Bildung durch Wissenschaft

Die Germanistik und ihre Öffentlichkeiten

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichten, die Germanisten und ihre Beobachter heute über die Germanistik und ihre Beziehung zur Öffentlichkeit erzählen, gleichen in vieler Hinsicht Kafkas Geschichte vom Hungerkünstler. Der Germanistik scheint es wie diesem merkwürdigen Künstler zu gehen. Seine Perfektion vermag er grandios zu steigern, aber am Ende sieht ihm keiner mehr zu. Über seine Hungerkunst heißt es, man habe sich an die "Sonderbarkeit" gewöhnt, "in den heutigen Zeiten Aufmerksamkeit für einen Hungerkünstler beanspruchen zu wollen". Am Ende nimmt seinen verwahrlosten Platz ein junger, vitaler Panther ein. Wer im Spektrum der Wissenschaften diesem Panther entspricht, dem die Germanistik Platz macht, sei dahingestellt.

Öffentliche Germanistenschelte

Der Vergleich der germanistischen Wissenschaft mit der öffentlich missachteten, ignorierten und zum Verschwinden verurteilten Hungerkunst ist natürlich - wie schon die Erzählung Kafkas selbst - maßlos übertrieben. Die Germanistik muss einem nicht besonders Leid tun. Die oft larmoyanten Übertreibungen versuchen sich, sofern sie von Germanisten selbst kommen, vielfach an die Maxime zu halten: "Wer klagt, gewinnt." Ob sie Erfolg hat, lässt sich bezweifeln. Und die stereotypen Klagen über die Germanistik, die in regelmäßigen Abständen von Ex-Germanisten in den Feuilletonredaktionen angestimmt werden, mögen zwar manche Schwäche des Faches durchaus treffen, disqualifizieren sich jedoch oft durch ein frappierendes Maß an Unkenntnis. "Stereotypen der Germanistikschelte", wäre ein lohnendes Thema für eine germanistische Abschlussarbeit. Der Schaden der Schelte hält sich in Grenzen. Zur Öffentlichkeit, die ein Fach hat, gehören nicht zuletzt diejenigen, die es studieren. Und an Studierenden fehlt es der Germanistik keineswegs. Sie ist nach wie vor ein Massenfach, und das scheint sich vorerst nicht zu ändern. Die Öffentlichkeitswirksamkeit, die die Germanistik allein durch ihre Hochschullehre erreicht, ist, bei allen Klagen über den Verlust an öffentlichem Interesse, nicht gering zu schätzen. Sie könnte zur Selbstlegitimation durchaus ausreichen. Vermittelt über die Ausbildung von Deutschlehrern, denen wiederum keiner, der eine deutsche Schule besucht, entgehen kann, strahlt ihre öffentliche Wirksamkeit letztlich nahezu auf jeden aus, der in deutscher Sprache sozialisiert wird. Und wer immer deutsche Literatur liest, ist mit der Germanistik zumindest indirekt in Berührung gekommen. Die Verlagsbranche ist voll von ausgebildeten Germanisten. Deutsche Schriftsteller haben in großer Zahl Germanistik studiert. Martin Walser promovierte über Kafka, Enzensberger über Brentano. Die Reihe der literarisch prominent gewordenen Ex-Germanisten ist unüberschaubar lang, sie reicht von Uwe Timm bis hin zu Elke Heidenreich. Die Literaturkritik in Deutschland ist, von Reich-Ranicki abgesehen, dem die Immatrikulation in die Germanistik von den Nationalsozialisten verweigert wurde, von ehemaligen Germanistik-Studenten dominiert. Frank Schirrmacher promovierte bei Hans Ulrich Gumbrecht über Kafka, Volker Hage bei Karl Ludwig Schneider über literarische Techniken der Montage, Thomas Steinfeld bei Heinz Schlaffer. Ulrich Greiner, Sigrid Löffler, Iris Radisch, sie alle studierten Germanistik.

Germanistik studiert haben auch der Feuilletonchef der "Zeit" Jens Jessen und sein Stellvertreter Thomas E. Schmidt. Beide kommentierten im Vorfeld des Germanistentages die Lage des Faches: Jessen philologisch durchaus solide mit quellengestützten Erinnerungen an die politisierte Literaturgeschichtsschreibung der siebziger Jahre, Schmidt ebenfalls mit Blick auf die Geschichte der Literaturwissenschaft, doch - zumindest dem eigenen Anspruch nach - auch auf die Gegenwart. Der Umfang der beiden Artikel (zwei ganze Zeitungsseiten!) entspricht der Bedeutung, die Schmidt dem Fach ausdrücklich zuschreibt. "Die Germanistik ist nach wie vor die Grundschule, in der viele Deutsche ihr kulturelles ABC lernen, ob sie später im Beruf etwas mit der Literatur zu tun bekommen oder nicht." Die Kulturschule der Nation ist allerdings in der veröffentlichten Meinung des Feuilletons über sie, das zeigen auch diese beiden Artikel wieder, zum Buhmann der Nation geworden. Und gelegentlich tauchen dabei sogar neuartige Vorwürfe auf. Was die beiden "Zeit"-Artikel sich dazu haben einfallen lassen, ist ziemlich infam: Die Germanistik habe zwar inzwischen ihre nationalsozialistische Vergangenheit aufgearbeitet, aber nicht die ähnlich fatale Geschichte ihrer Politisierung in den siebziger Jahren.

