Zweifache Initiation in die Welt der modernen Literatur

Yi Munyols Roman "Jugendjahre" als Roman einer doppelten Bewährung

Von Joo-Ok JoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joo-Ok Jo

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit der Öffnung, der verspäteten Konfrontation mit dem augenstechenden Lichtstrahl der westlichen Modernität, war die Geschichte der so genannten Dritten Welt eine unvermeidbare Reise durch das Reich der Riesen. Es bedeutete, mit den voll ausgestatteten Riesen Riesenspiele nach deren Regeln bar jeder Rüstung und Vorkenntnisse kämpfen zu müssen.

Unvorbereitet vor rund hundert Jahren an die Küste des unmessbaren Meeres der Modernität gestellt, merkten Koreaner, welche Gewalt sie ans Meer gezogen hat und dass es kein Zurück mehr gibt. Noch auf ihrer Heimaterde wussten sie plötzlich nicht mehr, wo sie standen. Um sich zu orientieren und aufs Meer zu wagen, benötigten sie den Umriss und die Fluten des Meeres sowie den Schiffbau.

Die Intellektuellen von den Welträndern mussten es sich zur Aufgabe machen, die gesellschaftlichen Systeme der westlichen Ländern zu durchschauen und zugleich deren geistigen Hintergrund zu meistern. Es war unumgänglich, sich auf diesem Weg Fremdes anzueignen, das sie selber veränderte. Deswegen war die Neuzeit für die Randländer auch die Zeit des Kampfes, sich zu bewahren und am Ende sich zu beweisen. Trotz der vielen Opfer auf diesem Weg war die Modernität eine unabwendbare Herausforderung und bestimmte das Schicksal mancher Menschen, die an die Quelle des Lichts gelangen wollten. Die moderne Literatur als Kristallisation des Geistes der Modernität faszinierte die Intellektuellen an der Frontlinie.

Yi Munyols Roman "Jugendjahre" handelt von einer solchen Bestrahlung, Herausforderung und Bestimmung des Schicksals. Oder von der Verblendung, der blutigen Stirn eines Jugendlichen, und von dessen Bekenntnis zur Literatur.

Wie der Titel andeutet, ist dieser Roman ein Rückblick auf die Jugend eines koreanischen Jungen von etwa 20 Jahren, und zwar auf drei Jahre um 1970. Nach der Kolonialherrschaft und dem Bürgerkrieg und noch vor dem so genannten koreanischen Wirtschaftswunder, mangelte es an allem. Auch der geistigen Infrastruktur ging es nicht besser, elterliche Obhut wurde wegen finanzieller Not nur mangelhaft geboten, und bei den zahlreichen elternlosen Kindern fehlte jede Unterstützung bei der Erziehung.

"Jugendjahre" beschreibt einen einsamen Kampf, den ein Jugendlicher, besessen von Wissbegier nach modernem, westlichem Geist und von der Ambition, dies einmal in seiner eigenen Sprache wiedergeben zu können, ohne Leitung und Obhut führt. Es besteht aus drei in sich geschlossenen Geschichten, drei Etappen einer doppelten Initiation: "Das Flussdelta", "Die schöne Jugendzeit" und "Der Winter jenes Jahres".

Das Flussdelta, in das die erste Geschichte eingebettet ist, ist von Schilf dicht bewachsen. Hier stranden Menschen aus Randgruppen aller Art. In diese Landschaft kehrt der achtzehnjährige Held von einem zweijährigen Vagabundendasein zu seinem älteren Bruder zurück, der aber auch nicht viel zu bieten hat.

Diese Rückkehr ist der Tausch der Welt, die er "düsteren Romanen und Schriften nordeuropäischer Schriftsteller sowie pseudowissenschaftlichen Werken entnommen hatte, gegen ein normales Leben" sowie das Nachholen dessen, was die Gleichaltrigen in der Schule lückenlos vorbereitet hatten. Aus Angst, auf seinen Wanderungen vom Leviathan verschluckt zu werden, hat sich der Held entschlossen, sich eine Eintrittsbeglaubigung in die Gesellschaft zu verschaffen, was hier bedeutet, den Zulassungsschein zur "besten" Universität zu ergattern. Der unter koreanischen Verhältnissen fast unmögliche Erfolg des auf sich gestellten Einzelkämpfers wird zum ersehnten Trittbrett, das ihn in die höhere Gesellschaft befördern soll.

Aber auch an der Universität muss er an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen: gegen die Armut und gegen die Wissensgier, die keinen Raum für den Alltag lässt. Dazu tritt die neue Ambition literarischen Schaffens, die vom Helden noch ängstlich gehandhabt und vom Erzähler leicht untertrieben geschildert wird.

