Eine moderne Literaturgeschichte kann und darf sich nicht damit begnügen, drei- oder vierhundert kanonische Werke durch gezielte Interpretationen in eine zusammenhängende gedankliche Entwicklungslinie zu zwingen und diese ideale stetige Linie als Geschichte auszugeben." In diesem Sinne ist der vorliegende Band zu empfehlen.

Titelbild

Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens.
De Gruyter, Berlin 2004.
483 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3110178168

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