Einen "Krisenbericht" nennt Schmidt seinen Artikel und darin ist er symptomatisch. Wenn von der Krise der Geisteswissenschaften, also auch der Germanistik, die Rede ist, geht es selten um wissenschaftliche Leistungen, um Gewinne und Verluste an Einsichten. Nach ihnen wird kaum gefragt. Und wenn dies mal passiert, dann vorrangig in Form von Anklagen oder Enthüllungen. Als im vorigen Jahr das wahrhaft verdienstvolle "Germanistenlexikon" erschien, skandalisierte der "Spiegel" die Lebensgeschichten, genauer: die Geschichte der Jugend, etlicher Professoren. Und als in diesem Sommer der dritte Akt der jüngsten nationalen Tragikomödie mit dem Titel "Rechtschreibreform" inszeniert wurde, bescheinigte man dem germanistischen Mangel an Öffentlichkeit unter dem kriminalromanähnlichen Titel "Geheimsache Deutsch" gar konspirative Qualitäten. Zweimal dürfen Sie raten, in welcher Zeitung folgende Sätze über die germanistische Sprachwissenschaft zu lesen waren: "Nun sind es germanistische Sprachwissenschaftler gewohnt, sich hinter den Reihen ihrer bibliographischen Befestigungsanlagen zu verschanzen. Öffentlichkeit meiden sie eher; sie bevorzugen den Aufenthalt im akademischen Milieu, wo sie Netzwerke und Zitierkartelle bilden. Dort, in den Schattenfugen germanistischer Zeitschriften, probten sie die Reform, lange bevor sie Wirklichkeit wurde." (Hannes Hintermeier, FAZ, 23.8.04)

Die Rituale der Germanistenschelte sollte man als Betroffener vielleicht mit nachsichtiger Souveränität ignorieren. Doch manchmal platzt einem doch der Kragen. Da behauptet, um noch einmal auf ihn zurückzukommen, Thomas E. Schmidt: "Die Kanonbildung ist an die TV-Selbstdarsteller und die Marketingabteilungen der Verlage übergegangen. Dabei wäre gerade in dieser Diskussion die Stimme einer ihrer Aktualität gewissen Literaturwissenschaft von Interesse gewesen." Der Satz ist durch eine Zwischenüberschrift noch hervorgehoben: "Im Streit um einen deutschen Lesekanon schwieg die Germanistik." Als ob es in unserem Fach nicht längst vor der Kanon-Konjunktur in den Feuilletons und Verlagen eine intensive und noch heute anhaltende Kanon-Debatte gegeben hätte. Was da zum Beispiel vor acht Jahren bei dem großen DFG-Symposium "Kanon Macht Kultur" an Einsichten erreicht war und wenig später publik gemacht wurde, ist von den Feuilletons, die sich des Themas später annahmen, nie eingeholt worden. Nach dem Erfolg von Wulf Segebrechts Broschüre "Was sollen Germanisten lesen", schon in den 80er Jahr in Umlauf gebracht, erschienen viele ähnliche Listen. Und schon seit Jahren gibt es kaum noch ein germanistisches Institut ohne mehr oder weniger verbindliche Lektüreempfehlungen dieser Art. (Eine umfassende Untersuchung zur Kanon-Diskussion und zu Lektüreempfehlungen an Universitäten hat Elisabeth Stuck soeben unter dem Titel "Kanon und Literaturstudium" vorgelegt.)

Die Geschichte der Germanistik seit den siebziger Jahren sei von dieser selbst bislang mit dem "Prinzip des kommunikativen Beschweigens" verdeckt worden. Wirklich? Schon vor sechs Jahren fand in Hildesheim eine Tagung zur "Geschichte der Germanistik der 70er Jahre" statt. Die Vorträge erschienen bald darauf als Buch (vgl. die Rezension in literaturkritik.de 07/2002). Der Beitrag des Mitherausgebers Silvio Vietta geht mit dieser Geschichte ähnlich polemisch ins Gericht wie jetzt in der "Zeit" Jens Jessen, der sein Bild von der damaligen Germanistik mit Zitaten aus kommentierten Vorlesungsverzeichnissen der FU Berlin und Flugblättern germanistischer Fachschaften belegt. Das sind in der Tat Quellen, die in der Rekonstruktion der Geschichte eines Faches zu berücksichtigen sind. Repräsentativ für den Zustand der damaligen Germanistik sind sie jedoch nicht. Der Untertitel des genannten Tagungsbandes kennzeichnet ihn differenzierter. Er lautet: "Zwischen Innovation und Ideologie".

Schmidt kennt keine der Veröffentlichungen, die es zur Geschichte der Germanistik nach 1968 mittlerweile schon gibt. Welches Wissen über die gegenwärtige Germanistik haben ihre Verächter eigentlich? Eine einzige germanistische Buchpublikation jüngeren Datums erwähnt der "Krisenbericht". Den Titel zitiert er freilich falsch. Das Buch heißt "Körperströme und Schriftverkehr" (nicht "Schriftkultur"). Für Schmidt ist es ein Beispiel dafür, mit welchem "Gaga" (laut neuestem Rechtschreibduden: "nicht recht bei Verstand") man heute habilitiert werden könne. Der Autor des Buches ist Albrecht Koschorke. 2003 erhielt er von der Deutschen Forschungsgemeinschaft den hochangesehenen und höchstdotierten Forschungsförderpreis der Bundesrepublik, den Leibniz-Preis. Gaga?

Die Zeiten, in denen in der "Zeit" einige unglückliche Vertreter des Faches regelmäßig ihre Klagen über den Niedergang der eigenen Zunft und die Blödigkeit ihrer Studenten veröffentlichen konnten, sind zum Glück vorbei. Jetzt haben die Redakteure und Journalisten die öffentliche Begutachtung selbst übernommen. Der Umfang, mit dem sie das tun, ist für Germanisten naturgemäß erfreulich, die selbstsichere Ahnungslosigkeit hingegen, mit der dies zuweilen geschieht, ist frappierend. Sie zeigt sich schon im Umgang mit dem Wort "Germanistik". Es wird weitgehend als Synonym von Literaturwissenschaft verwendet. Und mancher Literaturwissenschaftler, der von Schmidt namentlich als Repräsentant der Germanistik genannt wird, ist Romanist oder Komparatist.