Der ironische Titel der zweiten Geschichte, "Die schöne Jugendzeit", bezeichnet ironisch Eskapaden und ein katastrophales Ende, beides begleitet von übermäßigem Alkoholkonsum. Das Trinken war damals unter Intellektuellen und Künstlern noch weit verbreitet und Teil ihrer Kultur. Besonders seit der Kolonialzeit war es ein Mittel, den Hunger im eigenen Leib zu verdrängen und von den Sorgen des Lebens wenigstens zeitweilig sich zu befreien. Die Euphorie, die Sterne am geistigen Himmel Europas kennen zu lernen und darüber zu diskutieren, dazu unerwartete Erfolge in einem studentischen Literaturzirkel, führen zu ausschweifenden und immer wilder werdenden Trinkgelagen, die Gelegenheit bieten, das Gelernte auszuprobieren.

Schon längst zu Tode erschöpft, überschuldet und moralisch gestrandet verlässt der Held Universität und Hauptstadt, den erkämpften Vorraum zur besseren Gesellschaft, und begibt sich in der dritten Geschichte wie ein Landstreicher in abgelegene Bergdörfer.

Es ist ein asketischer Gang des Sich-Leerens und des Sich-Reduzierens. An einem verschneiten Tag zwingt er sich durch tief bedeckte Schneefelder in Richtung Ostküste. Er will unverzüglich das wilde Meer erreichen und fragen, ob er "diesen bitteren Kelch wegwerfen oder ihn bis zur Neige leeren soll". Unterwegs in Gefahr zu erfrieren, fertigt er ein Testament an, das verdeutlicht, dass dieser Weg keine einfache Todesschwärmerei war.

Am Meer angelangt, im Ansturm der Wellen, spürt er seine Winzigkeit. Als ihn jedoch eine Welle erfasst und ihn zu verschlingen droht, reagiert sein Körper impulsiv mit Bewegungen, die ihn retten. Erschöpft bricht er in Tränen aus.

Die entscheidende Frage, die er an das Meer stellt, sollte er eigentlich sich selbst stellen, doch er wusste, dass er noch nicht im Stande war, sie zu beantworten. Entschlossen zum Leben ist der Held zu einem zähen Marsch mit langem Atem durch das Leben bereit - aus der Vakuumwelt des Geistes heraus, befreit von der Angst, ob er durchhalten könnte, und befreit von der Skepsis, ob die Kunst, die Literatur seiner Hingebung würdig sei. Hier bekennt er sich zu dem Lebensziel, literarisch zu wirken.

Die Erhabenheit eines Berges immitten der absoluten Leere und Stille der verschneiten Landschaft unterwegs lässt ihn nicht nur die Schönheit erleben, sondern auch das Schöne erkennen. Die letzte Geschichte ist Selbstvergewisserung, eine Fahrt ins offene Meer, in Form eines Privatrituals, das ans Meer gerichtet wird, statt an Gott, der für ihn vom modernen Geist getötet wurde.

Der Roman weist Parallelen zum Werdegang des Autors auf. Yi schrieb einmal, dass "Jugendjahre" von all seinen Büchern ihm am nächsten ist. Erzählt wird aus der Sicht des Helden, zehn Jahre nach den Ereignissen, was dem Abstand zwischen der Studienzeit des Autors und dem Erscheinen der Erzählungen 1979-1981 entspricht.

Yi Munyol zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern Koreas. Von seinen Werken, die häufig von universellen Themen wie Gott und Glaube, Machtmechanismen und -verhältnissen oder Ideologie handeln, sind nun vierzig Bücher in Übersetzungen erschienen. Das Meer der Weltliteratur ist überquert.

Die Erzählweise des Werkes ist ein balanciertes Spiel zwischen verborgener Traurigkeit und affektierter Heiterkeit, zwischen wehmütigem Stolz auf die Intensität der Suche und gelassener Distanzierung von der übertriebenen Sophisterei der Jugend.

Diese ästhetische Qualität des Originals stellt eine hohe Herausforderung an die Übersetzer dar, und die deutsche Übersetzung lässt das spüren. Die metaphysischen Überlegungen des Originals sind in mehreren Fällen gekürzt. Dies wirft die alte Frage nach Rechten und Pflichten des Übersetzers neu auf.

Titelbild

Munyol Yi: Jugendjahre. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Christina Youn-Arnoldi und Cornelia Roth.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2004.
213 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3934872743

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