Die Voyeure der feuchten Völker

Bernd Brunner schreibt über die "Erfindung des Aquariums"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn die Weltpolitik die Wiedervereinigung gefährdete oder böse Journalisten nach Schwarzgeldern sehr unangenehme Fragen stellten, fand der massive Staatsmann Ruhe vor seinem geliebten Aquarium: Helmut Kohl wusste und weiß sich in seinem voyeuristischen Faible für die feuchten Völker verbunden mit einem Heer Gleichgesinnter in Ost und West, in Süd und Nord und in der Vergangenheit. So eröffnete Gustav Jaeger 1860 in Wien eines der ersten öffentlichen Seewasseraquarien auf dem europäischen Kontinent.

Was aber fasziniert Kohl genau wie die anderen an diesem Glaskasten-Miniatur-Meer? Ist es tatsächlich nur die Ruhe? Ist es die Freude des Züchters, der dem Fachhandel mit jeder gelungenen Barben-Geburt ein Schnippchen schlägt? Ist es wissenschaftliches Interesse gar, das der forschungswillige, aber finanzschwache Aquarianer im Little-Great-Barrier-Reef seines Wohnzimmers befriedigen kann? Ist es schlicht ästhetisches Vergnügen an der Formen- und Farbenvielfalt von gründelnden Nilhechten, Guppies und Doktorfischen?

In seinem handlichen Buch "Wie das Meer nach Hause kam. Die Erfindung des Aquariums" findet Bernd Brunner nicht nur auf diese Fragen allerlei Antworten. Und obwohl er in der Antike beginnt, die Zeit der großen öffentlichen Aquarien vor gut hundert beschreibt und bis in die Gegenwart führt, geht es doch weniger kulturwissenschaftlich dröge als rasch und frisch zur Sache.

Am meisten interessiert Brunner sich, daraus macht er keinen Hehl, für die Frühzeit der Bewegung vor etwa 200 Jahren, als religiöse Schwärmer, Meereskundler, Volkserzieher und spleenige Sonderlinge begannen, Fische und Algen ins traute Heim zu schleppen. Dass man über die Tiefsee fast gar nichts, ja nicht einmal über die Gewässer der Festlandsockel viel wusste, weil es noch keine Tauchboote oder -anzüge gab, machte einen bedeutenden Teil der Faszination der Glasbehälter aus, in denen im 19. Jahrhundert vor allem Engländer Meeresgetier und -pflanzen zu halten versuchten. Ungeheuer vermutete man noch lange Zeit in den unerreichbaren Abgründen der See, absonderliche Kreaturen, vielleicht sogar Fabelwesen. Das Aquarium domestizierte in seinem überschaubaren Rahmen nicht nur die Bewohner, sondern auch die Geschichten dieses Fabelreiches. In der hochbeliebten Familienzeitschrift der Zeit, "Der Gartenlaube", konnte man 1854 dazu lesen: "Der tyrannische, allgewaltige, unbändige Ocean fluthet auf unserem Tische als die unerschöpfliche Freudenquelle unserer Gesellschaften, unserer Einsamkeit, ohne daß wir uns die Füße naß zu machen oder ihm gar den üblichen Tribut aus unserem Magen zu opfern brauchen."

Pioniere wie Jeanette Powers und Philip Henry Gosse sorgten mit ihrem Beispiel als Sammler, mit Vorträgen und Büchern für eine richtige Aquariumsmode, die zum Aufbau eines Wirtschaftszweiges führte, der heute immer noch - von konjunkturellen Schwankungen abgesehen - floriert. Denn die Begeisterten benötigten nicht nur geeignete Becken, deren Formen sich zum Teil den Dekor-Trends der Zeit auf wunderliche Weise anpassten, sondern auch frisches Meerwasser zum Austausch. Sie brauchten, weil ihnen die Fische oft wegstarben wie die Fliegen, Ersatz, sie brauchten Futter, sie brauchten Fachliteratur, um zu lernen, welche Pflanzen, Fische und Schnecken einander nicht auffraßen. Sie brauchten, als die Elektrizität ihren Siegeszug angetreten hatte, Pumpen und Beleuchtungskörper.

Aktuell werden circa 500 bis 600 Millionen Fische jährlich für den häuslichen Bedarf und Zoos gefangen, wobei die Verluste ähnlich hoch sind wie beim Landtier-Fang: man geht von über 50% aus. Diese unangenehme Wahrheit verschweigt der Autor, wie andere auch, nicht.

Brunner geht zwar zuweilen etwas flott über Phänomene hinweg, nennt manchmal knapp Namen und streift nur die Gegenwart, doch alle wichtigen gedanklichen Tendenzen, die zugrundeliegenden Motive für die Aquariumslust, dazu viele Daten, technische Entwicklungen und Kuriosa kann man seinem nicht unangenehm lakonisch geschriebenen Büchlein entnehmen. Das liebevolle Layout, das schöne Format und die zahlreichen (selten leider unscharfen) historischen Abbildungen steigern dabei das Verständnis des Lesers sehr, so dass man - jedenfalls als glücklicher Besitzer einer solchen - nach etwa drei Stunden Schau- und Leselust tief befriedigt und reich belehrt in seine "See im Glase" schauen kann.

Titelbild

Bernd Brunner: Wie das Meer nach Hause kam. Die Erfindung des Aquariums.
Transit Buchverlag, Berlin 2003.
141 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3887471849

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