"Germanistik" - ein ungeheuerliches Wort

Mit der Bezeichnung "Germanistik" hatte man allerdings schon im 19. Jahrhundert, bevor sie sich fest etablierte, seine Schwierigkeit. Der im "Internationalen Germanistenlexikon" verzeichnete Rudolf Hildebrand, geboren 1824 in Leipzig, Deutschlehrer, Mitarbeiter am Grimm'schen Wörterbuch und seit 1863 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Leipzig, nannte seinerzeit die Wörter Germanist und Germanistik "barbarisch". Sein etwa gleichaltriger Kollege Karl Weinhold konstatierte 1888, vor 1860 sei das "ungeheuerliche Wort Germanistik" "unerhört" gewesen. Wo heute öffentlich von Germanistik die Rede ist, ist sie erneut ungeheuerlich geworden, ein Gespenst, dessen man kaum habhaft wird, weil ihm kein reales, in sich konsistentes Wesen entspricht. Viele so genannte Germanisten bezeichnen sich, wenn man sie fragt, lieber als Literaturwissenschaftler, als Linguisten oder als Deutschdidaktiker denn als Germanisten. Germanistische Linguisten verstehen ihren de Saussure, ihren Chomsky, Austin, Searle oder Steven Pinker weit besser als sie ihre literaturwissenschaftlichen Kollegen verstehen, wenn diese sich auf die Erzähltextanalytik Gérard Genettes, auf die Diskursanalytik Foucaults, die Medienanalytik Vilém Flussers, die Kulturanalytik des Ethnologen Clifford Geerts oder des Kultursoziologen Pierre Bourdieu stützen oder auf die Geschlechteranalytik Judith Butlers. Eine deutsche Wissenschaft ist die Germanistik schon lange nicht mehr, zumindest nicht in ihren Theorien und Methoden. Gemeinsam ist den angeblich nationalen Germanistiken hier ihre Internationalität. Und wo die germanistischen Teilfächer, zu denen inzwischen längst auch die Fachdidaktik oder Deutsch als Fremdsprache gehören, kooperieren, ist von ihnen unter dem gemeinsamen Namen Germanistik ein Ausmaß von Inter- oder Transdisziplinarität gefordert, das nicht geringer ist als da, wo Linguisten mit Psychologen und Literaturwissenschaftler mit Ethnologen, Religionswissenschaftlern oder Romanisten oder beide mit Soziologen, Philosophen, Kommunikations- oder Medienwissenschaftlern zusammenarbeiten.

Die gewünschte, verlorene oder behauptete Einheit der so genannten Germanistik existiert heute kaum noch in der Forschung, dem umfassenden Anspruch nach allenfalls in der Deutschlehrerausbildung, in nationalen oder internationalen Germanistenverbänden und in einigen wenigen Zeitschriften wie dem Berichtsorgan "Germanistik" oder dem "Fachdienst Germanistik".

Dem Plural "Öffentlichkeiten" im Titel meines Beitrages müsste ein zweiter, hässlicherer vorangestellt sein: "Germanistiken". Und jede dieser Germanistiken hat ihre eigenen Adressaten und Öffentlichkeiten. Und mit allen haben sie erhebliche Probleme.

Fachinterne und fachexterne Öffentlichkeit

Was die Germanistik publiziert, also publik zu machen versucht, findet sogar in der eingeschränkten Öffentlichkeit der wissenschaftlichen Zunft selbst oft kaum Resonanz. Das zumindest beklagte vor gut drei Jahren wieder ein Kollege, der mittlerweile, nicht zufällig, mit Vorliebe für eine Tageszeitung schreibt. Im "Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft" eröffnete Ernst Osterkamp 2001 eine noch andauernde Diskussion über die "Medien der Germanistik", über "Anspruch und Praxis literaturwissenschaftlichen Publizierens". Sein Befund war desillusionierend, vermochte jedoch bislang niemanden zu grundlegendem Widerspruch zu provozieren. Germanistische Zeitschriften und Jahrbücher hätten ihre frühere Funktion als zentrale Medien der Literaturwissenschaft verloren. Sie werden heute kaum noch regelmäßig zur Kenntnis genommen. Die wissenschaftlichen Energien, die einstmals in sie eingegangen sind, fließen gegenwärtig vor allem in Symposiumsbände, Kongressakten oder Festschriften, um deren Qualität und Resonanz es meist noch schlechter bestellt ist. Sie werden von den Bibliotheken kaum noch gekauft und von Wissenschaftlern erst recht nicht gelesen. Die fachinterne Öffentlichkeit der Germanistik sei wie die Tagungen, die sie veranstaltet, in zahlreiche Suböffentlichkeiten zersplittert, die Fachvertreter richteten sich in spezialisierten Wissenschaftssegmenten ein, ohne die Gesamtdisziplin noch wahrzunehmen. Germanisten, die eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen versuchen und dazu stilistisch befähigt sind, vermeiden inzwischen systematisch die Medien ihrer eigenen Disziplin, veröffentlichen in Kulturzeitschriften wie dem "Merkur" oder der "Neuen Rundschau" oder noch lieber in den Feuilletons der "FAZ", der "Zeit" oder der "Süddeutschen Zeitung". Denn, so Osterkamps rhetorische Frage: "Finden die eigentlichen intellektuellen Debatten, die über die Zukunft auch der Literaturwissenschaft entscheiden, nicht in Wahrheit außerhalb des Faches statt, etwa in den Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitungen? Ja werden in einer Zeit, in der etwa die Germanistik aufgrund ihrer inneren Zerklüftung selbst kaum noch dazu in der Lage ist, aus sich heraus den Grad der Relevanz ihrer Ergebnisse für eine breitere Öffentlichkeit festzulegen, solche Relevanz- oder Irrelevanzbestimmungen nicht längst in den Feuilletons vorgenommen? Vermitteln die Feuilletons durch Auswahl und intellektuelle Pointierung nicht schon sehr viel besser zwischen den Literaturwissenschaften und der Öffentlichkeit, als deren Medien selbst es vermöchten?"

