Ein Denkmal für zwei Denkende

"Der Dichter Bertolt Brecht" im dritten Band der "Günter-Hartung-Edition"

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist Johann Friedrich Reichardt schuld. Der Komponist und Schriftsteller feierte vor zwei Jahren seinen 250. Geburtstag und beanspruchte damit die besondere Aufmerksamkeit seines Herausgebers Günter Hartung. Dessen Pläne zur Überarbeitung und Zusammenstellung seiner langjährigen Brecht-Arbeiten mussten seiner Haupttätigkeit "gewissermaßen abgewonnen werden" - offenbar das Schicksal des "Dichters Bertolt Brecht" als Hartung'sches Forschungsobjekt. Was dessen Bedeutung nicht zu mindern scheint, widmet der Autor ihm doch den gesamten dritten Band seiner "Gesammelten Vorträge und Aufsätze". Dennoch scheint die "kleine Entschuldigung", mit der er seine Sammlung eröffnet, Kritik an der Komposition des Bandes und seiner Bearbeitung der einzelnen Beiträge parieren zu wollen: Altersbedingte Konzentrationsschwächen erklärten das Fehlen von zur "Komplettierung des Ganzen benötigten", aber nicht mehr "druckreif" bearbeiteten Texten, der Verweis auf den "historischen Zeugniswert" der bis in die späten fünfziger Jahre zurückreichenden Studien soll unzureichende Quellenangaben und die ausführliche Darlegung teils überholter Theorien entschuldbar machen.

Wenn auch aus diesen Gründen vielleicht eher unfreiwillig, so doch in bester Brecht'scher Tradition gibt Hartung im Vorwort eine "Leseanweisung": Auf die erst kürzlich fertig gestellte Studie zur "Geschichte des Brechtschen Lehrstücks" sei "besonders hingewiesen". Es ist der längste Beitrag, der mit über 100 Seiten fast ein Viertel des gesamten Bandes beansprucht; gewissermaßen das Herzstück der Sammlung, ihre "Achse", wie der Autor betont. Tatsächlich bietet ihm der Begriff und das Phänomen "Lehrstück", dieser vermeintlich eindeutige Gattungstyp eines lehrhaften Theaters, hin- und hergerissen zwischen einem reinen Lernstück (Reiner Steinweg) und dem modernen Musiktheater (Klaus-Dieter Krabiel), den vielleicht brauchbarsten Ansatzpunkt für die geplante Annäherung an eine "Brechtsche Ästhetik". Hartung findet hier den "Künstler Brecht" wieder, der mit seiner literarischen Formenwahl zwischen dem - zweifellos gebotenen - erzieherischen "Ernst" und dem eigenen Spaß am Schreiben zu vermitteln versucht.

Die Suche nach Formen einer zeitgemäßen Kunst, die notwendigerweise lehrhafte Zwecke zu verfolgen habe, erscheint als "Leitmotiv" des Brecht'schen Schaffens und kehrt als solches in Hartungs Untersuchungsreihe wieder. Deren Schwerpunkt liegt, wie könnte es bei einem "Stückeschreiber" anders sein, bei seinem (im weitesten Sinne) dramatischen Werk. Die an Seiten wie argumentativem Gehalt gewichtigsten Beiträge behandeln Brechts Theaterarbeit. Dies in historischer Perspektive, die sich in einer im Kern weitgehend chronologischen Anordnung des Bandes niederschlägt: beginnend bei den frühen Versuchen zur epischen Oper, wo Hartungs Kenntnisse als "Gasthörer der Musikwissenschaft" der Analyse sehr zugute kommen, über die seit den frühen 30er Jahren währenden Experimente mit einer "Form des Theaters der Zukunft" bis zu den gewissermaßen "historischen Stücken", die von und aus den "finsteren Zeiten" sprechen.

Mit der Szenencollage "Furcht und Elend des dritten Reiches" wählt Hartung ein weniger bekanntes Exponat der Brecht-Forschung - der Brecht-Stücke-Forschung, um genau zu sein. Ein Szenenreigen aus dem deutschen Alltag der Jahre 1933 bis 1939, der sich durch die "Flüchtlingsgespräche" und der "Kriegsfibel" zu einem Panorama des deutschen Schicksals erweitern ließe. Dem scheinbaren "Realismus" dieser Episoden sitzt dann auch Brechts theoretisierender Antipode Georg Lukács auf, denn er lobt sie ausdrücklich als "ein lebendiges, durch Menschenschicksale vermitteltes Bild", während er Brechts übrige Stücke als einem "abstrakt-revolutionären Utilitarismus" dienend abtut. In seinem zweifellos ausbaufähigen Beitrag zeigt Hartung anhand dieser Konfrontation, dass Brecht hier den "soziologischen Experimenten" mitnichten abgeschworen hat, sondern vielmehr auf eine altbekannte Methode sprachartistischer Kritik zurückgreift: Die Satire als "operatives Genre", von Karl Kraus bereits erprobt, erweist sich als eine Art Schlüssel zum "Dichter Bertolt Brecht" - er handhabt sie als eine literarische "Technik, die reale (!) politische Gegensätze aufgreift" und diese "Wahrheit" auf eine so "lustige" wie "listige" Weise verbreiten lässt.

