Dissonanzen in der Morgenstille

Koreanische Gegenwartsliteratur - Konfuzianische Traditionen der Dorfgeschichte bis zum modernen Roman

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Japan versteht sich als das "Land der aufgehenden Sonne", Korea als "Land der Morgenfrische" oder, noch poetischer, als "Land der Morgenstille". Eine schöne Metapher für das Innehalten vor dem lärmenden Tag. Keine Spur von den imperialen Zukunftverheißungen, die sich an den Sonnenaufgang Japans geknüpft haben.

Eklatant freilich der Kontrast zur Leidensgeschichte Koreas im 20. Jahrhundert. Von der Stille, gar dem Frieden eines schönen Morgens kann hier keine Rede sein. Statt dessen Kriege, Spaltungen, innere und äußere Konflikte, Okkupationen, Kolonisierungen, Diktaturen. Die koreanische Gegenwartsliteratur konnte davon nicht unberührt bleiben. Umso eindrucksvoller hat sie einen eigenen Weg gesucht.

Unternimmt man eine ungefähre Positionsbestimmung dieser Literatur, so wird man mit einem ebensolchen Nachdruck auf die politische, die Kriegs- und Teilungsgeschichte des Landes im 20. Jahrhundert verwiesen, wie es bei der Geschichte der deutschen Literatur bis 1989 der Fall war.

Koreas geopolitische Lage scheint es für die Rolle eines "Zankapfels" disponiert zu haben, zunächst zwischen Nord und Süd, China und Japan. Das traditionelle chinesische "Protektorat", das fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts dauert, geht von 1910 bis 1945 in die brutale japanische Kolonialherrschaft über. Verbunden ist sie mit einer gewaltsamen Japanisierung des Landes einschließlich der Sprache und der Kultur. Das okkupierte Land denkt koreanisch und spricht Japanisch. Die vom japanischen Kolonialregime geschlagenen Wunden sind auch heute keineswegs verheilt. Der Missbrauch zehntausender koreanischer "Trost"-Frauen in den Bordellen des japanischen Militärs, der Verbrauch zahlloser koreanischer Zwangsarbeiter in Japan, von denen etliche dank einem wahrhaft grausamen Zynismus der Geschichte das atomare Ende von Hiroshima und Nagasaki miterlitten haben - das alles ist nicht vergessen, wie neuerdings etwa der vehemente Streit über die japanische Schulbuchgeschichtsschreibung oder die Reaktion auf halbherzige japanische Schuldanerkenntnisse zeigen.

1945 kommen die siegreichen Russen und Amerikaner, angeblich als die Alliierten, tatsächlich als die Besatzer des ausgebluteten Landes. Gleichzeitig kämpft die koreanische Nachkriegskultur, die wieder die eigene Sprache, das "Hangul" spricht, um die Wiedergewinnung einer eigenen Identität. Die de facto-Teilung des Landes eskaliert zum Korea-Krieg von 1950 bis 1953, den man im Westen gerne dem Konflikt der "Systeme" zwischen Kommunismus und "freier Welt" subsumiert, in Korea selber aber als brutalen Bürgerkrieg, als "Bruderkrieg" erlebt, wie die zeitgenössische koreanische Literatur schmerzlich registriert. Von Norden nach Süden, von Süden nach Norden, erst von den sowjetisch unterstützten nordkoreanischen Truppen, dann von den unter amerikanischer Führung agierenden UNO-Truppen, schließlich von einer chinesisch-nordkoreanischen Allianz wird das Land durch die diversen Kriegsmaschinerien umgepflügt.

Das Kriegsresultat diesseits wie jenseits des 38. Breitengrades, der zur Demarkationslinie wird, zeigt, wie sehr sich die Blutopfer gelohnt haben: Dem kommunistischen Regime Kim Il-Sungs im Norden, das den stalinistischen Personenkult adaptiert, steht ein etwas moderateres autoritäres Regime unter Rhee Syngman im Süden gegenüber, das politisch wie kulturell von den USA dominiert wird. Hüben wie drüben bestimmt die Paranoia die psychopolitische Seelenlage. Hüben wie drüben grassiert die Angst vor den offenbar stets inflationär auftretenden "Verrätern", den "Renegaten", den Frontenwechslern, den buchstäblichen "Borderlinern", zu deren bevorzugten Vertretern seit je die Schriftsteller zählen. Die politische Polizei, die Folter hat beiderseits des 38. Breitengrades Hochkonjunktur.

Während der kommunistische Norden in der Folgezeit seine Hardliner-Stabilität behauptet, kommt es im Süden 1960 mit einer Studentenrevolte und 1980 mit dem Aufstand von Kwangju zu Demokratisierungsschüben, die wieder mit einem kulturellen Aufbruch einhergehen, aber jeweils vom Militär unterdrückt werden. Erst gegen Ende der achtziger Jahre mündet das südkoreanische Wirtschaftswunder, das zeigt, wie wunderbar freie Wirtschaft und unfreier Staat miteinander harmonieren können, in eine nachhaltigere, jüngst durch die letzten Wahlen bestätigte politische Liberalisierung. Vom "Dritte-Welt-Land" zum "Tiger-Staat", im Zuge einer rapiden Technisierung und Ökonomisierung, deren Tempo an den japanischen Aufbruch während der "Meiji-Restauration" erinnert, führt die Entwicklung. Sie fügt indes der gleichsam "horizontalen" politisch-militärischen Teilung eine "vertikale" zwischen der sozialen, der religiösen, der familial-patriarchalen Tradition des vormals agrarischen, naturnahen Landes und der rasanten Modernisierung hinzu.

Der Sport macht Korea, Südkorea, zweimal weltgesellschaftsfähig: bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 und der Fußballweltmeisterschaft 2002, die mit der ehemaligen Kolonialmacht Japan trotz der anhaltenden historischen Tiefenspannung immerhin eine befristete organisatorische Zweckehe stiftet.

Nordkorea hält derweilen die Welt mit seinem atomaren Programm in Atem, in zuverlässigem Zusammenspiel mit den Hardlinern der gegenwärtigen amerikanischen Administration, die sich das nächste "Reich des Bösen" demnächst vorknöpfen könnten. Der "Bambusvorhang", der nie durchlässiger als sein "eisernes" oder gemauertes europäisches Pendant war, wie es die naturnahe Metapher fälschlich versprach, droht erneut völlig hermetisch zu werden. Die eine zeitlang keimenden Wiedervereinigungshoffnungen sind einstweilen dahin.

Die kulturelle Kommunikation, wenn sie überhaupt zustande kommt, scheint angesichts der brachialen politischen Gewalten ein allzu zartes Pflänzchen. Im Unterschied zur deutschen Literatur und Kultur zu Noch-DDR-Zeiten meint, wer heute "koreanische Literatur" sagt, bis auf die innerkoreanischen Migranten wie etwa die in Nordkorea geborenen und aufgewachsenen Lee Hochol und Choi-In Hun durchweg die südkoreanische. Gleichwohl suchen die meisten Autoren vermittelnd einen "dritten Weg" - ein ebenso honoriges wie schwieriges Unterfangen.

Aus ganz anderen Gründen haben es koreanische Autoren im deutschen Sprachraum schwer. Koreanische Marken (Daewoo, Hyundai, Samsung) kennt man hierzulande, auch koreanische Kampfsportarten (Taekwondo) und Markenfußballer: die unvergesslichen Pak Do-Ik und Bum Kun-Cha - die Autoren der koreanischen Literatur nicht. Während die große japanische Literatur sich inzwischen im Westen anhaltender Aufmerksamkeit, wenn auch nicht unbedingt einer tieferen Kenntnis erfreut, Japan ohnehin seit dem 19. Jahrhundert wie Preußen-Deutschlands asiatischer Zwilling anmutete, ist die koreanische Literatur mit ihrer 2000-jährigen Tradition und einer sehr lebendigen zeitgenössischen Szene, die über 900 Autoren umfasst, immer noch weitgehend Terra incognita.

Die Sprachbarrieren scheinen noch größer zu sein, besonders die Namen für deutsche Ohren und Augen noch schwieriger als die auch nicht gerade einfachen japanischen: Yi Chung-Jun, Choi In-Hun, Ahn Jung-Kyo, Kim Kwang-Kyu ... Dabei ist das Bauprinzip der Namen eigentlich leicht zu verstehen, wie man auch als Nicht-Koreanist dem informativen Nachwort von Heidi Kang zu Yi Munyols Roman "Der entstellte Held" entnehmen kann. Wie im Japanischen geht der - meist einsilbige - Familienname voran; darauf erst folgt der meist zweisilbige Personenname: Das Individuum rangiert gemäß der patriarchalen konfuzianischen Tradition nur im zweiten Glied.

