Kunst und Gegenkunst

Werner Hofmanns "Die gespaltene Moderne"

Von Walter WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Wagner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In sechzehn repräsentativen Essays schreitet der Kunstkritiker und ehemalige Direktor der Hamburger Kunsthalle Werner Hofmann das weite Feld der Moderne ab, die aufgrund der Heterogenität ihrer Formensprachen und der Befreiung von überkommenen Regelwerken als einmalige Erscheinung innerhalb der Kunstgeschichte des Abendlandes hervortritt. Der Autor setzt ihren Beginn in der Mitte des 18. Jahrhunderts an, wo Normverstöße zwar bereits erprobt wurden, allerdings noch nicht imstande waren, gängige ästhetische Konzepte aus ihrer selbstgefälligen Unverrückbarkeit aufzustören.

Im ersten Abschnitt von "Die gespaltene Moderne" expliziert Hofmann seine Theorie der Transgression und statuiert sie als grundlegendes Prinzip einer dynamischen Moderne. Wie er im Aufsatz "Gegenwelt und Gegenkünste" ausführt, wurzelt das wesentliche Moment dieser Epoche in der Opposition gegen den jeweils vorherrschenden Kunstbegriff. Karikatur, Satire, Groteske oder Fantastik treten in dieser Perspektive gegen eine normative Ästhetik an und unterlaufen sie zunächst noch provokatorisch, um allmählich zu einer Gattung sui generis aufzusteigen, wie dies etwa bei den Lithografien von Daumier der Fall ist.

Im Sinne einer widerständigen Epoche bleibt "Das Bild nicht mehr Ausschnitt der Welt", so der anschließende Essay, sondern tritt über die Beschränkung des Rahmens hinaus. Hat die Trennung von Kunstwerk und Wirklichkeit abgedankt, dann resultiert daraus eine neue begriffliche Eingrenzung, für die Hofmann folgende Formel vorschlägt: "Denn das Bild ist heute nicht mehr Ausschnitt einer Welt, sondern gestalthafte Summe von deren Kräftespiel."

Aus dieser Öffnung hin zum prosaischen Außenraum der Kunst ergibt sich "Der Gewinn an neuer Wirklichkeit". Traumerfahrung erhält daher denselben Stellenwert wie Bewusstseinserfahrung. Der Weg zur gegenstandslosen Malerei sowie zum Surrealismus ist nun geebnet und ermöglicht eine ins schier Unendliche erweiterte Zahl neuartiger Sujets.

"Auch die Weisheit von heute wird morgen umgeschmissen", ein Diktum Wassily Kandinskys, stellt Hofmann den nachfolgenden Überlegungen voran. Er bricht dabei eine Lanze für das unvollendete Kunstwerk, das sich im Torso wie im Fragment manifestiert. Der Rezipient ist nunmehr eingeladen, das Bild, den Text oder die Skulptur zu Ende zu denken. Dergestalt erfolgt eine Gleichstellung von Versuch und letztem Zustand, den uns der Künstler vorenthält.

In "Picassos 'freie Hand' und die Karikatur" kommt der Kritiker neuerlich auf die Karikatur zu sprechen, der Winckelmann die "Freiheit der Hand" bescheinigte. Goya verwirklicht als Erster ein den geltenden Schönheitsnormen gegenläufiges Ideal und stellt die Weichen in Richtung Picasso, der das düstere Zerrbild menschlicher Schwächen seines Vorgängers in eine harmlosere Kritik des Kunstbetriebes ummünzt.

Vorbilder werden im zweiten Abschnitt der vorliegenden Monografie aufgerufen. Den Auftakt bildet "Jacob Burckhardt: 'Gesichtspunkte für Jegliches'". Hofmann, der seine Verehrung gegenüber dem Meister nicht verbergen kann, bezeichnet ihn gleichwohl als "Abschweifer par excellence", dessen Abhandlungen das "Durcheinander und Nebeneinander" der Kultur reflektieren. In der Aufhebung von Gattungsgrenzen erblickt er eine Prämisse der Kunst, womit er einen Wesenszug der Moderne vorwegnimmt.