So auch in dem um 1930 entstandenen Gedicht über die "Teppichweber von Kujan-Bulak": Als Günter Kunert es einst als literarisch verpacktes Beispiel für gelungene "Hilfe zur Selbsthilfe" deutete, setzte Hartung seine "kritische Lektüre der Kritiker" entgegen. Er demonstriert den geradezu "klassischen" Gehalt des Werkes, zitiert als homerischer Hexameter und "antikisierende" Gipsbüste Lenins, die dann doch der "fiebervernichtendenden Tonne Petroleum" und einer schlichten Tafel zu weichen hat, dafür aber von der künstlerischen Absicht eines "bedeutenden Dichters" zeugt. Dass Kunert hier "geradenwegs an Brecht vorbeigegangen" sei, erscheint Hartung ein noch verzeihlicher Irrtum, während er in den Editionsprinzipien von Walter Benjamins "Gesammelten Schriften" (1974ff.) bestimmte Umwege ins "editorische Abseits" erkennt, die ihn zu einer so detaillierten wie harschen Kritik dieser "kritischen" Herausgeber bewegen. Für den Band wählt er zwei Passagen aus, in denen das produktive Verhältnis Benjamins zu Brecht "richtiggestellt" werden soll, nachdem "Wiesengrund-Adorno" - eigentlich Brechts Kosename für den Intellektuellenkollegen der Frankfurter Schule - auch noch posthum den ehemaligen "Widersacher" ins Abseits gedrängt habe.

Wie sehr ihm der Dichter in Brecht am Herzen liegt, zeigt Hartung in der konsequenten Parteinahme für das ästhetische Moment in allen alten und "neuen" Gattungen, selbst der romanhaften Prosa Brechts, die sich dem bürgerlichen Roman à la Thomas Mann als zeitgemäße künstlerische Alternative entgegenstellt. Nicht zufällig eröffnet Hartung seine Sammlung mit der persönlichen und intellektuellen Gegnerschaft des "Stehkragens" (Brecht über Mann) und des "Scheusals" (Mann über Brecht): Beide beanspruchten, wohlgemerkt jeder auf seine Weise, eine Traditionslinie deutscher Dichter und Denker fortzuführen. Dass Hartung dem Brecht'schen Weg den Vorzug gibt, verdeutlicht er an Brechts Umgang mit dem großbürgerlichen, revolutionsfeindlichen und zweifelsohne bedeutenden Dichter Goethe. Das Fazit mag vielleicht verwundern, nimmt aber, gleich einer erneuten Leseanweisung, eindeutig die Stoßrichtung aller folgenden Beiträge vorweg: Die "Übereinstimmung im Prinzipiellen, die hier drei große Dichter miteinander vereint" - Goethe, Heine und Brecht - liegt in der Überzeugung von einer "Autonomie der Kunst". Auf diesen Pfeiler baut Hartung abschließend und resümierend die "Grundzüge einer Brechtschen Ästhetik", Werk eines "Denkenden" und "Dichtenden" in einer Person, mit dem "Kultur ein Ziel des realen Humanismus und eins von seinen Mitteln zugleich" wird.

Hartungs Hoffnung, der Leser möge "die allen Beiträgen gemeinsame Grundanlage nicht verkennen", hätte sich zweifellos auch ohne seine Regieanweisungen erfüllt. Und da sich der Anspruch auf "Vollständigkeit" einer Sammlung zum "Dichter Bertolt Brecht" wohl kaum auf inhaltliche Aspekte beziehen kann - dafür steht nicht zuletzt der in zweierlei Gestalt faksimilierte "Zweifler" -, sondern hier vielmehr durch das Repertoire des Autors beschränkt wird, ist der "fragmentarische" Charakter des gesamten Bandes entschuldbar. Wirklich bedauerlich ist allerdings, dass die Reichardtiana einer umfassenden Aktualisierung und Neudiskussion der "historischen" Beiträge zu Brecht im Wege standen. Die germanistische Leserschaft hätte so sicher mehr gehabt an diesem Band. So bleibt das Buch ein Denkmal, ein doppeltes immerhin: eine facettenreiche und lesenswerte Darstellung des "Dichters Bertolt Brecht" und das Dokument einer germanistischen Karriere.

Titelbild

Günter Hartung: Der Dichter Bertolt Brecht. Zwölf Studien.
Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2004.
450 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3936522685

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