Doch spätestens dann beginnen auch die Komplikationen, die aus einer scheinbar allzu großen Namensähnlichkeit resultieren. Denn was heißt hier "Personenname"? Die erste seiner zwei Silben steht wieder meist für eine ganze Generation, wird also von allen Geschwistern, Cousins und Cousinen geteilt. Zu allem Überfluss sind die Familiennamen auf etwa 300 begrenzt - die "Kims" "Yis" und "Paks" sind auch ohne die obligate westliche Komplexitätsreduktion allgegenwärtig, die zu ihrer unerschütterlichen Belustigung in exotischen Ländern stets nur die Wiederkehr des Gleichen entdeckt - die "Gelben", die "Schwarzen", die "Roten". Da hilft nur eines: Man muss üben, auch der radebrechende und stammelnde Autor eines Literaturessays muss sich im Unterscheiden üben ...

Die unvermeidlichen Transkriptionsprobleme kommen hinzu. Und hier handelt es sich im Orientierungsdschungel der Namen keineswegs um Quisquilien, die man getrost vernachlässigen dürfte. Der Pendragon Verlag etwa hat den Erzählungsband "Das geheime Feuerfest" von Yi Chungjun herausgebracht. Die Edition Peperkorn hingegen lässt zwei schöne, neu erzählte altkoreanische Volksdichtungen desselben Autors unter dem Namen "Yi Chong-Jun" firmieren. Und beide Verlage sind für die koreanische Gegenwartsliteratur erste Adressen.

Sie haben das Verdienst, sich bisher am intensivsten um diese Literatur bemüht zu haben - der Bielefelder Pendragon Verlag mit seiner inzwischen über 25 Bände umfassenden "Edition moderne koreanische Autoren"; die im ostfriesischen Thunum erscheinende Edition Peperkorn, deren Name nicht mit dem des radebrechenden "Zauberberg"-Genius Mynher Peeperkorn zu verwechseln ist, in einem quantitativ noch größeren Rahmen. Beide Verlage haben in den letzten Jahren ein reichhaltiges Übersetzungsprogramm initiiert, im Bewusstsein der Vermittlungsprobleme aber auch gut daran getan, mit eingehenderen Nachworten, biografischen und bibliografischen Informationen und Lesebüchern, die als "Appetizer" wirken können, die unbegangenen Wege zu bahnen. In dieser Hinsicht darf man sie durchaus zu noch mehr Informationsangeboten ermuntern, zumal die hier kargere Edition Peperkorn.

Aber das ist leichter gesagt als getan. Beide Verlage dürften sich mit ihrem Minderheitenprogramm trotz der Förderung durch südkoreanische Institutionen und Stiftungen an der unteren Rentabilitätsgrenze bewegen. Wo wäre da Hoffung? Am ehesten natürlich bei einem koreanischen Literaturnobelpreis! Doch wann der erste an einen koreanischen Autor verliehen werden wird, steht trotz einiger preiswürdiger Kandidaten noch in den Sternen. Ich votiere einstweilen für Kim Wonil, Ahn Jung-Kyo oder Yi Munyol.

Mit den Essays des koreanischen Kritikers und Verlegers Kim Byong-Ik zur "koreanischen Literatur der Gegenwart" unter dem sprechenden Titel "Grenzerfahrungen" liegt eine erste umfassendere Orientierungshilfe vor. Der 1938 geborene Autor, der als "repräsentativer Kenner und kritischer Beurteiler des gegenwärtigen Korea" gilt, ist Mitglied jener Generation, die in ihrer Kindheit die japanische Kolonialherrschaft und den Pazifikkrieg noch erlebt, aber bei Kriegsende unverzüglich die verdrängte Muttersprache und die koreanische Schrift, das "Hangul" wieder erlernt hat. Als die "Hangul-Generation" ist sie kulturell prägend geworden.

Die Muttersprache erlernen, hieß freilich erst einmal umzulernen. Ich zitiere Kim Byong-Iks "Grenzerfahrungen", die auch die eines Sprachgenerationenunterschieds einschließen: "1945, als ich acht Jahre alt war, wurde unser Land von der japanischen Herrschaft befreit, und als dreizehnjähriger Schüler erlebte ich den koreanischen Bürgerkrieg ... Zusammen mit meinem Bruder, der sechs Jahre älter war als ich, hatte ich unsere Muttersprache Koreanisch gelernt; das heißt, kaum hatte ich angefangen, Japanisch zu lernen, mußte ich plötzlich Koreanisch lernen. Recht bald verlernte ich Japanisch und kann es heute weder sprechen noch lesen, während mein Bruder weiterhin japanische Literatur las und lange Zeit bei einer japanischen Firma arbeitete [...] Oft stelle ich fest, daß unsere Auffassungen grundverschieden sind, obwohl der Altersunterschied zwischen meinem Bruder und mir gerade sechs Jahre beträgt. Wenn ihm zum Beispiel zu einem Sachverhalt kein entsprechendes koreanisches Wort einfällt, spricht er blitzschnell ein japanisches aus, und wenn ich ein bißchen unsicher und verwirrt reagiere, erklärt er es ausführlich. Ist für diesen Umstand entscheidend, ob man in der Muttersprache oder in der Fremdspracheerzogen wurde ...? Ich glaube schon [...] Diejenigen, die nach 1945 geboren wurden und in einer ganz normalen Gesellschaft aufwuchsen, haben diese Kluft zwischen Sprache und Nationalbewußtsein nie erlebt."

Die moderne koreanische Geschichte und die ihr entsprechende kulturelle Generationenfolge unterteilt Kim Byong-Ik summarisch in folgende Perioden:

"1945 wurde das Land, das fünfunddreißig Jahre lang von Japan als Kolonie ausgebeutet worden war, befreit, mußte aber gleichzeitig seine verhängnisvolle Teilung in Kauf nehmen. 1950 litten die Koreaner unter einem Bürgerkrieg, der zugleich das brutalste Beispiel des Kalten Krieges in der Weltpolitik darstellte. Im April 1960 brach zum ersten Mal in der Geschichte eine Revolution von unten aus, hervorgerufen durch die Studentenbewegung, aber ein Jahr später fand im Mai ein Militärputsch statt, der die Zukunft Koreas entscheidend beeinflußte. Anfang der siebziger Jahre, als die Industrialisierung des Landes gerade in vollem Gang war, erklärte die Militärregierung den Ausnahmezustand ... Die Diktatur schien zwar Ende der siebziger Jahre durch die Ermordung des Präsidenten endlich beendet, doch im Mai 1980 schlug die neue Regierung, die unter dem Druck des Militär stand, den Bürgeraufstand in Kwangju grausam nieder. Erst mit der Gründung der Sechsten Republik und in den späten achtziger Jahren durch die Austragung der Olympischen Spiele, gelang es Korea, politische Demokratie [...] zu verwirklichen."

Optimismus und freimütige selbstkritische Selbsteinschätzungen mischen sich bei Kim Byong-Ik, dessen Bewusstsein ein jüngerer Kritiker als "einen offenen Liberalismus" umschreibt, "in dem die Wirklichkeit umarmt wird." Die Rolle der "Hangul-Generation" wird historisch etwas zu unbelastet gesehen. Immerhin, das selbstironische Resümee der 80er Jahre lautet:

"Mein Leben verbrachte ich ohne große Veränderung in Ruhe und Ohnmacht."

Doch dann ging es offenbar stetig aufwärts. Hatte Kim Byong-Ik schon in den Jahren davor zur Freude aller Frankfurter Lokalpatrioten die "kritische Theorie der Frankfurter Schule" und vor allem den moderat-kritischen Protagonisten eines "dritten Wegs", Erich Fromm, lesen können, so durfte man nun sogar ganz andere Lektüren und Positionen riskieren. Wieder Kim Byong-Ik:

"Während der letzten zehn Jahre konnte ich Marx lesen, der in unserer Geschichte mit einem Tabu belegt war, und auch eine Reisebeschreibung durch Nordkorea. Auch durch Rußland konnte ich reisen, was mir früher unmöglich erschienen war. Selbst Kritik an Amerika fand ich jetzt verständlich, was ich früher nicht gewagt hätte."

Für eine Rezeption der nordkoreanischen Literatur in Südkorea sieht der liberale Kim Byong-Ik heute kein Hindernis mehr: "Für diejenigen, die nach der Befreiung Koreas (1945) die Grundschule besuchten, und für die folgenden Generationen bedeutet 'die moderne koreanische Literatur' nur die Literatur von Südkorea, und man konnte auch die Literatur derjenigen nicht lernen, die während des Kriegs nach Nordkorea gingen [...] Die Literatur Nordkoreas war in Südkorea abwesend [...] Heute kann man die nordkoreanischen Romane und Gedichte [...] erwerben und lesen, und ich hoffe, daß sie nun in den Kreis der koreanischen Literatur eingeordnet werden."

Das ist eine erstaunlich hoffnungsvolle Perspektive für ein Land, das im 20. Jahrhundert unter permanenten Bedrohungen und Drohungen, unter wechselseitigen Traumatisierungen gelitten hat. Besonders die mit großer Teilnahme und auch Spannung zu lesende Erzählungsliteratur dokumentiert ungeschönt den Riss, der in jeder Hinsicht durch das Land geht.