Dem entspricht die selbstbewusste Einschätzung der intellektuellen und wissenschaftlichen Funktion des Feuilletons, wie sie Frank Schirrmacher vor genau zwei Jahren (FAZ, 17.9. 2002) im Rückblick auf jene Zeit formuliert hat, in der die Zeitungen noch nicht ihrerseits mit gravierenden ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Sie hätten "mit ihren Rezensions- und Wissenschaftssektionen in den letzten Jahren im großen Umfang die Aufgaben der Universität übernommen". Er hatte dabei gewiss vor allem die eigene Zeitung, die "FAZ", im Blick. Und diese - Genaueres dazu kann man in einem erhellenden Aufsatz des Literaturwissenschaftlers Detlev Schöttker in dem edition suhrkamp-Bändchen "Universität ohne Zukunft?" nachlesen - verhielt sich keineswegs als Institution im Dienste geisteswissenschaftlicher Disziplinen, sondern stand in deutlicher Konkurrenz zu ihnen. Junge, wissenschaftlich gut ausgebildete, mitunter sogar habilitierte Redakteure schreiben auf akademischem Niveau, nur besser und verständlicher als es in der akademischen Publikationsszene üblich ist. Sie übernahmen öffentliche Aufgaben, die, so Schöttker, "bis dahin Professoren übertragen wurden. Sie haben Vorträge bei wissenschaftlichen Tagungen gehalten oder sind als Laudatoren bei literarischen und akademischen Preisverleihungen aufgetreten, waren also in vielfältiger Weise im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb präsent." Manchen Professor stellten sie währenddessen in ihren Dienst, wie Schöttker mit süffisantem Spott und leichter Überzeichnung hinzufügt. "Vertreter der Universitäten wurden dagegen mit Rezensionen von Romanen und Dissertationen beauftragt, die in der Redaktion wegen ihrer Bedeutungslosigkeit sonst liegengeblieben wären, aber besprochen werden mussten, um die erhöhten Kapazitäten auszufüllen. Wichtige Bücher haben die Redakteure selbst besprochen, während Wünsche der Rezensenten nicht akzeptiert wurden."

Vielleicht ist es inzwischen an der Zeit, dass die Universität und die Wissenschaftler in ihr Aufgaben der Zeitungsfeuilletons übernehmen, wenn sie ihre Autonomie und ihre Möglichkeiten zur angemessenen Selbstpräsentation bewahren wollen. Und vielleicht auch Aufgaben der Verlage. Denn dass die Germanistik in ihren Veröffentlichungen zu einem mehr oder weniger guten Teil von Verlagen abhängig ist, die ihrerseits krisenbelastet unter dem Diktat ökonomischer Selbsterhaltung agieren, steht außer Frage. Wissenschaftliche Monographien sind unter ökonomischen Gesichtspunkten nur in seltenen Fällen rentabel. Verlage lassen sie sich durch Druckkostenzuschüsse finanzieren. Und die derart finanzierten Bücher haben dann immer noch einen so hohen Ladenpreis, dass einschlägige Institutsbibliotheken sie sich nur noch zu einem kleinen Teil leisten können. Die systematische Destruktion wissenschaftlicher Öffentlichkeit durch die Unterfinanzierung öffentlicher Bibliotheken und die kaum weniger skandalöse Preispolitik mancher Wissenschaftsverlage ist allerdings ein eigenes Thema. Der Effekt für das Publikationsverhalten von Wissenschaftlern angesichts dieser Misere ist ein ähnlicher wie im Bereich von Aufsätzen. Wer für kleinere Arbeiten den "Merkur" oder die "FAZ" der "Zeitschrift für deutsche Philologie" vorzieht, schreibt monographische Bücher lieber für so genannte Publikums- als für Fachverlage - mit Kompromissen gegenüber den diskrepanten Erwartungen einer fachinternen und fachexternen Öffentlichkeit.

Vergleich mit anderen Fächern

Für die Germanistik mag es tröstlich sein, dass ihre Probleme mit der Öffentlichkeit von anderen wissenschaftlichen Disziplinen geteilt werden, zumindest die Probleme mit außerfachlichen Öffentlichkeiten. Unter dem vielsagenden Titel "Geschichte für Leser. Populare Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert" fand im März dieses Jahres eine Tagung statt, auf der die akademische Geschichtsschreibung sich nicht ohne Neid mit ihrer Konkurrenz befasste, die mit Autoren wie Oswald Spengler, Golo Mann, Joachim Fest oder Sebastian Haffner jene Popularität fand, die der akademischen Zunft fehlt. Als zwei Monate später im Wissenschaftszentrum Berlin über das Verhältnis von sozialwissenschaftlicher Forschung und Öffentlichkeit beraten wurde, rief man wehmütig die Zeiten in Erinnerung, in denen Ralf Dahrendorfs "Homo soziologicus" in Hunderttausenden von Exemplaren verkauft wurde.

Probleme mit der fachexternen Öffentlichkeit haben freilich auch die Naturwissenschaften. Als der Klimakatastrophenfilm "The Day After Tomorrow" anlief, bekundete ein Klimaforscher der Harvard University halb entzückt, halb desillusioniert: "Es werden viel mehr diesen Film sehen, als je meine Aufsätze lesen werden." (zit. in: Die Zeit, 27. Mai 2004, S. 37) In den USA investieren Universitäten hohe Summen, um ihren Professoren zum öffentlichen Auftritt in den Massenmedien zu verhelfen - durch kostenpflichtige Einträge in einschlägige Datenbanken für journalistische Recherchen oder durch Schulungsangebote für mediengerechtes Auftreten.

Aus den USA ist mittlerweile auch nach Deutschland der Begriff der "Dritten Kultur" exportiert worden. Gemeint ist eine Kultur der Vermittlung wissenschaftlicher, vornehmlich naturwissenschaftlicher Einsichten an ein breites Publikum, eine Kultur, die aus der Not akademischer Sprachlosigkeit und Unbeholfenheit gegenüber den Medien geboren ist. Der weltweite Erfolg amerikanischer Wissenschaften, so vermuten Propagandisten dieser Dritten Kultur, sei nicht unbedingt nur Resultat realer wissenschaftlicher Überlegenheit, sondern auch das Ergebnis eines professionelleren Umgangs der Wissenschaftler mit den Medien.

