Ein Umriss nur, doch übermächtig

Glanzvoll und ganz wortgewaltig schreibt Christian Haller die Saga einer Schweizer Industriellensippe weiter

Von Oliver RufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Ruf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glut loderte hervor, als der Gießer in den feurigen Schlund stach. Die Gusspfanne wurde herangebracht. Stahl darin, weiß glühend, ein Stück Wüstensonne. Hans H. blickte hinein, in die Glut, die er auch in seiner Erinnerung trug, "ein Brennen, das sich an Felsen und an Steinen brach, sich auffächerte zu einem rostigen Rot". Vergangenes bemächtigte sich seiner. So gewaltig, so beharrlich. Funken stoben auf, ein Firmament vorm geistigen Auge. Der Mann trug schwer an seiner Last. Diese Erinnerungen. Sie spielen die Hauptrolle in seinem Leben - und in Christian Hallers neuem Roman, der uns davon erzählt. Es geht um den Großvater des Ich-Erzählers. Hans H., "breitbeinig und eingewurzelt", unerbittlich, "ein Brocken Fels".

Die H.s hießen ehemals "Lämpe-Schniders". Sie gehörten zu den alten Ortsgeschlechtern und wohnten im Hinterdorf, in einer Bleibe, die eines Tages in Flammen stand. Die Familie fand sich im "Gullihaus" wieder. Sie hatten nichts, nicht einmal genug, um das Notwendigste zu zahlen. "Da!", sagte die Mutter deshalb zu Hans, "nimm, das ist alles, was ich dir geben kann ... Und jetzt geh!" Der Sohn nahm das Glas mit den eingemachten Zwetschgen und ging zwei Tage nach Burgdorf, um Commis zu werden, da er leserlich und sauber schrieb. Dort geschah dann die Sache, die ihm nur einen Ausweg bot: Mitten in der Nacht machte er sich auf, durch den Jura, Richtung Belfort, um ein "Bleu" im Orient zu werden.

Légion étrangère

Fünf Jahre verpflichtete er sich. Zum Dienst in der Wüste, im Posten der Söldner. Letztendlich ein Sergeant der Compagnie montée. Soldat Schnider, dem die Grande Nation das Ehrenzeichen eines Scharfschützen der Légion étrangère verlieh. Der sich ins Bein schoss und bis zuletzt am Stock ging. Der "es" nicht mehr los wurde, "diese Vergangenheit holte ihn ein, immer wieder, auf tückische, unvorhersehbare Weise". So legte er später das Tuch, das man auf das Gesicht der Ouled-Nail legte, wenn eine Hure in den Posten kam, auch auf das Gesicht seiner Gattin. Und sah in jeder vornehmen Frau jene junge Französin, die mit ihrem weiten sehnsüchtigen Dekolleté ihn erst angelächelt, dann verachtet hatte, am Hauptplatz von Sidi-Bel-Abbès, von wo aus er schließlich über Tunesien und Sizilien desertierte.

Diese Zeit hinterließ einen weißen Fleck in seiner Biografie. Samt einem Schatten auf dem Herzen. Die verheimlichte afrikanische Welt sorgte dafür, dass Hans H. "das Leben in schwarzes Eisen goss". Zurück in der Schweiz wurde er vorstellig bei den Maschinen- und Stahlwerken in A., bei denen er sich um die Firma in den Jahren des Ersten Weltkrieges außerordentlich verdient machte. Das Unternehmen konnte trotz schwieriger Beschaffungslage die Produktion verdoppeln. Jetzt war Hans H. Aktionär und Direktor der Gesellschaft. Den Erfolg des Konzerns, der sein eigener war, hatte ein perfektioniertes Stahlgussverfahren begründet, bei dem die Schmelze mittels Strom im Ofen erfolgt. Die Elektrizität hatte sein Schicksal beflügelt, hatte ihn zu einer allseits geachteten Persönlichkeit gemacht.

