Der mikrologische Blick eines engagierten Flaneurs

Bemerkungen zur neuen Ausgabe der Schriften Siegfried Kracauers

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Kracauer, Essayist, Feuilletonist sowie Gesellschafts- und Filmtheoretiker in einer Person, richtete seine Aufmerksamkeit auf oberflächliche Erscheinungen des alltäglichen und kulturellen Lebens, um aus zufälligen Zeichen, aus den Phänomenen das Wesen einer neuen Gesellschaft zu diagnostizieren. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Selbstauslegungen des vergangenen Jahrhunderts sind von Kracauer gefunden oder zumindest mitgeprägt worden, wie etwa die Vorstellung, dass die Moderne bestimmt sei durch die Massengesellschaft, die Angestelltenkultur, die Traumwelt der Medien oder die Großstadtexistenz. Diese Orientierung zeigt sich noch in seinem letzten, 1969 postum erschienenen Buch "History. The Last Things Before The Last", wo Kracauer sich in der Parallelisierung von Geschichtsschreibung und Fotografie gegen die eine, fortschrittsoptimistische Universalgeschichte wendet und dagegen das Recht der vielen disparaten Geschichten betont, die in ihren Zwischenräumen eine andere Botschaft, eine Geschichte der namenlosen Verlierer, zu lesen erlauben. Damit die Porosität der scheinbar geschlossenen Systeme aber überhaupt wahrgenommen werden kann, bedarf es einer Methodik des Umwegs, des Aufschubs von Bedeutung, der Verzögerung und Verlangsamung von Wahrnehmung, die mit genauem Blick auf dem Detail verweilt: eine Mikrologie des Alltags. Diese Maxime des Sammlers von Details bezeichnete Kracauer selbst als "theologisches Argument": in der vollständigen Ansammlung der kleinsten Fakten soll eine "Tradition verlorner Prozesse" begründet werden.

Kracauer ist der seltene Fall eines analytischen Schriftstellers, der nicht außen, sondern mitten in den Verhältnissen lebt, die er beschreibt. Der Bestimmung des Orts der Wahrheit im Profanen gilt Kracauers ganze theoretische Anstrengung - von den soziologischen und kulturphilosophischen Studien über die Romane und Städtebilder bis hin zur späteren "Theory of Film" (1960). Dabei ist seiner von Ernst Bloch so genannten "bunten Nüchternheit" die Figur einer Negativität eingeschrieben, die er bereits 1924 in einem Brief als "einzig mögliche Haltung" des Intellektuellen präzisiert hat: "Wir müssen verborgen sein, quietistisch, nichtstuerisch, ein Stachel den andern, und lieber sie (mit uns) zur Verzweiflung treibend als ihnen Hoffnung gebend". Dieser Gestus des Unversöhnlichen zeichnet vor allem Kracauers feuilletonistische Arbeiten aus. In den politischen Auseinandersetzungen während der Weimarer Republik hatte sich Kracauer unzweifelhaft auf die Seite der Verlierer gestellt. Längst bevor der Faschismus alle Intellektuellen zu Exilanten werden ließ, hatte Kracauer schon für seine Meinung zu büßen. Nachdem die liberale "Frankfurter Zeitung", bei der er seit 1923 arbeitete, ihn 1930 zunächst nach Berlin versetzt hatte, teilte ihm die Redaktion bereits ein Jahr später mit, dass sie fortan auf seine Dienste nicht mehr in vollem Maße zurückgreifen könne. Ein Teil der Artikel, die Kracauer zur Veröffentlichung anbot, wurde nun abgelehnt. Noch in der Nacht des Reichstagsbrands am 28. Februar 1933 musste er schließlich vor dem nationalsozialistischen Terrorregime aus Berlin nach Paris fliehen, was dem Ende seiner Tätigkeit für die "Frankfurter Zeitung" gleichkam.

Mit dieser Flucht begann ein Exil, das Kracauer und seine Frau buchstäblich in letzter Minute nach New York führte, von wo sie nur noch besuchsweise nach Deutschland zurückkehrten. Kracauer hatte durch die Exilierung - anders etwa als die Dichter und Wissenschaftler deutscher Sprache, die sein Schicksal teilten - nicht nur das Tagespublikum der Zeitung, sondern auch das Feld seiner Beobachtungen, die heimische Großstadt, verlassen. Kracauer, dessen Essays in hohem Maße intellektuelle Erwiderungen auf Tagesereignisse waren, und zurückwirken wollten auf das, was sie beschrieben, hatte mit der angestammten Sprache und Kultur auch den Gegenstand seiner mikrologischen Ästhetik verloren. In der zweiten Phase seines Schaffens, während jener acht Jahre in Paris und später in New York bis zu seinem Tod 1966, gelang es ihm nicht mehr, die sozialen Verhältnisse zu analysieren, die ihn umgaben. Über französische Angestellte und amerikanische Kapitalisten hatte er offenkundig nichts zu sagen, so dass er sich jetzt primär dem Film zuwandte, jener Kunstform, die als einziges gewöhnliches und alltägliches Kulturereignis aus dem Heimatland gewissermaßen mit ihm über den Ozean gezogen und hier wie dort gleichermaßen zu beobachten war. Als Kino-Flaneur und Bilder-Sammler knüpft er nicht nur an seine Berliner und Pariser filmästhetischen Beobachtungen an, es ist vielmehr die Verbindung von optischer Leidenschaft, Übersetzungsvermögen, die Kracauers Arbeiten zum Film ihren singulären Rang verleihen. Die ästhetischen, kulturgeschichtlichen, soziologischen und filmhistorischen Ansätze, die Kracauer in seinen Texten für die "Frankfurter Zeitung", die "Neue Zürcher Zeitung" und die "National-Zeitung Basel" verfolgte, differenzierten sich nach seiner Emigration in die USA im April 1941 zu zwei Buchprojekten aus. Während die sozialpsychologische Geschichte des deutschen Films der zwanziger Jahre 1947 als "From Caligari to Hitler" erschien, hat Kracauer sein durch die Masse der kleinen Schriften zum Film verfolgtes Vorhaben einer Ästhetik des Films, an der er schon in den letzten beiden Jahren in Frankreich intensiv arbeitete, erst 1960 mit der Veröffentlichung von "Theory of Film" realisiert.