Einige thematische Motive und Personenkonstellationen kehren in dieser Literatur augenfällig wieder. Zerbrochene Familien - Reflex eines gespaltenen Landes - stehen oft im Mittelpunkt. Die Väter fehlen; sie sind gefallen oder haben sich davongemacht, Frau und Kinder verlassen, oder sind zum Gegner übergelaufen: Die zum bundesrepublikanischen psychoanalytischen Schlagwort gewordene Rede von der "vaterlosen Gesellschaft" trifft im eminentesten Sinn auf Korea zu. Vaterlosigkeit auch im weiteren Sinn: Die von der patriarchalen konfuzianischen Tradition institutionalisierten Dorfoberen werden entmachtet. Die Vertreter der Diktaturen der autoritären Regimes, der Besatzungsmächte und ihre Kollaborateure - parteiamtliche Ideologen, Spitzel, Geheimdienstler, politische Polizisten, Folterer, aber auch die symbolischen Repräsentanten der Vater-Imago: Lehrer, ältere Brüder, jugendliche oder noch kindliche Leitwölfe, die ihre Kameraden terrorisieren - füllen das Vakuum.

Die allein gelassenen, auf sich selber verwiesenen Mütter werden gezwungenermaßen zu den Ernährerinnen - um jeden Preis, zur Not auch um den der Selbstprostitution. Die vaterlose Gesellschaft wird zur Muttergesellschaft. Emanzipation vollzieht sich unprogrammatisch, leise und unspektakulär, aber um so nachhaltiger.

Die halb oder ganz verwaisten Kinder, weitgehend sich selber überlassen, scheinen die wehrlosen Opfer zu sein. Aus ihrer Perspektive wird oft erzählt; die eigene Erfahrung der Autoren geht in ein stark autobiografisch geprägtes Schreiben ein. Ein überraschend großer Teil der koreanischen Gegenwartsliteratur ist auf Grund dieser Perspektivierung Kinder- und Jugendliteratur, aber so, dass die Erwachsenen davon unmittelbar mit berührt sind. Die Kinder erleiden die familiäre und die politische Spaltung am massivsten. Dennoch sind sie nichts weniger als passiv. Mit allen Mitteln suchen sie ihren Weg. Sie sind die frühreifen Realisten. Trotz des Mitgefühls, das die Autoren ihnen entgegenbringen, werden sie ganz und gar nicht idealisiert. Das geschundene "Land der Morgenstille" ist in keiner Hinsicht das Asyl des Rousseauismus.

Gemeinsam ist fast allen Figuren, dass sie Entwurzelte sind. Von Gnaden einer heillosen Geschichte werden sie zu neuen Nomaden, zu Umgetriebenen zwischen den geographischen, politischen, kulturellen Welten und versuchen eben darin, eine fragile, aber selbstbehauptungsfähige und womöglich vermittelnde Identität zu finden. Ein "Dritter Weg" ist für sie lebensnotwendig.

Gattungsgeschichtlich gesehen fangen etliche Romane und Erzählungen, begründet wieder in der patriarchalen konfuzianischen Tradition eines bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts agrarisch geprägten Landes, als eine Art von koreanischer Dorfgeschichte an, um mit oktroyierten Flüchtlingswanderungen vor wechselnden Fronten in Richtung der großen Städte zu enden.

Stilistisch scheinen die meisten Autoren konventionellen Schreibweisen und einem konsolidierten Realismus zu folgen. Das ist - weiß Gott - nichts Ehrenrühriges, genauso wenig, wie die Spannung und die Teilnahme, die sie durchweg zu erzeugen wissen, gegen sie spricht. Realistische Schreibweise und ein massiver Problemdruck hängen hier zusammen. Die Literaturkritik von Kim Byong-Ik sieht den Realismus in einem weiteren Sinn ohnehin für unvermeidlich an:

"Die literarischen Werke in Korea werden, mit unterschiedlicher Deutlichkeit, immer aus konkreten Beobachtungen der Wirklichkeit heraus geschaffen. Auch ein Werk, das scheinbar mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat, kann der Wirklichkeit nicht entkommen. Mag es surrealistisch, phantastisch oder bloß unterhaltsam geschrieben sein, es bleibt mehr oder minder einem Realismus verhaftet. 'Realismus' hier nicht als eine literarische Technik, sondern als eine Geisteshaltung verstanden."

Allenfalls das, was Kim Byong-Ik im Anschluss an Sartres Plädoyer für die "engagierte Literatur" die "Engagement-Debatte" nennt, dann die "Forderung nach einer Arbeiter und 'Min-jung-Literatur', das heißt einer 'Literatur der Volksmassen'", haben seit den sechziger und siebziger Jahren wie in anderen Ländern auch ein verengtes Verständnis von "Realismus" nahe gelegt. Im Übrigen sorgen die Schwierigkeiten der interkulturellen Vermittlung bei europäischen Lesern in jedem Fall für ein hinlängliches Maß an Verfremdung. Gerade "realistische" Literatur aus einem in jedem Sinn fernen Land wie Korea hat paradoxerweise die Faszination des "Exotischen".

Aber es fehlt auch nicht an Gegenströmungen zum vorherrschenden koreanischen Realismus. Mythisches, Legendarisches, Sagenhaftes ist öfters präsent. Der große Roman "Der silberne Hengst" des 1941 in Seoul geborenen Ahn Jung-Kyo etwa verdankt seinen Titel einer koreanischen Barbarossa- und Kyffhäuser-Sage und der Rettungsphantasie, welche die Jungen eines bedrohten koreanischen Dorfes der Gegenwart damit verbinden:

"Der Überlieferung nach waren vor vielen, vielen Generationen, in der Zeit, als die Yi-Dynastie regierte, Feinde aus dem Norden ins Land eingedrungen. Sie steckten die großen Städte und Tempel in Brand und rückten, nachdem alle Generäle gefallen waren, bis zur Hauptstadt vor. In dieser schlimmen Lage, in der es um die Existenz des Landes ging, wurde im Generalsberg bei Kumsan der General geboren, der das Land retten sollte. Er [...] schrie bei der Geburt so laut, daß Himmel und Erde vor Angst erzitterten. Schon ausgewachsen sprang er heraus, vom Berggeist für die Rettung des Landes geschickt, und sein drei Klafter langer Bart wallte bis auf die Brust hinab. Im Augenblick seiner Geburt sprengte Donner die sieben dunklen Kuppeln des Himmels in tausend Splitter, und ein silberner Hengst sprang mit blendend flatternder Mähne aus dem grünen Tal des Phönixberges, der östlich der Kreisstadt lag. Der silberne Hengst galoppierte quer über die hoch am Himmel stehenden regenbogenfarbenen Wolken zum General, der schon auf ihn wartete. Der Kriegsheld schwang sich in die Luft, stieg auf den Schimmel, stieß einen die Erdachse erschütternden Schrei aus und ritt gen Hauptstadt. Sein Ziel war es, die Barbaren zu vernichten und den König zu retten. Schon innerhalb dreier Tage erfüllte er seinen Auftrag und rettete das Vaterland mit seinem riesigen Schwert, das er über seinem Kopf schwang. Mit jedem Schwertstreich sollen dreitausend Feinde gefallen sein!

Am meisten faszinierte die Jungen der Gemeinde an dieser Geschichte, daß der General eine unbekannte unterirdische Abkürzung bis zur Hauptstadt genommen hatte, die er aus den Händen der Feinde befreien wollte. Er soll drei Tage und drei Nächte ohne Pause durch eine Höhle geritten sein."

Der 1939 in Chanhung im Südwesten Koreas geborene Yi Chong-Jun wiederum erzählt in "Nolbu hat viele Lehrer" und "Sim Ch'ong hat gute Beziehungen" märchenhafte altkoreanische Volksdichtungen - "Pansori"-Stoffe - in einer nicht naiven, ironisch gebrochenen, aber keineswegs parodistischen Stillage nach. Wie gegenwartsnah Yi Chong-Jun zur Not auch schreiben kann, zeigt sein Roman "Das geheime Feuerfest", der keine der beiden verfeindeten koreanischen Parteien schont und es riskiert, die Innenansicht eines südkoreanischen Geheimpolizisten zu bieten, der seinen "Job" macht und gleichwohl gemäß der auch aus der deutschen Geschichte vertrauten schizoiden Psycho-Logik der Schergen die menschliche Nähe sucht.

