In der Sicherheitsfalle

Mark Costello verarbeitet die Ängste Amerikas zum klugen Gegenwartsroman "Paranoia"

Von Bettina LaudeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Laude

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahlkampf in den USA. Wer als Präsidentschaftskandidat überhaupt in Frage kommt, entscheiden die Vorwahlen. Das ist der Zeitpunkt, an dem die große Politik in den kleinen Bundesstaat New Hampshire hereinbricht. Drei Jahre und elf Monate kuschelt sich das Fleckchen an der kanadischen Grenze in seine Neu-England-Tradition und frische Brisen vom Meer. Dann kommen die Kandidaten und ein Kommentatoren-Heer. Denn man glaubt, dass das Votum der 1,2 Millionen Einwohner von New Hampshire für das der gesamten USA stehen könne.

Die Kandidaten kommen nicht allein. In ihrem Schlepptau eine Hundertschaft von Beratern, Secret Service-Agenten und Bodyguards. Eine davon ist Vi Asplund. Ende zwanzig, klein, blond, durchtrainiert. Mit dem zu schützenden "Objekt" kehrt sie in ihre Heimat zurück, in der immer noch ihr Bruder Jens lebt. Einst ein naturwissenschaftliches Genie, jetzt Programmierer bei einem Computerspiele-Start-up.

Doch Mark Costello lässt seinen Roman nicht in der erzählerischen Gegenwart beginnen, sondern geht zurück in die Kindheit von Vi und Jens. Die findet statt in einem "typischen Schuhkartonhaus" mit Garten und Salzwiesen drum herum. Behütet und beeinflusst von Vater Walter Asplund, Schadenssachverständiger bei einer Versicherung. Mit ihm kommen schon nach fünf Seiten die textbestimmenden Motive Sicherheit und Vertrauen ins Spiel. Denn Walter ist ein rechtschaffener Grübler, der von Berufs wegen ständig mit Katastrophen und privatem Unglück zu tun hat. Ein Mann, der nicht an Gott glaubt. Der sagt, "die Leute verwechselten Vertrauen in Versicherungen mit Gottvertrauen, obwohl es sich dabei um zwei einander ausschließende Dinge handele. Wer Gottvertrauen habe, brauche keine Versicherung, und wenn es Gottes Plan sei, dass dir jemand auf dem Parkplatz von Monsey's hinten in den Wagen fuhr, wie könntest du es dann wagen, seinen Willen durch den Abschluss einer Vollkaskoversicherung zu umgehen?"

Genau wie Walter will auch Vi einen schwierigen, redlichen Job. Sie fängt nach dem Studium beim Secret Service an: Personenschutz, und zwar im Team, das für den Vizepräsidenten zuständig ist. Nach dieser 50-seitigen Exposition setzen sich der Trupp in Richtung New Hampshire und die Handlung in Bewegung. Nach und nach beleuchtet Costello nun Vis Kollegen und deren Arbeitsalltag - und nimmt sich dafür sehr viel Zeit. Da sind ihre Chefin Gretchen Williams, eine Schwarze aus Los Angeles, die eigentlich gar nicht den Knochenjob der Einsatzleiterin machen möchte, aber das Geld für ihren pubertierenden Sohn braucht, die schöne Agentin Bobbie, die nach drei Ehen immer noch eine prestigeträchtige Partie sucht, und Tashmo. Dieser Tashmo, ein Hugh-Hefner-Verschnitt mit Familie, war schon bei Ronald Reagan dabei und einer derjenigen, die dem Präsidenten 1981 nach dem Attentat das Leben retteten. Vom strategischen Kopf des Personenschutzes wird nur noch in Rückblenden erzählt: Lloyd Felker ist nach einem Einsatz einfach verschwunden. Vorher hat er Agenten-Generationen beigebracht, wie sie das Denken eines Attentäters antizipieren können.

Geblieben ist nur seine Lehre und die Gewissheit, dass irgendeiner irgendwann nicht jede mögliche Attacke schon vor dem Attentäter bedacht haben wird. Dann wird es Tote geben. "Big If", das große Wenn, lautet der Roman im Original von 2002. Und Big If heißt auch die Internet-Firma, für die Jens Asplund arbeitet. Jens' Ehefrau Peta wiederum muss sich als Immobilienmaklerin mit den durch Big If reich gewordenen Start-up-Unternehmern herumschlagen. Das Leben der beiden wirkt neben dem angespannten, überdrehten Secret Service-Mikrokosmos geradezu erfrischend alltäglich. Doch ob Wahlkampfwahnsinn, Agententätigkeit oder der Kampf um einen sicheren Platz in der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft: Costello streut überall scharfe Beobachtungen ein, die den Roman zu einem aufregend-aktuellen Gesellschaftsbild der USA machen.

Vieles an Costellos Erzählstruktur erinnert an Jonathan Franzen, wofür der Autor, bis vor wenigen Jahren hauptberuflich Staatsanwalt, in Amerika sehr gelobt wurde. So die Familie als Urzelle des Erzählens, das raumgreifende Hineingraben in die Biografien der einzelnen Figuren, das Verweben der Biografien mit der Zeitgeschichte. Und dieses Netz wird wiederum rückgekoppelt an die jüngste Gegenwart, aktuelle Debatten und Themen, um von dort zu universellen Fragen zu kommen: Wie viel Sicherheit können Menschen anderen Menschen geben? Was ist an unserem Leben noch echt, was Show? Wie sehr soll man sich für ein Ziel anstrengen? Was lohnt sich überhaupt im Leben?

Genau wie Franzen verliert sich Costello dabei manchmal ein wenig in Spezialgebieten. Nehmen wir zum Beispiel Vis Bruder Jens. Es ist zwar sehr lehrreich und für ein Verständnis der Figur unabdingbar, etwas über die Magie des Computerspiele-Programmierens zu erfahren, doch man hat als Leser schneller begriffen, worum es geht, als der Autor einem zutraut. Und er kommt auch stellenweise mit dem Erzählen nicht recht voran, da die auf einen Showdown zwischen Attentäter und Personenschutz zulaufende Haupthandlung weitgehend durch Rückblenden unterbrochen wird.

Doch am Ende bringt Costello die Erzählstränge wieder zusammen, indem er die zu Anfang eingeführten Systeme rund um Vi und Jens aufeinander prallen lässt. So dass dem Leser am Ende das berührende Gefühl bleibt, etwas von Costellos Figuren - und vielleicht auch den Menschen - verstanden zu haben.

Titelbild

Mark Costello: Paranoia. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog.
Goldmann Verlag, München 2004.
431 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3442301033

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