Erinnerung "hervorklamüsern"

Überhaupt ist Elektrizität ein fester Bestandteil dieses Buches. Christian Haller nutzt sie zur Spiegelung der Story. Dabei hat er in seinem Roman "Das schwarze Eisen" nicht nur deren Genealogie versiert verwebt, sondern bestimmt sie außerdem zum Leitmotiv der Handlung. Einmal ist etwa die Rede davon, dass sich schon Hans H.s Vater, der "Schnider-Rüedu", an Bogenlampen und Illuminationen erfreute. Ein andres Mal bewahrt sie Hans H.s Sohn sogar das Augenlicht: "Eine Landschaft war in seine Augen gefallen", urplötzlich fraß dunkler Nebel an dem Blick. Nur dünne Nadeln, die die Stromstöße leiteten (eine "Kathodenelektrolyse") und die der Arzt ins Auge stach, schenkten ihm wieder den Tag: "Licht, so wunderbar leicht wie flüssiger Äther, eine lautere Durchsichtigkeit".

So kreuzt die Elektrizität das Leben der H.s auf eine fast mythische Weise. Und immer ist es dazu auch die Vergangenheit der Hauptperson, die glüht und deren Nachkommen vereinnahmt. Es lagen "Trümmer" in ihnen, die ihr Geschick bestimmten und die sie weiterreichten, "Brocken, allmählich zerschrotet zu einer Art Fossilienschutt". Übermächtig die Bilder, das Glas eingemachter Zwetschgen, die Französin, das Tuch. Ständig durchbrechen sie den Plot. Rückschauen und Blenden schiebt Haller übereinander, Teil um Teil komplettiert er das Puzzle, das Epos der Familie eines Schweizer Großindustriellen. Die verkeilte Chronologie der Ereignisse lässt die Erinnerungen verkanten, die - stockfleckig geworden - Haller dem Erzähler nur häppchenweise gibt. Der muss sie verfugen, "hervorklamüsern, zusammenimaginieren". Das "Kopfalbum" entsteht, Kaffee trinkend, auf der Veranda, mit "Großvaters Bild" im Sehfeld: "Das Wehr, die Schützen, die Halle der Generatoren vor Jurazug und Hochkamin".

Bilderfülle, Bildersturm

Literarisch prächtig, vollkommen wortgewaltig überdenkt Haller die Wahrnehmung der eigenen Herkunft. Die prägt seine Figuren ganz deutlich. Neben Großvater und Vater auch die Mutter des Erzählers. Sie vermisst ihr früheres Dasein schmerzlich, sehnt sich zurück nach Bukarest, nach "ihrem" Rumänien, zu den "Dingen vor der Zeit". Damit schreibt Haller die Saga weiter. Denn das Fatum der Familie der Mutter hat er bereits in seinem vorangegangenen Roman "Die verschluckte Musik" (2001) beschrieben. Hier zeichnet sich ein Thema ab, das neben Haller ein zweiter Autor der Schweizerischen Gegenwartsliteratur aufgenommen hat. Auch Urs Widmer hat mit "Der Geliebte der Mutter" (2000) und "Das Buch des Vaters" (2004) dem jeweiligen Elternteil seines Erzählers gedacht. Die Perzeptionsästhetik beider Schriftsteller ist große Erzählkunst. Eine Bilderfülle, so ergreifend, so dicht, die sich selbst zu überwältigen vermag.

In Hallers "Schwarzem Eisen" offenbart sich im Abschluss ein Ikonoklasmus. Dem Kraftwerk, "Großvaters Bild", dem "Palast der Turbinen", seiner "Utopie", wird ein anderes Bild gegenübergestellt: "Ein unscharfes, schattenhaftes Schwarzweißphoto, graue Würfel, zwei parallele, geschwungene, dunklere Linien, Karrenspuren in einem weichen Untergrund, rechts, auf einem Buckel, eine Gestalt - ein Umriss nur wie aus dem Gleichgewicht gebracht: Anfang einer Bewegung, die nie enden würde, weil unklar blieb, zu welchem Abschluss sie gekommen wäre". Unscharf bleibt manches, die Personen, deren Nachnamen abgekürzt werden, die Orte, denen es nicht besser ergeht. Nur die Glut lodert deutlich hervor. Aus der Wüste, durch den Ofen, in Hans H.

Titelbild

Christian Haller: Das schwarze Eisen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2004.
313 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3630871844

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