"Nolbu hat viele Lehrer" ist die Geschichte eines sehr ungleichen Brüderpaares. Der ältere Nolbu ist geizig und gierig. Eine "Bosheitsdrüse" inspiriert seine bösartigen Einfälle. Der jüngere Hungbu hingegen ist ein gutmütiger naiver Typ, den von einem koreanischen Parzival nur sein entwickeltes Mitgefühl unterscheidet. Am Ende wird dem Gutmenschen der verdiente Lohn zuteil. Doch auch Nolbu bekommt ein Urteil auf Bewährung. Ein sehr koreanisches Brüderdrama, dessen guter Ausgang für den Guten wie den Bösen immerhin nicht ausgeschlossen ist. Das lässt auf ein vielleicht nicht nur märchenhaft verheißungsvolles Ende der koreanischen Geschichte hoffen ... Ganz andere als konventionelle realistische Schreibweisen führen die in der koreanischen Gegenwartsliteratur sehr präsenten Autorinnen ein, zumal die jüngeren, während die 1926 geborene Pak Kyongni, die "große alte Dame" der koreanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, deren Familie durch den Widerstand gegen das südkoreanische Militärregime bekannt wurde, in ihrem 16-bändigen Jahrhundert-Roman "Ein Stück Land" noch ein enzyklopädisches historisches Erzählen kultiviert. Die Familiensaga eines Adelsgeschlechtes von der Wende zum 20. Jahrhundert bis zum Ende der japanischen Okkupation exemplifiziert hier den Konflikt zwischen Traditionalismus und Modernismus. Die 1947 geborene Oh Jung-Hee pflegt demgegenüber in ihren Romanen und Erzählungen eine weibliche Selbstverständigungsprosa, die auf äußere Spannung weitgehend verzichtet, ihre Intensität dafür aus den Zwischentönen, dem Ungesagten gewinnt. Die sonst schon fast standardisierte doppelte koreanische Traumatisierung - die Erfahrung des geteilten Landes, die Absenz des Vaters, die noch Oh Jung-Hees Titelerzählung im "Hof meiner Kindheit" prägt - wird in dem vierzehn Jahre später publizierten Roman "Vögel" umgedreht. Nun sind es die Frauen, die Mütter, die den Vater als entmachteten Gewalthaber von ehedem hinter sich lassen. Rollenkonform zwar wieder die Tochter, die bei dem pflegebedürftigen jüngeren Bruder die Mutter vertritt. Aber aus ihrer Perspektive und mit ihren Vorzeichen wird der Roman erzählt.

Eine Sonderstellung nimmt die Lyrik ein, die sich in Korea eines ganz anderen Zuspruchs als hierzulande erfreut. Sie ist weit mehr als die orthodoxe, dem Proletkult als neuer Variante der Volksfrömmigkeit verpflichtete "Literatur der Volksmassen" populär, obwohl sie durchweg andere Wege als die des Realismus geht. Die 1955 in Ulchin geborene Kim Hyesoon, deren Gedichtband "Die Frau im Wolkenschloß" die Ansiedlung "auf einem anderen Stern" favorisiert - unter koreanischen Bedingungen ist das plausibel genug -, lässt in ihren so exquisiten wie gesuchten "kühnen" Metaphern die Sterne gerne in den Brunnen des Himmels fallen. Ich zitiere ihr Gedicht "Mondaufgang":

Der Nachthimmel duckte sich wie ein Brunnen
Die Sterne fielen hinein
Endlos fielen sie
In der Ferne wurde der Rockzipfel einer Frau bis zum Brunnen des Himmels hinaufgezogen
Zu wenig Luft, zu wenig Luft, auch die schwarzblauen Zipfel der Brandung sprangen hinauf
Der Körper der Frau flog aus dem Brunnen hoch
höher und noch höher in die Luft
fiel herab

Die Vögel, die auf dunklen Ästen saßen, erwachten
Als einer von ihnen einen Angstschrei ausstieß
wurde die Haut der Nacht aufgerissen
Das Blut mit fischigem Geruch quoll hervor

Wie ein Bogen dehnte sich der Körper der Frau
Ein milchiges Stück Fleisch
streckte das Köpfchen unter der Frau heraus
Die schwarzblauen Zipfel der Wellen deckten die Frau zu
Die Frau schob das Neugeborene den Bauch hoch
öffnete ihr durchnässtes Hemd, packte den flüssigen Mond hinein und legte ihn an die Brust
Endlich atmeten die Bäume der Nacht unten am Hang auf

Der 1921 in Seoul geborene, 1968 bei einem Autounfall ums Leben gekommene Kim Soo-Young, der im Korea-Krieg von den nordkoreanischen Truppen zwangsrekrutiert wurde, aber auch dem südkoreanischen Präsidenten "Mister Rhee" unangenehme Erinnerungen verdankt, geht wieder direkter auf die politische Situation des geteilten, im autoritären Sinn freilich über weite Strecken seiner Geschichte homogenen Landes ein. Kim Soo-Young verbindet ein anarchisches Temperament mit einer Heidegger-fähigen Intelligenz. Zu seinen Lebzeiten ist nur der Lyrik-Band "Spielerei im Mond" erschienen. Jetzt liegen aus seinem nachgelassenen Werk unter dem Titel "Der Wächter der Wolke" ausgewählte Gedichte auf Deutsch vor. Ich zitiere sein Gedicht "Schnee", das dem in Korea wie in Japan so beliebten, scheinbar so ästhetizistischen, mystischen Sujet eine unverhohlen poetisch-politische Wendung gibt:

Poe
Widerstandsgedichte
sind eine Störung.
Für immer und ewig
Stören
sie nur.
Schau den Schnee an
der unaufhörlich fällt.
Schau
auf die Flocken
die sich wie ein Gürtel
lustvoll
um den Himmel
am Berghang
schmiegen.

Poet
mutiger Dichter
... es ist umsonst.
Bedenken wir's
da ist das Volk
das Volk jenseits des Berges.
Immer geht das Volk voran.
Wenn dir auch zum Lachen ist
setze dich ruhig nieder
lege die Hände in den Schoß
an dem Tag, an dem Schnee fällt.
Wenn die Landstraßen verschneit sind

[...]

ist ein Vorwärtskommen
für Polizeiautos
Jeeps
und auch Busse
zur Endstation schwierig.
Wenn du dich auch unterdrückt fühlst
so sehr
Poet
bleibe ruhig.
Immer geht das Volk voran
Poet
mutig hast du dich geirrt.
Dein Widerstand war vergebens.
Widerstandsgedichte sind mehr als vergebens
und gewaltige Störungen.
Halte still
deine Hände und deinen Körper.
Sieh nur wie der Schnee fällt...

Auch Kim Soo-Youngs Gedicht "Frauen" gibt einem klischeehaft vertrauten Thema - das schlangenhafte, Eva-gemäße 'Wesen der Frau' - im Blick auf das Gefangensein in Kriegszeiten eine neue Deutung:

Frauen sind konzentrierte Wesen.
Sie lehrten mich die Traurigkeit beim Anblick der Adern an ihrer Stirn.
Freudlos machte der Krieg.
Noch mehr Trübsal brachte die Gefangenschaft.
Wie schwermütig erst waren die Frauen in dieser Zeit.
Das Leiden verstärkte meine Anspannung.
In meinen Gedanken wurde der Krieg zu einem mysteriösen Zusammenprall
meiner Anspannungskraft mit der angeborenen Leidensfähigkeit der Frau.
In diesem Sinne segnete ich den Krieg.

Irgendeine Mutter eines Sechstkläßlers beim Elternabend
enthüllte mir schlagartig das Wesen der Frau.
Diese Adern an ihrer Stirn.
Diese Konzentration
rührt aus Zeiten der Vertreibung aus dem Paradies.
Das Wesen der Frau ist Selbsterfahrung.
Wendig wie die Schlange
weiß sie die Gefangenschaft zu nutzen.
In diesem Sinne gab ich der Sühne den Segen.

Für deutsche Leser am zugänglichsten, gleichwohl unverwechselbar die Lyrik des 1941 in Seoul geborenen Kim Kwang-Kyu. Seine Gedichte, auf Deutsch ist eine Auswahlausgabe unter dem Titel "Die Tiefe der Muschel" erschienen, haben es auch hierzulande zu einigem Erfolg gebracht. Kim Kwang-Kyu vereint Witz und Poesie mit Engagement. In seinen besten Stücken hat er etwas von einem koreanischen Heine. In seiner Rolle als Germanist schreibt er in dem Gedicht "Der Rhein" an den Ufern desselben das Heraklitische "Panta rhei", "Alles fließt", zu einer vom Wein verflüssigten Erfahrung um:

Morgens in Assmanshausen
Vor dem Fenster des Hotels Krone
fließt der Rhein in voller Breite
Auch mitternachts
als ich vom Wein tief in den Schlaf gefallen war
ist das Wasser weiter geflossen ohne daß es eingeschlafen wäre
Auch in den letzten zwanzig Jahren, die ich nicht hier war
floß der Rhein so voll, als ob er überfließen wollte
Dein Sein und mein Nichtsein
Nach einer Übernachtung fahre ich ab
Ich blicke immer wieder zurück, bedauernd,
daß das Wasser weiter und weiter fließt.