In Deutschland sind unter Stichwörtern wie "Wissenschaftskommunikation" oder "Public Understanding of Science" seit Ende der 90er Jahre intensivierte Aktivitäten zur Verbesserung wissenschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit erkennbar. Sie werden durch eine Allianz von Wissenschaftsorganisationen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft oder des Wissenschaftsrates gefördert und mittlerweile durch den Stifterverband für die deutsche Wissenschaft koordiniert. 1999 veranstalte der Stifterverband ein Symposium mit dem programmatischen Titel "Public Understanding of the Science and Humanities", kurz "PUSH", und unterstützte seither auf Antrag rund 50 vielversprechende Projekte zur Optimierung der Wissenschaftskommunikation. Die Humanities haben sich daran trotz ausdrücklicher Aufforderung kaum beteiligt. Ein Mitglied des Stifterverbandes kommentierte den Sachverhalt mit dem Appell: "Philosophie, Geistes-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften sollten dem Verdacht, dem geneigten Publikum nichts zu sagen zu haben, energisch widersprechen." (Forschung & Lehre, 3/2002, S. 131) Das Programm ist inzwischen allerdings ausgelaufen. Es gibt aber auch in Deutschland weiterhin Ansätze, die Wissenschaftsvermittlung in den Medien zu institutionalisieren. Das Forschungszentrum Jülich oder die DFG bieten regelmäßig Seminare zum "Medientraining" für Wissenschaftler an. Das Forschungszentrum Jülich kommentiert das Angebot so: "Der Journalismus ist für Wissenschaftler [...] kein unproblematisches Feld. Gewohnte innerwissenschaftliche Regeln der Kommunikation gelten hier nicht. Der Kontakt mit Journalisten und Massenmedien ist daher aus Sicht vieler Wissenschaftler mit hohen Unsicherheiten und Risiken behaftet". Es folgt eine Liste von Gesichtspunkten, die es bei diesem Kontakt zu beachten gilt.

Auf dem Programm stehen aber nicht nur Anleitungen zum Umgang mit Wissenschaftsjournalisten, die dann die weitere Aufgabe des Wissenstransfers an die Öffentlichkeit übernehmen, sondern auch Schreibübungen zum "Verfassen eines populären Artikels oder einer Pressemitteilung über ein Thema aus der eigenen Forschung". (vgl. http://www.fz-juelich.de/mut/medien/; Stand: 12.9.04)

Ähnlich gehört zu den Bestandteilen entsprechender DFG-Seminare ein Vortrag mit Übung, der mit folgenden Stichwörtern beschrieben ist: "Anregungen für einen anschaulichen und verständlichen Umgang mit der deutschen Sprache / Unterschiede zwischen Fachsprache und Alltagssprache / Die Wahl der Wörter / Wie konstruiert man gut lesbare Sätze (dazu eine Übung an Hand eines Textbeispiels)." (http://www.dfg.de/aktuelles_presse/medientraining/programm.html)

Die DFG beschreibt ein Ziel ihre Seminarreihe "Das Wissen der Forschung - verständlich für Laien" mit den Worten: Hier können Wissenschaftler "üben, die Ergebnisse ihrer Arbeit sowie allgemeine wissenschaftliche Zusammenhänge verständlich zu erklären. Dabei lernen sie, diese fachlichen Inhalte so darzustellen, dass Fachleute anderer Disziplinen, wissenschaftliche Laien (auch Politiker oder Verwaltungsbeamte), vor allem aber interessierte Bürgerinnen und Bürger diese verstehen und nachvollziehen können." (http://www.dfg.de/aktuelles_presse/medientraining/einfuehrung.html)

Aufschlussreich daran ist nicht zuletzt die Unterscheidung von Adressaten. Neben den interessierten Bürgerinnen und Bürgern werden "Fachleute anderer Disziplinen" genannt. Eine der vielen Öffentlichkeiten, an die germanistisches Wissen vermittelt wird, besteht aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen und sogar aus denen der eigenen Teildisziplinen. Der Literaturwissenschaftler ist wie der Soziologe oder Psychologe gegenüber der Linguistik ein Laie, wenn auch einer mit spezifischen Vorkenntnissen und allgemeinen wissenschaftlichen Schlüsselkompetenzen. Die Fähigkeit einer Disziplin, ihr Wissen über die fachinterne Öffentlichkeit hinaus an fachfremde Öffentlichkeiten zu vermitteln, ist auch Voraussetzung für inter- und transdisziplinäre Arbeit.

Die Angebote der genannten Wissenschaftsorganisationen sind noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Adressaten dieser Angebote sind hier wiederum vornehmlich Naturwissenschaftler und zuletzt die so genannten Geistes- oder Kulturwissenschaftler. Haben Naturwissenschaftler solche Angebote besonders nötig? Oder ist das öffentliche Interesse an ihnen einfach größer als das an den Kulturwissenschaftlern? Oder kommunizieren Kulturwissenschaftler so viel einfacher und der Alltagssprache näher, dass sie auch ohne Vermittlungsleistungen von Laien einigermaßen verstanden werden können? Oder traut man ihnen, insbesondere den Philologen, ohnehin die kommunikative Kompetenz zu, sich öffentlich verständlich zu machen? Oder haben sie umgekehrt eher das Bedürfnis, auch terminologisch ihre Wissenschaftlichkeit zu demonstrieren, und fürchten, sie durch alltagssprachnahe Popularisierungen in Frage gestellt zu sehen?

Wie auch immer die Antworten auf solche Fragen ausfallen mögen: Faktisch ist die Germanistik, so wie sie gegenwärtig existiert, diverser Vermittlungskompetenzen durchaus bedürftig.