Die neue, von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke bei Suhrkamp herausgegebene Kracauer-Ausgabe bietet im sechsten Band (mit drei Teilbänden) erstmalig alle bislang bekannten Kritiken, Essays und Feuilletons, die Kracauer zwischen 1921 und 1961 zum Film veröffentlichte - mit Ausnahme von Vorfassungen und Vorabdrucken des Caligari-Buchs und der "Theorie des Films" sowie von sechs in den USA publizierten Abhandlungen und Artikeln, die entweder als Auftragsarbeiten geschrieben wurden oder in engstem Zusammenhang mit Kracauers zumeist als Auftragsarbeit verfassten, zum größten Teil nicht veröffentlichten Studien zu Propaganda und Massenmedien stehen und zusammen mit diesen Studien in einem späteren Band der neuen Ausgabe erscheinen werden.

Parallel dazu werden erstmals im Rahmen dieser Ausgabe in Band 9 die umfangreichen Schriften veröffentlicht, die Kracauer in den Jahren von 1913 bis 1919 zu Themen der Philosophie geschrieben hat. Unter ihnen finden sich Texte, in denen Kracauer die seit Beginn des Ersten Weltkriegs Ende Juli 1914 erhoffte "Erlösung", die den Menschen wieder der "Gemeinschaft" zuführe und ihn von der "Einsamkeit" und dem Übermaß an "Selbstreflexion" befreie, artikulierte. In dieser Erlösungssehnsucht suchte er die Verbindung zur zeitgenössischen Kunstbewegung des Expressionismus, der er 1918 eine größere Abhandlung widmete und die er als eine gegen den "reinen Intellekt" gerichtete "Kulturbewegung", als einen "Verzweiflungsschrei der gegenwärtig geknechteten und zur Ohnmacht verurteilten Persönlichkeit" deutete. Am Ende seines Textes diagnostizierte er den Expressionismus allerdings schon als "Übergangserscheinung", die "mehr Schrei nach Tat und Kunst als wirklich Tat und Kunst" sei. Zur Ernüchterung und Desillusionierung Kracauers hat neben den eigenen Kriegserfahrungen und der Not der letzten Kriegsmonate auch die sich jetzt deutlich artikulierende pessimistische Weltsicht beigetragen: Nicht nur war der Krieg verloren und die geistigen und politischen Folgen der Niederlage unübersehbar, auch die gescheiterte kulturelle Selbstpositionierung verlangte eine Revision.

Für die faits divers dieser Texte den Begriff der Philosophie zu reklamieren, dürfte übertrieben klingen. Im damals noch schnellsten Organ der Zeit konnte das Feuilleton eine Instanz der Diagnose und Reflexion von Gegenwart sein, die im täglichen Nachrichtenbetrieb der Presse ausfallen musste; aber die Gegenwartswelt im Feuilleton zu entwickeln statt dies dem gravitätischen Denken der Philosophie zu überlassen, war Reflex auf die Beschleunigung der Geschichte. Sie erforderte einen eigenen Habitus des Denkens, der sich die elementare Figur der Moderne anverwandeln musste, unter dem Prärogativ einer als ständiger Übergang zu verstehenden Gegenwart zu stehen, der sich ihre Zeithorizonte mit jeder Wendung neu abzeichneten. Die Vorkriegswelt - so war bei Kracauer zu lesen - hatte entweder blind in den Wolken oder zu einseitig in der Materie gelebt, und nun galt es, unter den Bedingungen "transzendentaler Obdachlosigkeit" Wege durch die Gesellschaft zu bahnen, die die aus dem scheinhaften Kontinuum von Normen herausgesprengten Fragmente der Vergangenheit und Phänomene des Neuen durchdrangen. Wie kaum ein zweiter Intellektueller der zwanziger und dreißiger Jahre ist Kracauer zum Analytiker dieser Bruchstücke und Fragmente geworden. Was sich in seinen Texten vor allem artikuliert, ist seine Neigung und sein Staunen über die Randzonen der (hohen) Kultur, den Jahrmarkt, das Kino, die Operette, seine Toleranz und vor allem sein fehlender intellektueller Dünkel gegenüber der Massenkultur. Diesbezüglich gilt es noch einiges zu entdecken bei einem der engagiertesten Flaneure der Moderne. Die neue Ausgabe der Schriften Kracauers wird fraglos einen gewichtigen Beitrag zu diesem Unternehmen leisten.

Titelbild

Siegfried Kracauer: Werke. Band 6. 3 Teilbände. Kleine Schriften zum Film.
Herausgegeben von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
1676 Seiten, 82,00 EUR.
ISBN-10: 3518583468

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Titelbild

Siegfried Kracauer: Werke. Band 9. 2 Teilbände. Frühe Schriften aus dem Nachlaß.
Herausgegeben von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
724 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-10: 3518583492

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