Politisch programmatisch, aber auch nicht ohne Witz, geht es im Entreact des Gedichtes "Dazwischen" zu:

Dächten Dichter nur an Gedichte
Dächten Politiker nur an die Politik
Dächten Wirtschaftsbosse nur an die Wirtschaft
Dächten Arbeiter nur an die Arbeit
Dächten Juristen nur an Paragraphen
Dächten Soldaten nur an Krieg
Dächten Techniker nur an Fabriken
Dächten Bauern nur an die Landwirtschaft
Dächten Beamte nur an Verwaltung
Dächten Gelehrte nur an die Wissenschaft
Dann müßte die Welt doch ein Paradies werden, meint ihr, aber
wenn wirklich
niemand

Zwischen Gedicht und Politik
Zwischen Politik und Wirtschaft
Zwischen Wirtschaft und Arbeit
Zwischen Arbeit und Paragraphen
Zwischen Paragraphen und Krieg
Zwischen Krieg und Fabriken
Zwischen Fabriken und Landwirtschaft
Zwischen Landwirtschaft und Verwaltung
Zwischen Verwaltung und Wissenschaft

Dächte, dann blieben nur

Toilettenpapier
Macht
Geld
Ausbeutung
Gefängnis
Ruinen
Verschmutzung
Pestizide
Unterdrückung
Statistiken

und sonst gar nichts

Das Gedicht "Ost-West-Süd-Nord" schließlich lässt keine Himmelsrichtung aus, um zu zeigen, dass die oktroyierten "Grenzerfahrungen" eines gespaltenen Landes nicht notwendigerweise naturgemäß sind:

Im Frühling breiten sich die grünen Wellen
nach Norden aus nach Norden
durch keinen Stacheldraht und keinen Todesstreifen gehindert
hinauf nach Norden
Über die Berge
durch Felder
laufen auch die Azaleen und Forsythien zum Norden über
Im Sommer sind der Kuckuksruf
und auch das Fröschequaken
überall gleich
Im Herbst breiten sich goldene Wellen
nach Süden aus nach Süden
durch keine entwaffnete Zone und keine Zugangssperre gehindert
herunter nach Süden
Über die Flüsse
durch die Täler
kommen auch Kosmeenblüte und Ahornfärbung herunter nach
Süden
Im Winter ist der Geschmack von erfrischendem Rettichwasser
und scharfer Gemüsesuppe
überall gleich
Den Schneesturm
der die ganze Welt in Weiß vereint
egal ob Ost ob West ob Süd ob Nord
kann niemand aufhalten

Die dominierende Gattung ist indessen auch in der koreanischen Gegenwartsliteratur die Prosa, vor allem der Roman. Er scheint am besten geeignet, ebenso eingehend wie differenziert die Last einer unseligen politischen und kriegsgeschädigten Geschichte zu vergegenwärtigen. Aber der ungeschulte westliche Leser ist hier ebenfalls vor einem allzu platten realistischen Verständnis gewarnt, zumal dort, wo sich der Roman der Gegenwart im Medium traditioneller Sujets zuwendet. Wenn besagter Leser, das modische "Feng Shui" gerne mit einer bestimmten Möbeleinrichtung, bestenfalls einer erlesenen Innenarchitektur verwechselnd, plötzlich in Kim Wonils Roman "Wind und Wasser" mit einer Kultur konfrontiert wird, für die der richtige Begräbnisort wichtiger als die Wohnung zu Lebzeiten ist, ist er gut beraten, nicht allzu selbstgewiss in die Realismus-Falle zu tappen. Auch ohne Zen-Erfahrung zu haben, muss er lernen, dass ein Ochse hier nie nur ein Ochse ist. And a rose is not only a rose is not only a rose ...

Wind und Wasser, im Chinesischen eben "Feng Shui", im Koreanischen "Pung Su", sind die Elemente, welche die "Geomantik", die auf das "I Ging" und die "Yin und Yang-Lehre" zurückgehende "Wahrsagerei von der Erde", die "Erdwissenschaft", in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen versucht. Der ideale Ort, sei es einer zum Leben oder zum Begrabensein, ist dann gefunden, wenn er nach Süden ausgerichtet und im Osten und Westen von Bergen umgeben ist. Mit den historisch-politischen Himmelsrichtungen hat das gottlob nichts zu tun. Das Wasser bindet die kosmische Qi-Energie, der Wind trägt sie fort; denn - wer litte daran nicht - es kann auch zu viel an Energie geben.

Nichts weniger als harmonisch aber über weite Strecken Kim Wonils bewegender Roman von 1985 - man kann den Autor noch einmal mit Nachdruck zu den möglichen koreanischen Nobelpreis-Kandidaten rechnen. Die Haupthandlung setzt nach dem Korea-Krieg ein. Erzählt wird die Geschichte von Yi Intae, der sich nach einem umgetriebenen Leben zum Sterben anschickt und zusammen mit dem Geomanten Choe den richtigen Begräbnisplatz sucht. In den zwanziger Jahren hat Yi Intae in der Mandschurei im koreanischen Widerstand gegen die Japaner gekämpft. Er ist von ihnen gefangen genommen und unter der Folter zum Verrat gezwungen worden. Dann haben ihn seine eigenen Landsleute als Verräter gebrandmarkt und noch einmal gefoltert: Man hat ihm die Ohren abgeschnitten. Nur der humane Witz des Helden und die Reminiszenzen seiner eindrucksvollen sexuellen Vitalität sorgen für eine gewisse Aufhellung. Am Schluss stimmen die Träger, die in einer Totensänfte Yi Intaes Leiche zu dem Platz in den Bergen bringen, an dem er Frieden finden soll, ihren Trauergesang an:

"Wer einmal gegangen ist, kehrt nicht wieder,

Wenn der Mensch stirbt, vermißt man sieben Ellen Tuch

Man wickelt ihn ein von Kopf bis Fuß,
und er geht ins Reich der Toten,

Im Reich der Toten ist das Leichentuch die Wohnung,

Kiefer und Bambus sind der Zaun,
Kuckuck und Buchfink Freunde,

Die Berge türmen sich, die Nacht ist tief,
wie traurig ist die Seele des Menschen ...

Immerhin, der Begräbnisplatz gewährt Yi Intae ein letztes Asyl. Nur im Tode ist die Harmonie, die das zerrissene Land sonst nicht geben kann.

Das scheint in gewisser Weise für Lee Myong Chun, die Hauptfigur in Choi In-Huns Roman "Der Platz", ebenfalls zu gelten, nur dass er die so genannte "letzte Ruhe", ohne dass er zuvor überhaupt jemals Ruhe gefunden hätte, an einem "tiefblauen Ort" im südchinesischen Meer findet. Aber das ist auch das einzig Versöhnliche an der sonst heillosen, tief resignativen Geschichte eines Ortlosen, dessen Lebensweg im Suizid endet. Der Roman, 1960 nach dem ersten koreanischen Tauwetter erschienen, danach in fünf umgearbeiteten Fassungen, die werkgeschichtlich der Odyssee des Autors und seines Protagonisten entsprechen, ist inzwischen zu einem Klassiker der koreanischen Gegenwartsliteratur geworden.

Choi In-Hun, 1936 in Nordkorea geboren, konnte 1950, zu Beginn des Korea-Krieges, mit seiner Familie auf einem amerikanischen Kriegsschiff in den Süden fliehen. Aber dort wurde er ebenso wenig heimisch: Er blieb ein Nomade zwischen den Fronten. Unverhohlen auch seine Distanz zum amerikanischen Reich der Freiheit. "Wie wäre es", so die Frage seines Romans, "mit Politik?" Die Antwort: "Politik? Das, was man heutzutage die koreanische Politik nennt, versorgt sich doch mit Abfällen aus den Kantinen der amerikanischen Armee, sie sucht Konservenbüchsen aus Blech aus den Abfallhaufen [...]" des Landes.

Nach der Befreiung des Landes von den Japanern studiert Choi In-Huns Held in Südkorea Philosophie. Ausgerechnet der deutsche Idealismus, das Kantische "Ding an sich" hat es ihm angetan. Doch die Philosophie ist im Süden immer marxismusverdächtig. Wegen seines Vaters, der in den Norden gegangen ist und dort als einflussreicher Parteifunktionär arbeitet, wird Lee Myong Chun von der politischen Polizei verhört und gefoltert. Nach einer unglücklichen Liebesbeziehung wechselt auch er die Fronten und geht in den Norden. "In seinen Augen war Südkorea ein Ort ohne Menschen, ein Nicht-Ort" - alles andere als eine Utopie. Doch wenn er sich revolutionäres Engagement und einen daraus gespeisten Elan vital im Norden erhofft hat, so stößt er dort nun auf den ödesten Parteikommunismus und einen stalinistischen Personenkult. "Eine bourgeoise Gesellschaft, die die Maske der Revolution und des Volkes trug ... Und dann die Parteimitglieder, die sich weigerten, mit ihrem eigenen Kopf zu denken. Sie unterschieden sich nicht von kleinbürgerlichen Angestellten ... Der Grund war wahrscheinlich, daß es in Nordkorea nie eine Revolution gegeben hatte ... Sie war nur ein Geschenk der Roten Armee ... Da gab es weder die Freude noch die Verzweiflung des Sturms auf die Bastille noch den verwegenen Angriff auf das Winterpalais ... Es war ein zaristischer Staat, in dem man die Bibel ... durch Marx ersetzt hatte."