Problemlösungen

Nimmt man diese Bedürftigkeit ernst, könnte das die Konsequenz haben, ein neues Teilfach zu etablieren, wie es der Konstanzer Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer im Hinblick auf die Naturwissenschaften vorgeschlagen hat (ebenfalls in dem Band "Universität ohne Zukunft?"). Neben die germanistischen Fachdidaktiken, in denen die Vermittlung germanistischen Fachwissens an die Öffentlichkeit von Schülern wissenschaftlich reflektiert und für die Praxis des Deutschunterrichts nutzbar gemacht wird, neben eine Hochschuldidaktik, die sich, wenn auch noch nicht fächerspezifisch, als eine eigenständige wissenschaftliche Institution im Dienste der Vermittlung von Fachwissen an die Öffentlichkeit der Studierenden zu konstituieren beginnt, und neben das germanistische Teilfach "Deutsch als Fremdsprache", das die Vermittlungsprozesse im Hinblick auf die Öffentlichkeit von Deutschlernern zu professionalisieren versucht, träte dann eine weitere Teildisziplin, die mit der Vermittlung germanistischen Fachwissens an jene Öffentlichkeit befasst ist, die sich über dieses Wissen und die Gegenstände dieses Wissens in den Massenmedien informiert, in Medien, die wiederum gänzlich anderen Bedingungen unterliegen als die Hochschullehre oder der Deutschunterricht.

Zumindest im Blick auf meine eigene germanistische Teildisziplin, die Literaturwissenschaft, bin ich da skeptisch, versuche die Skepsis zu begründen und unterscheide dabei zwei Konzepte der Vermittlung von Fachwissen an eine breite Öffentlichkeit:

1. Wissenschaftler übernehmen selbst die Aufgabe der Vermittlung. Vermittler wissenschaftlichen Wissens sind sie als Hochschullehrer ohnehin, und das nicht nur im Medium des mündlichen Vortrags oder Gesprächs im Rahmen von Lehrveranstaltungen, sondern auch als Autoren von einführenden Lehrbüchern. Warum nicht das Postulat der Einheit von Forschung und Lehre auf die Vermittlung des eigenen Wissens an das Publikum der Massenmedien oder gleich an diejenigen, die literarische Texte lesen, übertragen? Warum diese Vermittlung nicht auch als einen Bereich der Lehre begreifen, einer Lehre, deren Adressaten auch jenseits der hochschulinternen Öffentlichkeit zu suchen sind. Das Konzept hat Schwächen, und es hat Gegner - Gegner, die sich auch in der Persönlichkeit des Wissenschaftlers selbst eingenistet haben, und zwar in Form der gewiss nicht unberechtigten Angst vor der Profanisierung und Entdifferenzierung wissenschaftlicher Erkenntnis. Man überlässt sie lieber anderen, als sie selbst zu verantworten und sich den Ruf der Unwissenschaftlichkeit einzuhandeln.

2. Dem anderen Konzept nach überlassen Wissenschaftler die Aufgabe professionellen Vermittlern: Wissenschaftsjournalisten. Sie hätten im Bereich der Massenmedien dann die Position, die im schulischen Bereich Deutschlehrer einnehmen. Dem Referendariat und anderen Bausteinen der Lehrerausbildung entsprächen Volontariate, Praktika und Lehrveranstaltungen im Bereich des Wissenschaftsjournalismus, der wissenschaftlichen Fachdidaktik eine fachspezifische Kommunikationswissenschaft, wie sie, zum Teil auch unter der Bezeichnung "Publizistik", im Universitätsbetrieb, bislang allerdings quer zu anderen Universitätsfächern, etabliert ist.

Beide Konzepte haben ihre eigenen Probleme. Gegen das Konzept 1 spricht unter anderem, dass da, wo Wissenschaftler die Vermittlung ihres Wissens an eine fachexterne Öffentlichkeit der Massenmedien selbst übernehmen, eine der Wissenschaft gegenüber unabhängige, kritische Instanz fehlt, die jede Wissenschaft über die fachinternen Mechanismen der Selbstkritik hinaus braucht. Für das Konzept 2 wiederum fehlen bislang fast alle Voraussetzungen, und es ist die Frage, ob es dafür gute Gründe gibt und ob es überhaupt wünschenswert ist, diese Voraussetzungen zu schaffen. Die literaturwissenschaftlich ausgebildeten Journalisten, die für das Feuilleton der Zeitungen oder die Kultursparten anderer Massenmedien arbeiten, begreifen sich kaum als Wissenschaftsjournalisten. Zwar verstehen sich auch Naturwissenschaftsjournalisten durchaus als kritische Instanz im Umgang mit Wissenschaft. Doch ein derartiges Maß an kritischer Eigenständigkeit gegenüber der Wissenschaft wie im Bereich des Literaturjournalismus, gibt es im Bereich des Wissenschaftsjournalismus, der fast ausschließlich Naturwissenschaftsjournalismus ist, nicht. Der Literaturjournalismus hat gegenüber der Literaturwissenschaft keine dominant dienende Vermittlungsfunktion, sondern konkurriert mit ihr um die angemessenen Umgangsformen mit Literatur oder übernimmt neben der Literaturwissenschaft Aufgabenbereiche, die von dieser selbst nicht zu leisten sind, indem er sich auf die erste kritische Sichtung von Neuerscheinungen und die Beobachtung der Gegenwartsliteratur konzentriert. Und vergessen wir nicht: Wie die Literaturkritik ist die Literaturwissenschaft selbst eine genuin literaturvermittelnde Institution. Zu ihren Funktionen gehört es, Störfaktoren im Prozess literarischer Kommunikation zu reduzieren: durch Editionen und historische Kommentierungen von Texten, die sich aufgrund des kulturellen Abstandes zur Gegenwart dem Verständnis heutiger Leser entziehen, durch Lektürehilfen diverser Art und sogar noch dort, wo Literaturwissenschaft Sinnzuweisungen systematisch dekonstruiert, weil die Texte selbst sich ihnen verweigern.

Begreift man Literaturwissenschaft als Vermittlung von Fähigkeiten und als Angebote für den Leser, angemessener mit Texten umzugehen, dann ist jede zusätzliche Vermittlungsinstanz, der sie bedarf, irgendwie auch ein Armutszeugnis, ein Indiz dafür, dass sie selbst nicht mehr in der Lage ist, ihre Funktionen zu erfüllen.