"Nietzsches Doppelblicke und Gegenwahrnehmungen" gewähren einen Einblick in das Potenzial dieses genialen Philosophen, dessen Denkfiguren Hofmann auch für seine Untersuchungen fruchtbar gemacht hat. Der Verfasser lässt sich von Nietzsches charakteristischem Oszillieren zwischen den Standpunkten inspirieren, um daraus das Begriffspaar monofokal - polyfokal abzuleiten. Gemeint ist damit der Übergang vom einsinnigen Kunstwerk zum polysemen Artefakt des modernen Künstlers. Vor dem Hintergrund einer obsolet gewordenen endgültigen Wahrheit gewinnt der formale Ausdruck des Bildes an Bedeutung. Nicht mehr tiefsinniges Interpretieren, sondern Beschreiben und Benennen sind mithin angesagt.

Mit "Warburgs Konstellationen" erinnert sich Hofmann des gleichnamigen Kunsthistorikers, den er anhand von drei zentralen Themen seines Forschens vorstellt: der Ausstellungspraxis, dem offenen Kunstbegriff und dem ihn begleitenden offenen Deutungshorizont. Warburgs Ansatz, der sich des System- oder Methodenzwangs entschlägt, läuft indes Gefahr, in die Nähe der Beliebigkeit gerückt zu werden. Gerade diese liberale Haltung zur Kunst macht ihn auch zum kongenialen Theoretiker der Moderne.

"Julius von Schlossers 'offenes System'" bringt uns einen eminenten Vordenker der Avantgarden des 20. Jahrhunderts nahe. "Der Verächter doktrinärer Lehrgebäude und der Bezweifler eines geschlossenen Kunstbegriffs" begibt sich in die Randgebiete der Kunst, um die Faszination vorsäkularisierter Werke aufzuspüren. Sein dem anything goes verpflichteter Kunstbegriff kennt keine Kunstsünden, eine Haltung, die er mit den modernen Künstlern teilt.

Ein weiteres Vorbild präsentiert Hofmann in "Ernst Gombrichs 'gestörter Form'". Der am Londoner University College lehrende Kunsthistoriker postuliert eine Moderne, die vom Suchen und Experimentieren geprägt ist. In seiner "Geschichte der Kunst" negiert er die Kunst zugunsten des Künstlers, dem allein Realität zugeschrieben wird.

Im Reigen der Mentoren darf natürlich einer nicht fehlen. Hofmann erinnert im Aufsatz "Hans Sedlmayr: Im Banne des Abgrunds" an ihn. Der gelernte Architekt Sedlmayr ist auch mit den Methoden der Gestaltpsychologie vertraut und nützt diese disparaten Blickwinkel bei der Abfassung jener Arbeit, die er nach eigenen Angaben als sein Hauptwerk bezeichnet: "Die Entstehung der Kathedrale" (1950). Sein ganzheitliches Denken verbot ihm freilich einen differenzierten Zugang zur Moderne, in der er "ein chaotisches Tollhaus" erblickt.

Hofmann beschließt seinen Besuch bei den geistigen Vätern mit zwei Franzosen, denen er "Duchamp und Matisse am Nullpunkt der Malerei" widmet. Am Beispiel von Duchamps "Fresh Widow" (1920), einem Bildobjekt, das ein geschlossenes Fenster darstellt, zeigt der Autor, wie die Moderne die der Tradition verhaftete einsinnige Kunstbetrachtung in Frage stellt. Anstatt das Verständnis des Objekts zu erleichtern, erschwert der Titel den Zugang. "Fresh Widow" spielt mit der passenderen Bezeichnung "French Window", wobei der Betrachter in beiden Fällen mit einem geschlossenen Fenster konfrontiert wird, das den zu erwartenden Aus- bzw. Einblick verwehrt.

Magrittes "Pfeife" mit der Legende "Ceci n'est pas une pipe" (1929) gilt ebenso als typischer Vertreter der Moderne, indem der Maler verschiedene Wahrnehmungsebenen ineinander verschränkt und je nach Betrachtungsart mehr das Sachliche bzw. mehr das Künstlerische in den Vordergrund stellt. Gleichzeitig eröffnet das Kunstwerk einen Diskurs über die ästhetische Illusion, deren Einlösung bis zum 20. Jahrhundert jegliche künstlerische Produktion bedingte.