Von dem nun zum Dissidenten werdenden Lee Myong Chun wird das obligate Selbstbezichtigungsritual erwartet. Die politische, auch eine weitere erotische Enttäuschung ist abgrundtief. Und nur in der Liebe wäre Hoffnung: "Die Wahrheit, an die ein Mann wirklich glauben kann, dürfte etwa den Umfang eines weiblichen Körpers haben ... Was ich nicht sehe, kann ich auch nicht glauben ... 'Genosse Lee, was würden Sie denn machen, wenn Sie an der Macht wären?' 'Ich? Jedenfalls würde ich nicht solchen Unsinn machen wie diesen Krieg. Wenn ich an der Macht wäre, würde ich folgenden Befehl an meine Minister ausgeben: Die Bevölkerung der sogenannten Demokratischen Republik Nordkorea ist verpflichtet, das Leben zu lieben. Wer nicht liebt, ist ein Volksfeind, ein kapitalistischer Hund und ein Spion der Imperialisten. Wer nicht liebt, wird ohne weitere Fragen im Namen des Volkes niedergemacht.'"

Nach einem weiteren Frontwechsel kehrt Lee Myong Chun mit den nordkoreanischen Truppen nach Südkorea zurück, wo er ziemlich überraschend selber zum Leiter einer Polizeiabteilung, vom Gefolterten zum Folterer und Vergewaltiger seiner ehemaligen Geliebten wird: die fatal geglückte Identifikation mit der Rolle des Aggressors. Dann Kriegsgefangenschaft. Nach Kriegsende können die Gefangenen wählen, in welches Land sie wollen; Lee Myong Chun entscheidet sich für ein neutrales Land - die plausibelste Schlussfolgerung aus seinen Grenzerfahrungen. Auf der Schiffsreise nach Indien, begleitet von Möwen, "die die Seelen der toten Matrosen oder die Seelen der Frauen sind, die die Matrosen nie vergessen können", mündet sein Irrweg ins Meer.

Choi In-Huns Roman ist ein eminent politisches Werk, ohne darin aufzugehen. Beißend die Kritik an den Systemen hüben wie drüben. Die "vaterlose Gesellschaft" herrscht landesweit. Allerdings mag man Autor und Held das Ausmaß der Fronten- und Rollenwechsel, zumal die Folterer-Karriere, nicht ganz glauben. Hier hat der Versuch, die Tragödie eines zerrissenen Landes im Leben einer Person zu komprimieren, etwas zu viel des Schlechten getan. Umso weniger kann der gelegentlich etwas penetrante Symbolismus von Möwen, toten Matrosen und den toten Seelen der Frauen für eine auch nur halbwegs überzeugende Versöhnung sorgen. Was der fragwürdige Held den Bonzen und Bürokraten vergeblich zu vermitteln versucht, trifft manchmal auch den Roman: "Ich glaube daß Realismus bedeutet, die Realität zu beschreiben."

Der schon gestreifte Symbolismus "silberner Hengste" bekommt auch Ahn Jung-Kyos gleichnamigem Roman nicht gut. In allem Übrigen handelt es sich um ein eindrucksvolles Werk, das in dem Maße an Realismus gewinnt, wie es die Realität des Land in drastischer Konkretion beschreibt. Der Autor weiß, was Krieg ist, aus sattsamer eigener Erfahrung. Im Juni 1950 ist er mit seiner Mutter und den Geschwistern vor der sich nähernden Front in den Süden geflohen. Die vierjährige Schwester Ki-ja musste von der entkräfteten Mutter auf der Flucht zurückgelassen werden. Nach dem Studium der Anglistik begann 1965 Ahn Jung-Kyos Militärdienst. Als Soldat und Kriegberichterstatter nahm er am Vietnam-Krieg teil. Sein Roman "Der weiße Krieg" legte 1989 die verschwiegene Beteiligung Südkoreas offen. Von 50.000 südkoreanischen Soldaten fielen 4.000; 8.000 wurden verwundet - als ob das gemarterte Land nicht schon selber genug an Kriegen gehabt hätte. Erste Versionen des Romans "Der silberne Hengst" sind schon vor dem "Weißen Krieg" entstanden. Ahn Jung-Kyo gelingt es, das politische und geschichtliche Thema, wie bei Cho In-Hun sind es die Grenzerfahrungen des Korea-Krieges, mit dem inneren Konflikt der koreanischen Gesellschaft zwischen einem konfuzianisch geprägten Traditionalismus und einer Moderne, in der die alten patriarchalen Normen nicht mehr gelten und die Frauen notgedrungen das familiäre Überleben in die eigene Regie nehmen, plastisch zu verbinden.

Der Roman erzählt die Geschichte des Jungen Man-sik und seiner Mutter, der verwitweten Ol-le im Dorf Kumsan nahe der Demarkationslinie des 38. Breitengrads. Kindermund spricht hier auch politisch Wahrheit:

"Sie wollen uns also befreien?" fragte Ki-dschun.
"Ja", antwortete Kang-ho.
"Was für eine Befreiung ist das denn eigentlich? Wir sind hier einfach nackt, und ohne was getan zu haben, werden wir befreit?"
"Ja.
"Das ist ja komisch! Mit der Befreiung wird sich auch nichts ändern!"
"Die Befreiung hat nur mit den Erwachsenen zu tun". erklärte Tschan-dol. "Wir brauchen nur zuzugucken."
"Wie meinst du das denn?"
"Du Dummkopf, verstehst du denn nicht? Ob wir befreit werden oder nicht, wird dadurch entschieden, welche Seite im Krieg siegt. Wenn unsere Soldaten siegen, werden wir von der Volksarmee befreit."
"Als die Volksarmee aber hierher kam, haben sie auch gesagt, daß sie uns befreien wollen", fiel Kang-ho ein.
"Heißt das dann, daß wir immer wieder befreit werden? Sowohl von der Volksarmee als auch von den UN-Soldaten?" wollte Ki-dschun wissen. "Ich verstehe das einfach nicht."

Einer der Jugendlichen möchte freiwillig in den Krieg. Aber er hat nicht mit der Reaktion des Vaters gerechnet.

"Was? Du willst zum Militär gehen, um den Krieg schnell zu beenden. Bist du von Sinnen? Durch die Teilnahme Chinas wird es nun ein großer Krieg. Wann soll der Krieg zu Ende gehen, wenn alle zum Militär gehen und die Zahl der Soldaten ständig anwächst? Wenn sich die Truppen vermehren, vergrößert sich auch der Krieg. Wenn man das Messer in der Hand hält, bekommt man den Wunsch, jemanden zu töten."

Ol-le wird von zwei amerikanischen Soldaten vergewaltigt, dem Proporz der "political correctness" gemäß von einem Schwarzen und einem Weißen, anschließend nach der Moral, dass nicht die Schänder, sondern die Geschändeten schuld sind, von ihrer Dorfgemeinschaft exkommuniziert. Nach der Vergewaltigung ist es im "Land der Morgenstille" unter einem koreanischen Himmel, den schon Choi In-Huns Roman "Der Platz" vergeblich als "formvollendeten", "stets gut gelaunten Lebenskünstler" beschworen hatte, ein wenig morgendlicher Morgen:

"An diesem Tag würde es sehr heiß werden, denn es war nebelig, und die Sonne wirkte hinter dieser Nebeldecke wie ein Vollmond, der sich in weißen Strahlen ausbreitete und in den östlichen Himmel hineinschmolz."

Um zu überleben, wird die exkommunizierte Ol-le in "Omaha", dem amerikanischen "Misthurenviertel" im Kreise unbefangenerer Kolleginnen - "Im Krieg gibt's ja sowieso keinen Unterschied zwischen den Berufen" - zur Hure der "Yangkees" - geschrieben wird das sarkastischerweise wie "Yang", das Männlichkeit symbolisierende Komplement des taoistischen "Yin". Die UNO-Soldaten insgesamt heißen die "Bengkos", die "Leute mit den großen Nasen", nun ja. An Potenzsymbolen ist kein Mangel. Dem missbrauchten Land ist freilich nur bedingt damit gedient.

Bewegend die Selbstbehauptungskämpfe des Jungen, der ebenfalls von seiner Kameradengruppe ausgeschlossen wird, die ein cooler Kinder-Diktator terrorisiert. Das von den Vätern hinterlassene Machtvakuum wird stets von Stellvertretern gefüllt, die nicht einmal Surrogat-Väter sind. Vergeblich versucht der Sohn, die präpubertären Altersgenossen am Zuschauen im Hurenhaus zu hindern. Voyeurismus und Moral gehen die übliche Mesalliance ein. Mit dem Dorfältesten, dem Repräsentanten der tradierten Ordnung, rechnet die in die Selbstständigkeit getriebene, zur Autonomie vergewaltigte Mutter schneidend ab: "Ol-les Gesicht errötete vor Scham, und sie senkte ihren Kopf, aber dann sah sie den Alten wieder direkt an, als gefiele ihr diese beschämende Reaktion nicht. Deutlich formulierte sie Wort für Wort: 'Ob ich mich nicht schäme, was ich getan habe? Nein, gar kein bißchen! Früher habe ich mich viel geschämt, aber jetzt nicht mehr [...] Sie meinen, daß ich in diesem Dorf anständige Arbeit bekomme?' Ol-le wandte sich zu den versammelten Leuten und schrie: 'Gibt's hier jemanden, der bereit ist, mir eine anständige Arbeit zu geben?' Dann wendete sie ihren Blick dem Alten zu und sprach weiter: 'Wenn ich Sie darum bitten würde, würden Sie mir irgendeine Arbeit geben?'"

