Aus dem weiblichen Geist des Widerspruchs geschrieben

Carola Hilmes über einige Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht zu Unrecht wurde Franziska zu Reventlow in der Münchner Boheme um 1900 für ihre außergewöhnlich freizügige Liebes- und Lebensauffassung gerühmt. Gegenüber dem Liebesleben einer anderen Bohemienne mutet dasjenige von Schwabings berühmter "Mutter und Hetäre" jedoch geradezu konventionell an. Die Rede ist von Elsa von Freytag-Loringhoven, die ebenfalls einige Zeit im damals leuchtenden München verbrachte, ohne dass sie und Reventlow einander je begegnet wären. Zuvor hatte Freytag-Loringhoven an der Aufbruchstimmung der Berliner Boheme teilgehabt, später lebte sie als "Exzentrikerin von Greenwich Village" in den USA.

Nachdem Irene Gammel der "Dada Baronesse" ein Buch gewidmet hat, würdigt nun Carola Hilmes in ihren "Aspekte[n] einer Frauenliteraturgeschichte" das "ganz und gar unkonventionelle Leben" der in Deutschland lange vergessenen Lyrikerin und Künstlerin. Zwar trat Freytag-Loringhoven auch mit einigen englischsprachigen Gedichten hervor, die durch ihre "radikale Schreibweise" beeindruckten. Ihre "wichtigste künstlerische Ausdrucksform" war Hilmes zufolge jedoch ihr Lebensentwurf, der "konventionelle weibliche Rollen" durch "Übererfüllung sexualisierter Frauenbilder" ad absurdum führte. Freytag-Loringhoven, die schwarzen Lippenstift auftrug und sich schon mal Briefmarken auf die Wangen klebte oder den Schädel kahl rasierte, war, wie Hilmes schreibt, "keine Heilige, keine Jungfrau, weder Hausfrau noch Mutter, nicht Witwe, keine alte Jungfer und auch kein Blaustrumpf [...], aber auch keine Prostituierte, keine große Kurtisane"; sie negierte all diese "Realtypen des Weiblichen". So spricht Hilmes zwar vom "transgressive[n] Feminismus" der Baronin, zeigt sich aber dennoch skeptisch gegenüber "feministische[n] Vereinnahmungen". Ebenso wenig möchte sie Freytag-Loringhoven als Performance-Künstlerin oder als "Proto-Punk" "aufgewertet" und "aktualisiert" sehen. Kaum eine von Freytag-Loringhovens nichtliterarischen Arbeiten ist erhalten geblieben. Zu den wenigen 'Performances' der Avantgarde-Künstlerin, welche die Zeit überdauerten, zählt ein von Marcel Duchamp und Man Ray gedrehter Film, in dem sie sich die Schamhaare abrasiert.

Neben Freytag-Loringhovens "Skandalgeschichte" leuchtet Hilmes weitere Aspekte einer um bildende Kunst und Videoclips erweiterten Frauenliteraturgeschichte aus, die mit den Reisebriefen Lady Montagus, Elisabeth Craven und Ida Gräfin Hahn-Hahn einsetzt und bis hin zu Madonnas Clip "Justify my love" reicht. Denn "im Zeichen der Postmoderne", so argumentiert Hilmes, könne und müsse der Feminismus "sein politisches Engagement an Phänomenen der Massenkultur erproben".

Reiseliteratur von Frauen verdient Hilmes zufolge ein besonderes Interesse, "da sie einen "geschlechtsspezifisch anderen Blick auf das Fremde" werfe und zudem erstmals "für europäische Männer verbotene Räume", also Harems, "in Augenschein" nehme. So berichte Lady Montagu "aus dem weiblichen Geist des Widerspruchs" von ihre Reise nach Konstantinopel. Allerdings konstatiert Hilmes eine absteigende Entwicklung von Montagus aufklärerischem Blick zum "koloniale[n]" der Gräfin Hahn-Hahn.

Andere Kapitel gelten etwa den Erzählungen Unica Zürns oder den Publikationsbedingungen, denen Schriftstellerinnen zwischen 1770 und 1830 unterworfen waren. Hilmes zufolge verhielten sich Frauen zu dieser Zeit alleine schon "enorm politisch", wenn sie überhaupt als Schriftstellerinnen an die Öffentlichkeit traten. In einem weiteren Abschnitt unterzieht Hilmes Literarisierungen romantischer Liebe um 1800 und 1900 an Werken Karoline von Günderrodes und Lou Andreas-Salomés einem Vergleich, um zu zeigen, "welche Schatten die Literatur auf das Leben wirft". Besonders aufschlussreich ist jedoch Hilmes' Interpretation von Angela Carters Roman "The Passion of New Eve", die im Zentrum eines der "neue[n] Eva" gewidmeten Kapitels steht, in dem Hilmes einen Bogen spannt von Julien Offray de La Metrries "L'Homme machine" bis Donna Haraways "Manifesto for Cyborgs".

Die Konzeption des vorliegenden Buches ist wohldurchdacht und die Auswahl der betrachteten "Frauenliteratur" durchaus zustimmungsfähig. Daher kann Hilmes' Vorhaben, einige Aspekte einer noch immer ausstehenden umfassenden "Reformulierung der deutschen Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung" auszuleuchten, als gelungen bezeichnet werden. Auch ist ihr Verständnis des Begriffs "Frauenliteratur" nachvollziehbar. Mit ihm bezeichnet die Autorin nicht nur Literatur von und für Frauen, sondern auch "Präsentationsformen des Weiblichen in der Literatur" sowie "gendersensible" Lektürestrategien und Stellungnahmen.

Zu monieren bleiben daher nur einige Unklarheiten und Ungenauigkeiten im Kleinen. So ist es nicht eben erhellend zu lesen, dass "[i]n unserer christlichen Tradition [...] alle Frauenfiguren letztlich irgendwie [!] auf Eva zurückgeführt" werden. Auch wüsste man gerne, worin die "magische[n] Kräfte" liegen, die Hilmes in Mary Shelleys Roman "Frankenstein, or the Modern Prometheus" "am Werk" sieht. Trotz solch kleinerer Mängel handelt es sich um ein insgesamt beachtens- und lesenswertes Buch.

Titelbild

Carola Hilmes: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2004.
245 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3897411547

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