Matisse gesellt sich zu den oben Erwähnten und kehrt mit ihnen "in die Polyfokalität des Mittelalters" zurück. Mit diesem Fazit beweist Hofmann einmal mehr die enorme Bandbreite seines Wissens und Assoziationsvermögens. Wer so wie er souverän zwischen Epochen und Stilen wandert und scheinbar mühelos Beispiele aus der Literatur zitiert, eröffnet dem Leser ungeahnte Perspektiven und Denkrichtungen. Daher fühlt man sich erleichtert, wenn der zweite Abschnitt noch in einen dritten übergeht, um dem Autor so noch länger bei seinem ästhetischen Rundgang folgen zu können.

Jean Paul wird zum Schirmherr des mit "'Glühend Eis' und 'schwarzer Schnee'" überschriebenen Textes erkoren. Bei ihm und bei Shakespeare scheint "etwas aus dem Lot geraten". Komisches paart sich mit Ernstem, Erhabenes mit Lächerlichem, die Höhenlagen werden gemischt und Disparatestes (wie der Titel erahnen lässt) wird ähnlich einem Oxymoron miteinander verknüpft. Dieses neue Phänomen wird zur Prämisse einer Capriccio-Ästhetik, die eine Abweichung vom normativen Schönheitsbegriff anstrebt. Thomas von Aquin und Leon Battista Alberti schreibt Hofmann die Urheberschaft dieses Ideals zu, das erst die Moderne endgültig entmachtet.

Um diese These überzeugend darzustellen, holt Hofmann weit aus. Lawrence Sternes chaotische Prosa reiht sich ebenso nahtlos in das vom Autor geschaffene Mosaik ein wie das Schloss und der Garten von Wörlitz, wo Künste, Wissenschaften, Technik und Natur friedlich kohabitieren. Angesichts derartiger Exkurse ist man geneigt, Hofmanns sprunghafte, wenngleich in sich stimmige Methode als wissenschaftlichen Ausdruck einer chamäleonhaften Moderne zu werten, der es immer wieder gelingt, erstaunliche Perspektiven zu eröffnen.

So auch in "Geplante Zufälle, gestörte Konzepte", wo "die Rolle des Zufalls, kalkulierter Irritationen und anderer Störfaktoren" herausgearbeitet wird. Goya, E. T. A. Hoffmann und wieder Goya sind die Schlüsselfiguren einer auf Wahrnehmungsschocks setzenden Ästhetik, die ihr Sendungspathos aufgibt, um die unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit herauszustreichen: Kunst als Inbegriff schöpferischer Ambivalenzen entdeckt das Feld des Möglichen, auf dem die Widersprüche versöhnt werden.

Diese Conclusio führt zu Flauberts sentiment moderne, das alle Formhöhen vermischt. "Das gespaltene Pathos der Moderne" nennt Hofmann das Konzept einer Pathos-Dekonstruktion, zu deren prominentesten Vertretern der Maler Hogarth und der Schriftsteller Diderot zählen. Nicht mehr das kategorische Entweder-oder, sondern das Sowohl-als-auch dominiert fortan die Kunst der Moderne, die ein von "komplementären Gegenimpulsen" getragenes Projekt darstellt, das sich keineswegs linear entwickelt hat.

Ihr Terrain hat Hofmann mit überragendem Sachwissen und literarischer Verve abgesteckt. Seine Aufsatzsammlung ist daher mehr als eine anregende Lektüre, nämlich letztlich der Versuch, eine Fülle von disparaten Tendenzen unter dem Brennglas leidenschaftlicher Neugier zu bündeln. Man kann sich dem Reiz, den dieser Querschnitt aus fünfzig Jahren Geistesarbeit ausübt, nicht entziehen und schließt diesen Band satt und hungrig zugleich.

Titelbild

Werner Hofmann: Die gespaltene Moderne. Aufsätze zur Kunst.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3406521851

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