Als eine andere Mutter Courage des dreijährigen - inzwischen 53-jährigen - koreanischen Krieges geht Ol-le am Ende mit ihren Kindern vor der herannahenden Front auf die Flucht:

"Das dumpfe Geräusch der Kanonenschüsse, das ab und zu aus dem Norden kam, hinter sich lassend, schloß Ol-le sich mit ihren zwei Kindern dem Flüchtlingsstrom an. Ihre Dauerwelle war unverändert, aber statt der bunten, westlichen Kleider hatte sie sich wie früher eine breite Frauenhose und darüber noch zwei Röcke gegen die Kälte angezogen. Auf dem Rücken trug sie Nan-hi, von deren Gesicht [...] nur noch die beiden Augen zu sehen waren."

Der Weg zu einer erst aufgedrungenen, dann entschieden behaupteten Autonomie bestimmt auch Kim Yooyoungs 1998 erschienenen Roman "Der Stachelrochen". Der 1939 geborene, aus der koreanischen Provinz stammende Autor hat wie Pak Kyongni als Verfasser eines vielbändigen historischen Romans, der unter dem sprechenden Titel "Die Metzger" das Geschick eines Sklaven unter dem Militärregime der Koryo-Dynastie vergegenwärtigt, weithin Beachtung gefunden. "Der Stachelrochen", angesiedelt in einem koreanischen Bergdorf, ist der Gegenwart näher gerückt. Vordergründig ist der Roman weit weniger politisch. Aber auch er führt wieder auf die vaterlose Gesellschaft Koreas zurück. Der Vater hat hier Frau und Kind wegen einer anderen Frau verlassen. Einstweilen hängt er als symbolischer Trockenfisch über der Küchentür. Tatsächlich ist er weder Fisch noch Fleisch.

Kim Yooyoung hat sich von der Misere seines Landes den Witz nicht nehmen lassen. Der inzwischen 14-jährige Sohn Seyong, Halbwaise seit seinem achten Lebensjahr, spielt mit den von der Mutter gebastelten Rochendrachen. Doch dann füllt das zugelaufene 16-jährige Mädchen Samnye, das die Mutter anfangs prügelt, ohne es loswerden zu können, vitaler als symbolische Trockenfische die Leerstelle. Samnye verschwindet schließlich wieder, einstweilen spurlos. Dafür kommt ein zweites Findelkind hinzu, das sich als uneheliches Kind des Vaters entpuppt. Doch als der väterliche Stachelrochen schließlich selber zurückkehrt - plötzlich herrscht Überbevölkerung im Land der Leerstellen - und den Sohn zur Begrüßung mit dem Charme eines gnadenlos guten Gedächtnisses an seinen alten Sehfehler erinnert, lässt die Mutter den Vater ihrerseits sitzen und geht mit unbekanntem Ziel fort. Aus der scheinbar wieder komplettierten vaterlosen Gesellschaft wird die mutterlose. Das Ende ist offen: die gespaltene Familie wird vorerst nicht ganz. Wie sollte sie auch, wenn das geteilte Land nicht ganz werden kann.

Auf dem Boden der vaterlosen Gesellschaft ebenfalls angesiedelt die halbverwaiste Familie in Kim Yooyoungs früherem Roman "Ein Fischer bricht das Schilfrohr nicht". Hier ist der Autor sehr direkt politisch. Satirische Kabinettstücke in ein umgangssprachliches Deutsch übersetzt bieten zwei Vernehmungen durch die südkoreanische politische Polizei, schöne Belege für das, was die Macht am allerwenigsten mag: die Beförderung ihrer Vertreter zu den "passiven Humoristen". Verhöre, in der koreanischen Gegenwartsliteratur diesseits wie jenseits des Bambusvorhangs allgegenwärtig, können von eher sarkastischem Temperament nicht kalt lassen, wenn nur die Macht auf die List trifft: Die erste Vernehmung gilt einem Ladenbesitzer, der in ein Uhrengeschäft gewechselt ist, "weil Uhren nicht verfaulen". Es geht um politische Zeitmessung durch die Literatur:

"'Ich hab [...] sogar ein Amulett am Türstock befestigt.'
'Warum denn das?'
'Damit sich nie mehr ein böser Geist nähern kann.'
'Böser Geist? Was soll das sein?'
'Was meinen Sie was das sein soll? 'n Dämon natürlich.'
'Ein Dämon, der einen Kommunisten ertappt?'
'Warum sollte er 'nen Kommunisten ertappen?'
'Meinst Du, daß er ihn nicht erwische darf?'
'Nein, Herr Kommissar, so hab' ich das 'nich gemeint.'
'Wie dann?'
'Ein Roter sollte durchaus hinter Gitter.'"

Das zweite Mal wird der Sohn, aus dessen Perspektive der Roman erzählt ist, in Gegenwart seines Lehrers befragt:

"Als ich [...] in das Zimmer trat, sagte der Lehrer mit dem Kinn auf mich zeigend:
'Das ist der Schüler.' [...]
Der Lehrer begann:
'Kim Hyongsok!'
'Ja?'
'Du brauchst keine Angst zu haben. Sitz ganz bequem! Es passiert nichts. [...] Du mußt keine Angst vor dem Mann haben, der neben mir sitzt, weil er für den Staat arbeitet.'
Es wundert mich bis heute, warum man vor einem Menschen, der für den Staat arbeitet, keine Angst haben soll [...] Der Mann [...] sprang auf. Er öffnete das Schiebefenster [...] Man konnte sehen, wie vier oder fünf Schüler, die sich vor dem Fenster herumgetrieben hatten, erschraken. [...] Der Mann schrie hinter den rennenden Kindern her:
'Wenn ihr euch noch mal anschleicht, schneid ich euch die Vorhaut ab!'
Der Mann setzte sich wieder, wobei er darauf achtete, daß seine Hosenbeine keine Falten warfen [...]"

Ohne die wenigstens partielle Entlastung durch die Satire auf kastrationsgefährdete Vorhäute und faltenlose Hosenbeine, vielmehr beklemmend ernsthaft Yi Munyols Schüler-Roman "Der entstellte Held". Die inneren Spannungen, die bleibendenden autoritären Strukturen des scheinbar demokratisierten Landes sind schwerlich prägnanter darzustellen. Die Biografie des 1948 geborenen Autors ist keine lineare Erfolgsstory: Erst nach einer langwierigen Krankheit, dem Schul- und Studienabbruch und einem Leben als Obdachloser in Pusan hat er seinen Weg zum auch von der Kritik hoch geschätzten koreanischen Bestsellerautor gemacht. Sein 1987 erschienener Roman hat das Ende des Regimes von Rhee Syngman zum zeitgeschichtlichen Hintergrund. Manchmal überschreitet der Roman die Grenze zur plakativen Parabel. Die autoritäre Gesellschaft Südkoreas wird in diesem asiatischen Pendant zu Robert Musils kakanischem Kadettenroman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" als diktatorisch regierte "Klassen"-Gesellschaft porträtiert. Aber Yi Munyol gelingt es, so differenziert und spannungsvoll aus der Sicht seiner Schülergestalten zu erzählen, dass statt eines platten politischen Lehrstücks ein passagenweise atemberaubendes Psychogramm entsteht.

Der Ich-Erzähler des Romans, der 12-jährige Han Pyongtae, wird von einer angesehenen Schule in der Hauptstadt auf eine Provinzschule versetzt. Dort begegnet er dem Klassen-Dikator Om Sokdae, der mit Peitsche und Zuckerbrot, Gewaltanwendung und wohldosierten Belohnungen ein raffiniertes, auf der schließlich freiwilligen Selbstunterwerfung und Kollaboration beruhendes System von Herrschaft und Nepotismus errichtet hat. Ihm gehört prinzipiell alles, ihm arbeiten alle zu.