Die Vermittlung literaturwissenschaftlichen Wissens sowohl an eine fachlich ausgebildete als auch an eine fachexterne Öffentlichkeit setzt Fähigkeiten voraus, deren Erwerb in der literaturwissenschaftlichen Ausbildung stärker als bisher zu fördern wäre. Studierende sollten lernen, im Umgang mit Literatur schreibend und redend flexibel in verschiedenen Rollen zu agieren. Germanistik ist zwar keine nationale Wissenschaft mehr, aber nicht zuletzt eine Schreib- und Redeschule der Nation. Wissenschaftliches Schreiben zu lehren, hat sie sich in den letzten Jahren verstärkt zur Aufgabe gemacht (vgl. u.a. den 2003 erschienenen Band "Wissenschaftlich schreiben - lehren und lernen", hg. von Konrad Ehlich und Angelika Steets). Und in Ansätzen existieren auch Lehrangebote zum journalistischen und literarischen Schreiben. Wo jedoch im Rahmen eines literaturwissenschaftlichen Studiums Übungen zum literaturkritischen Schreiben angeboten werden, sind häufig negative Effekte zu beobachten: Seminararbeiten werden im journalistischen Stil, Literaturkritiken im seminaristischen verfasst. Ein Ziel der germanistischen Schreibschule muss es sein, über Literatur mündlich wie schriftlich auf sehr unterschiedliche Weise, eben für unterschiedliche Öffentlichkeiten kommunizieren zu können, sich aktiv an einer Vielzahl von Sprachspielen zu beteiligen.

Jenseits von Öffentlichkeitsarbeit: Fachübergreifende Interessenbildung

Forcierte Anstrengungen zur Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit setzen sich allerdings leicht dem oft berechtigten Verdacht aus, faktische Schwächen des eigenen Angebots zu beschönigen und zu kompensieren. Was für fachexterne Öffentlichkeiten und vielleicht für das Fach selbst nur noch wenig Bedeutung hat, lässt sich durch eine noch so glänzende Öffentlichkeitsarbeit nur mit begrenztem Erfolg vermitteln. Im Hinblick auf ihre Öffentlichkeiten ist das Fach gefordert, die eigenen Vorlieben und Gewohnheiten einer ständigen selbstkritischen Revision zu unterziehen. In diesem Zusammenhang abschließend einige Anmerkungen zu jüngeren Entwicklungen in der Literaturwissenschaft - verbunden mit einem nachbarschaftlichen Gruß an die zur Zeit in Kiel tagenden Historiker.

Vor einigen Jahren erschien ein kleiner Überblick des kürzlich gestorbenen Historikers Richard van Dülmen über Entwicklungen, Probleme und Aufgaben der "Historischen Anthropologie". Er beginnt mit dem Satz: "Seit einem ZEIT-Interview vom 3. Mai 1996 kündigte der frühere DFG Präsident W. Frühwald eine Modernisierung der Kulturwissenschaft auf der Grundlage einer historischen Anthropologie an und versprach ihre Förderung, da sie die historischen Wissenschaften mit den ethnologischen und den linguistischen Wissenschaften verbinde und damit neue wissenschaftliche Perspektiven eröffne." Van Dülmens Überblick zeigt nicht zuletzt, wie rasch und nachhaltig die Historische Anthropologie sich institutionalisiert hat. Ein erster Kristallisationspunkt bildete sich schon 1975 am Freiburger "Institut für Historische Anthropologie e.V.". Hier erschienen Sammelbände, deren Themen typisch blieben: "Krankheit, Heilkunst, Heilung" (1978) oder "Kindheit - Jugend - Familie - Gesellschaft" (1986/89). An der Freiburger Universität wird inzwischen ein Studiengang mit den Zweigen "Biologie der Anthropologie" und "Kulturanthropologie/ Historische Anthropologie" angeboten. Eine Konzentration entsprechender Forschungen betrieb später das Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Aus der Arbeit ging u.a. der 1984 erschienene Band "Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung" hervor. Weitere Stationen der Institutionalisierung dieses Forschungsgebiets wären zu nennen. Literaturwissenschaftler waren daran beteiligt, doch einen vergleichbaren Grad an Institutionalisierung haben entsprechende literaturwissenschaftliche Interessenbildungen nicht aufzuweisen. Deren gleichzeitige Entfaltung ist bislang erst in fragmentarischen Ansätzen beschrieben worden (so von Wolfgang Riedel unter dem Eintrag "Literarische Anthropologie" in einer der hervorragenden Leistungen der Germanistik der vergangenen Jahre, dem "Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft"). Historische Anthropologie kann jedoch ohnehin nicht als Angelegenheit einzelner Fächer beschrieben werden. Es gehört zu ihrer Konstitution, dass sie ein interdisziplinäres Unternehmen ist. Neu an ihr war gerade auch, dass mit ihr, wie van Dülmen konstatiert, "die Abschottung der einzelnen historischen Disziplinen abnahm und der Forschungszusammenhang disziplinär immer weniger festmachbar wird. Die Grenzen zwischen Sozialgeschichte und Ethnologie, Literaturwissenschaft oder Mediengeschichte verschwinden zugunsten problemorientierter Fragestellungen, die das transdisziplinäre Lernen intensivieren."

In der Tat sind alle neun Problemfelder, Motive oder Themen, die van Dülmen als bevorzugte Interessengebiete der Historischen Anthropologie skizziert, seit etlichen Jahren für Historiker, Soziologen, Ethnologen wie auch Literaturwissenschaftler gleichermaßen beliebte Terrains: "Magie - Hexerei", "Protest - Gewalt", "Körper - Sexualität", "Religion - Frömmigkeit", "Haus und Familie", "Individualität - Individualisierung", "Schriftlichkeit - Lektüre - Medien", "Das Eigene und das Fremde", "Frauen - Männer - Geschlechtergeschichte".

