Das Leben außerhalb der Zukunft

Ruth Klüger redet über alte Menschen in der Dichtung

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein schmales Buch, das als Band 104 der Wiener Vorlesungen im Rathaus Wien gerade erschienen ist. Darin enthalten ist eine Rede der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger, die diese anlässlich der Eröffnung des 6. Wiener Internationalen Geriatriekongresses 2003 gehalten hat. Einführend skizziert Hubert Christian Ehalt die Geschichte, Bedeutung und Ziele der Wiener Vorlesungen und führt kurz in die Thematik des Kongresses ein.

Ähnlich wie Siegfried Lenz in seinem Essay "Über das Altern in der Literatur" greift Ruth Klüger in ihrem Vortrag literarische Phänomene auf. Zu Beginn stellt sie fest, dass alte Menschen in der Literatur "entweder gute Ratgeber und Seher" sind oder "Hexen und Miesmacher". Ihnen allen ist die Verfallenheit an die Vergangenheit gemein, ein literarischer Topos. Nur manchmal dürfen alte Frauen noch mitspielen, trotz ihrer Unfruchtbarkeit aufgrund ihres Alters werden sie z. B. in der Bibel noch einmal schwanger. Eine ähnliche Macht erhalten alte Väter, die ein letztes Mal Zukunft realisieren.

Einen anderen Motiv-Komplex findet Klüger im "König-Lear-Modell", bei dem "das Problem des Abdankens, das Weitergeben der Zügel und des Managements" im Erbschaftsproblem zusammentreffen. Dieses Modell kehrt nach Shakespeares Drama bei Goethe wieder, bei Schiller und Balzac, bei Thomas Bernhard.

Schließlich widmet sie sich der literarischen Alterseheidylle, "verkörpert in der Sage vom Paar Baucis und Philemon", und deren Verarbeitung in der deutschen Literatur. Ihr erstes Fazit lautet: Alte Menschen, die "Gegenwart beanspruchen, sind, in der Literatur zumindest, in einer heiklen Situation". Davon zeugen auch viele Beispiele aus der jüngsten Gegenwartsliteratur, die Klüger nicht betrachtet, wenn z. B. im Roman "Guten Morgen ihr Toten" von Emmanuelle Bayamack-Tam eine 83-Jährige und ihre Freundin Liebe und Sex aktiv genießen, oder die anrührende Liebesgeschichte der "Klatschmohnfrau" von Noëlle Châtelet. Hier werden Tabus aufgegriffen und durchbrochen, wenn auch nur fiktiv.

Im zweiten Teil des Vortrags folgt ein Ausschnitt aus der englischen Übersetzung von Ruth Klügers Autobiografie "weiter leben", in der ein Epilog enthalten ist, der sich mit dem Sterben und dem Tod von Klügers Mutter beschäftigt. Mit diesen persönlichen Gedanken zum Thema Altern endet das Buch, besser gesagt, mit folgender Strophe aus einem Gedicht von Theodor Kramer:

Alte Leute sind halt alte,
haben oft ein zweits Gesicht;
will man nicht die Wahrheit hören,
mag sie manchmal auch verstören,
frage man sie lieber nicht.

Ruth Klügers Gedanken sind anregend, wenn auch nicht umfassend, was dem Anlass geschuldet ist. Neben Hannelore Schlaffers "Das Alter" liegt mit ihnen ein weiterer interessanter Beitrag zum Thema vor.

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Ruth Klüger: "Ein alter Mann ist stets ein König Lear". Alte Menschen in der Dichtung.
Picus Verlag, Wien 2004.
55 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-10: 3854525044

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