Und selbst der anfängliche vehemente Widerstand des ehemaligen Großstadtschülers ist seinem zynischen Charme nicht gewachsen. Erst als der Betrug des vermeintlichen Musterschülers Om Sokdae enttarnt wird, kommt es zu seiner Entmachtung. Doch noch die demokratische Wendung - das ist die Paradoxie der geschenkten, nicht in eigener Regie eroberten koreanischen Demokratie - muss den Schülern von der etablierten Autorität eines Lehrers buchstäblich eingebläut werden:

"Der Lehrer rief sechs Jungen auf. Es waren die besten Schüler der Klasse [...] Mit seiner Art, wie er den Stock locker hängen ließ, deutete er ihnen an, daß er Gnade vor Recht ergehen lassen würde, wenn sie die Wahrheit sagten [...] In dem Augenblick, als der letzte Schüler seine Erklärung abgegeben hatte, veränderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck. 'So ist das also!', sagte er verächtlich. Er betrachtete die sechs Schüler mit eisigem Blick und brüllte plötzlich so laut, daß alle zusammenfuhren: 'Los, bückt euch' [...] Dann verabreichte er jedem zehn Schläge. 'Wenn es nur irgend möglich gewesen wäre, hätte ich euch verschont [...] Aber [...] was euch rechtmäßig zustand, wurde euch genommen und ihr wart nicht einmal wütend darüber [...] Nicht auszudenken, was für eine Welt ihr aufbaut, wenn ihr erwachsen seid!"

In eben diese Welt führt das Nachspiel des Romans dreißig Jahre später. Es ist die Welt des koreanischen Wirtschaftswunders. Han Pyongtae ist selber Lehrer, Nachhilfelehrer, geworden. Von ehemaligen Mitschülern hört er, dass Om Sokdae es zum Wirtschaftsmafioso gebracht hat. Unverhofft begegnet er ihm, indessen als er von zwei Polizisten verhaftet und geschlagen wird. Der Rest ist offen. Der Ich-Erzähler weiß nicht zu sagen, ob er Erleichterung über den so schlagend gerechten Lauf der Welt oder Pessimismus empfindet.

Die schon mehrfach zu beobachtende Neigung der koreanischen Gegenwartsliteratur zu offenen Schlüssen ist - ihrerseits durchaus schlüssig - in dem "open end" der koreanischen Geschichte begründet.

Alles in allem hoffnungsvoller trotz gravierender Irritationen scheint der Roman "Menschen aus dem Norden. Menschen aus dem Süden" von Lee Hochol, das abschließende Stück dieser Erkundung der zeitgenössischen koreanischen Literatur. Nach Choi In-Hun ist Lee Hochol der zweite Autor nordkoreanischer Herkunft, der in einer deutschen Übersetzung erscheint. Lee Hochol wurde 1932 im nordkoreanischen Wonsan geboren, zu Beginn des Korea-Krieges von der "Volksarmee" eingezogen und im Herbst 1950 gefangen genommen. Aber nach seiner Freilassung wurde er auch im Süden nur bedingt heimisch: Als "linker Demokrat" wurde er politisch verfolgt.

Sein 1996 publizierter, stark autobiografisch geprägter Roman schildert aus der Sicht eines koreanischen Oberschülers, der als Rekrut in die Wirren des Krieges gerät, eine Leidenserfahrung hüben wie drüben des 38. Breitengrades. Eben weil sie allgegenwärtig ist, kann die Struktur des Romans episodisch oft mäandrierend sein.

Über weite Strecken scheint allerdings wie bei Choi In-Hun ein konsolidierter antikommunistischer Affekt zu dominieren. Die nordkoreanische Propaganda etwa wird nicht ohne satirischen Witz als Lärmbelästigung erfahren. Der stalinistische Personenkult treibt die schönsten Blüten:

"Die Befreiung hatten wir dem großen Führer Stalin und der großen tapferen Roten Armee zu verdanken. Daher wurden Porträts von Stalin in großer Anzahl an allen möglichen Stellen aufgehängt, in Schulen, Amtsgebäuden und Bahnhöfen. Mit den vielen in satten Grundfarben gemalten Bildern des großen Führers Stalin, der mit seiner engen Stirn und dem dunklen Schnurrbart wie der Zauberer und Direktor eines Zirkus aus Zentralasien, Kasachstan oder Kirgisien aussah, und mit den aus allen Gassen im Wind erschallenden ungewohnten Liedern war der Hauch der neuen Zeit schon tief eingedrungen."

Am Ende steht eine vom der Parteidisziplin diktierte Erschießung, mit welcher der Roman eine unerwartet düstere Wendung nimmt:

"Die Luft war ziemlich kalt, da die Nacht fortgeschritten war, als wir die drei Leichen vergraben hatten [...] Die Lichter auf den Feldern rissen noch größere Löcher in die Nacht, je näher wir kamen."

Doch Lee Hochol verleugnet auch seine Erfahrungen mit der südkoreanischen politischen Polizei nicht. Nur ist selbst dort jene verheißungsvollere Erfahrung zu machen, die der Titel des Romans annonciert: Es kommt im Norden wie im Süden auf die Menschen, die Individuen an - nicht eigentlich auf die Systeme, und wenn indirekt doch auf die Systeme, so deswegen, weil sie bestimmte Charaktere favorisieren. Über den ersten Militärpolizisten, von dem der gefangen genommene Ich-Erzähler befragt wird, heißt es:

"Er schien diesem Krieg gegenüber als einfacher Koreaner einen ganz eigenen, wenn auch nicht scharf umrissenen Standpunkt zu haben, der an keine bestimmte Person, keine Partei oder an ein großes System gebunden war. Als mir das plötzlich klar wurde, regte sich in mir ein starker Neid. Er steckte zwar in der Uniform eines Militärpolizisten, aber was zäh in seinem Innern ausharrte, war der Kern dessen, was das koreanische Volk ausmacht."

Der Glaube, einen intakten Kern des gespaltenen koreanischen Volkes ausmachen zu können, mag sich einem nur zu verständlichen Rückgriff auf volksmythologische Phantasien verdanken. Aber dieser "einfache Koreaner" - und der Autor mit ihm, wie seine Biografie zeigt - scheint tatsächlich "einen ganz eigenen" und gerade deswegen "nicht scharf umrissenen" parteilichen und politischen Standpunkt zu haben. Würde man Lee Hochol wie die meisten seiner Kollegen, die hier Revue passierten, "politisch unzuverlässig nennen, so wäre das wahrscheinlich das höchste Kompliment, das man der Literatur dieses gespaltenen Landes mit ihren leidvollen Grenzerfahrungen überhaupt machen kann."

Titelbild

Munyol Yi: Der entstellte Held. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hiyoul Kim und Heidi Kang.
Pendragon Verlag, Bielefeld 1999.
126 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3929096730

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Kwang-Kyu Kim: Die Tiefe der Muschel. Gedichte.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Heyong Chong und Matthias Göritz.
Pendragon Verlag, Bielefeld 1999.
116 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3929096633

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Byunk-Ik Kim: Grenzerfahrungen. Die koreanische Literatur der Gegenwart. Essays.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Moongyoo Choi und Taewon Yoin Zusammenarbeit mit Sylvia Kaufmann.
Pendragon Verlag, Bielefeld 1999.
141 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3929096854

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Chungjun Yi: Das geheime Feuerfest. Erzählungen.
Herausgegeben von Heyong Chong und Günther Butkus.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Sophia T. Seo.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2000.
176 Seiten, 15,40 EUR.
ISBN-10: 3929096803

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Soo-Young Kim: Der Wächter der Wolke. Gedichte.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Sylvia Bräsel und Miy-He Kim.
Edition Peperkorn, Thunum 2000.
144 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3929181304

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Jung-Hee Oh: Der Hof meiner Kindheit. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Kyung-He Brixel und Christa Wittermann.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
264 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3929181355

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In-Hun Choi: Der Platz. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hi-Youl Kim und Ralf Deutsch.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
205 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3929181436

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Jong-Kyo Ahn: Der silberne Hengst. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Miran Kwak und Jürgen Kreft.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2001.
269 Seiten, 15,40 EUR.
ISBN-10: 3934872107

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Kim Jooyoung: Der Stachelrochen. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Hyunsook Younn-Groß und Nikolaus Groß.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
206 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3929181347

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Hyesoon Kim: Die Frau im Wolkenschloss. Gedichte.
Herausgegeben von Heyong Chong und Günther Butkus.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Young-Ok Kim.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2001.
110 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3934872042

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Heyong Chong / Günther Buktus (Hg.): Edition moderne koreanische Autoren - Ein Lesebuch.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2001.
124 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3934872190

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Chungjun Yi: Nolbu hat viele Lehrer, oder: Zweierlei Menschen. Eine altkoreanische Volksdichtung neu erzählt.
Illustriert von Bok-T'ae Kim.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Sang-Kyong Lee in Zusammenarbeit mit Erika Reichl, Brigitte Schantl und Andreas Schirmer.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
128 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3929181401

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Chong-Jun Yi: Sim Ch'ong hat gute Beziehungen. Eine altkoreanische Volksdichtung neu erzählt.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Sang-Kyong Lee und Andreas Schirmer.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2001.
126 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 392918141X

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Kim Jooyoung: Ein Fischer bricht das Schilfrohr nicht. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Kihyang Lee und Martin Herbst.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2002.
264 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3929181509

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Hochol Lee: Menschen aus dem Norden, Menschen aus dem Süden.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Ahn In-Kyoung und Heidi Kang.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2002.
222 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3934872239

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Jung-Hee Oh: Vögel. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Edeltrud Kim und Sun-Hi Kim.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2002.
126 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3934872263

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