Wo Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler sich in jüngeren Jahren von der hartnäckigen und selbstisolierenden Fixierung auf einzelne Autoren, Texte, Gattungen oder Epochen befreien konnten und solchen Problemzusammenhängen zugewendet haben, waren sie fast von selbst zur Inter- und Transdisziplinarität angehalten, waren sie eine interessierte Öffentlichkeit anderer Fächer und fanden in anderen Fächern selbst eine aufmerksame Öffentlichkeit. Hier konnten sie vom Wissen anderer Disziplinen profitieren, hier vermochten sie umgekehrt anderen Disziplinen wichtige Einsichten zur textuellen Konstitution dieser Forschungsobjekte zu vermitteln. Die von der Literaturwissenschaft zu Tode traktierte Gattungspoetologie und -geschichte, die aufgrund ihrer transindividuellen Perspektivierung auch noch in den Sozialgeschichten der Literatur bis hin zu ihren letzten Hervorbringungen dominierte und in stupider Gleichförmigkeit die Überschriften und Einteilungen der Kapitel bislang noch jeder Literaturgeschichte prägte, hatte gewiss ihre Verdienste und förderte Einsichten in Strukturzusammenhänge, auf die sich nach wie vor nicht verzichten lässt. Doch hat sie den Blick auf gattungsübergreifende Fragestellungen, mit denen sich Zeittypisches häufig viel besser erschließen lässt, systematisch versperrt. Wer über den literarischen Umgang mit Liebe, Sexualität, Gesundheit, Krankheit oder Tod forscht, wer den literarisch vermittelten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit nachgeht, wer sich mit literarischen Modellierungen der Familien- und Geschlechterordnung befasst, wer Veränderungen des Ehr- oder des Schamgefühls, literarische Evokationen der Angst, des Ekels oder der Lust rekonstruiert, muss sich zwar der Eigengesetzlichkeit diverser literarischer Diskursordnungen bewusst bleiben, doch sie ins Zentrum zu stellen und zu isolieren ist kontraproduktiv. Die Geschichte der Liebe ist mit der des Romans so wenig identisch wie die Geschichte des Mitleids oder des Schreckens mit der der Tragödie oder die Lachkultur mit der Komödie. Die private Sphäre der Kleinfamilie ist für das bürgerliche Trauerspiel konstitutiv, doch natürlich auch in Romanen oder Novellen präsent.

Das Beharrungsvermögen tradierter Gewohnheiten zeigte in Titeln und Themen literaturwissenschaftlicher Monographien, Aufsätze, Literaturgeschichten, Lehrveranstaltungsprogrammen und Studienordnungen ein Maß an Einfallslosigkeit, das den beklagten Verlust an öffentlicher Resonanz durchaus verdiente. Von der zwanzigsten Einführung in die "Epoche" der Deutschen Klassik, der fünfzigsten Monographie zur Geschichte der Novelle, der Komödie oder der Ballade, dem hundertsten Aufsatz über "Effi Briest" oder dem tausendsten Seminar über Kafka gehen in der Regel kaum neue Impulse aus. Peter von Matts Bücher über den "Liebesverrat" oder über die "Familiendesaster" in der Literatur ("Verkommene Söhne, mißratene Töchter") dagegen waren nicht nur deshalb so resonanzreich, weil der Autor gut schreiben kann, sondern auch aufgrund der Themenwahl und Problemstellung. Der Erfolg von Elisabeth Bronfens Habilitationsschrift über Tod, Weiblichkeit und Ästhetik oder die Aufmerksamkeit, mit der die Theorie und Geschichte des Ekels von Winfried Menninghaus bedacht wurde, waren ebenfalls auch thematisch bedingt. Albrecht Koschorkes Studie zur "Heiligen Familie" oder Barbara Vinkens "Die deutsche Mutter" wurden zwar zum Teil heftig kritisiert, aber sie stießen auch in der außeruniversitären Öffentlichkeit auf erhebliches Interesse. Die Grenzen der Gattungen, der Medien, einzelner Autorenœuvres und wissenschaftlicher Disziplinen werden in allen diesen Arbeiten ständig überschritten.

Was Ludger Lütkehaus vor einigen Jahren in der "Zeit" (17. Mai 2001) der darüber empörten akademischen Philosophie vorwarf, nämlich dass sie vornehmlich mit sich selbst statt mit Fragen beschäftigt ist, die für viele von existenzieller Bedeutung sind, trifft ähnlich auch noch weite Teile der literaturwissenschaftlichen Lehr-, Forschungs- und Publikationspraxis. In der Lehrpraxis der Universitätsphilosophie müsse man, so Lütkehaus, "Themen wie Freiheit, Tod, Freitod, Geburt, Gewissen, Mitleid [...] nach wie vor mit der Lupe suchen." In den Literaturwissenschaften war das bis vor wenigen Jahren kaum anders. Ihr Gegenstand jedoch, die Literatur, war schon immer mit solchen Fragen befasst. Auch deshalb wurde und wird sie gelesen. Wo Literaturwissenschaft sie ausklammert, wo sie nicht zeigt, was Literatur zur Wahrnehmung und Reflexion solcher Problemfelder alles zu bieten hat, wird sie kaum von anderen als von Literaturwissenschaftlern selbst wahrgenommen. Die Dauerkrise der Literaturwissenschaft wurde von dieser selbst gerne auf die Krise der Literatur in der verschärften Medienkonkurrenz zurückgeführt. Doch vielleicht war das eher eine Ablenkung von den Folgen einer allzu verhaltenen Bereitschaft, sich auf Fragestellungen von größerem öffentlichen Interesse intensiver einzulassen.

Der Beitrag wurde am 15.9.2004 im Rahmen des Deutschen Germanistentags 2004 in München unter dem Titel "Die Germanistik und ihre Öffentlichkeiten" vorgetragen. Eine überarbeitete Fassung mit Literaturangaben und Zitatbelegen erscheint 2005 in den Kongressakten. Teile des Vortrags sind in den Artikel "Buhmann der Nation? Eine kleine Verteidigung der Germanistik" eingegangen, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 30. September 2004 leicht gekürzt veröffentlichte. Die vollständige Fassung des Artikels ist unter der Adresse https://literaturkritik.de/public/Germanistenschelte.php nachzulesen.

Titelbild

Elisabeth Stuck: Kanon und Literaturstudium. Theoretische, historische und empirische Untersuchungen zum akademischen Umgang mit Lektüre-Empfehlungen.
mentis Verlag, Paderborn 2004.
336 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 389785113X

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Titelbild

Dorothee Kimmich / Alexander Thumfart (Hg.): Universität ohne Zukunft?
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
271 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518123041

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