Schreiben zum Anfang im Ende

Der Briefwechsel von Annemarie Seidel und Carl Zuckmayer

Von Steffen MartusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Martus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Liebesbeziehung zwischen Annemarie Seidel und Carl Zuckmayer erscheint wie eine amour fou aus den Träumen des Fin de Siècle. Die beiden trafen sich erstmals am Beginn der Weimarer Republik. Seidel hatte an der Jahreswende 1919/20 ihre Anstellung bei den Münchner Kammerspielen aufgegeben, war ohne Engagement nach Berlin gezogen und dort gleich wieder auf der Bühne gelandet. Zuckmayer war ebenfalls gerade in Berlin angekommen, reiste gewissermaßen der Uraufführung seines Dramas "Kreuzweg" hinterher, und traf dabei die "junge Schauspielerin, die im schwarzen Samtkostüm eines Prinzen berückend aussah, mit einer schimmernden blonden Haarsträhne über der klaren Stirn". Sie war sein "Schicksal", wie Zuckmayer in seiner Autobiografie schreibt, das die beiden "ganz nah am Verhängnis" vorbeiführen sollte.

Seidel gibt zunächst die junge, aufstrebende und gefeierte Schauspielerin, Zuckmayer den ebenso jungen, aber nur mäßig erfolgreichen Schriftsteller, der vor dem Staatstheater auf seine Geliebte wartet und dabei auf Bierdeckeln feucht-melancholische Gedichte reimt - "Ich bin im Cognac-See ertrunken / Sechs Monde schwimmt mein Leichnam wie ein Fisch, / Mit weißem Bauch noch unverwest und frisch, / Ein Freund der bittren Angostura-Unken". Seidel wird schwanger, verliert ihr Kind bei einer Aufführung von Shakespeares "Sturm". Im Frühjahr 1922 erkrankt sie ernsthaft. Schon zuvor hatten sich erste Anzeichen eines Lungenleidens gezeigt. Der reich bemittelte Anthony van Hoboken, ein Verehrer Seidels, rettet sie in letzter Sekunde. Er übernimmt die Kosten für den Genesungsaufenthalt und begleitet sie auf ihrer Reise. Seine Bemühungen haben zweifachen Erfolg: Seidel wird gesund, und sie heiratet am 7. Dezember 1922 den Millionär - 1932 geht die Ehe in die Brüche. Seidel kommt mit Peter Suhrkamp zusammen, dem sie bis kurz vor ihrem Lebensende 1959 verbunden bleibt.

Sehr lange dauerte sie also nicht, die Liebesbeziehung zwischen Annemarie Seidel und Carl Zuckmayer, aber sie war so intensiv, dass sich daran ein lebenslanger Briefwechsel anschloss, den Gunther Nickel jetzt mit aufschlussreichem Vorwort und Kommentar herausgegeben hat. Dass diese Beziehung über alle Krisen erhaben sein würde, beschließt Zuckmayer bereits im ersten Brief nach der Trennung: "Ich glaube an Dich, absolut, und dass Du Dein Bestes nie aufgeben oder verbiegen wirst, was Du auch tust im Leben. Und dass wir uns nie ganz verlieren werden, denn wir sind und bleiben vom gleichen Geblüt, so ist es, howgh". Bei der Bewältigung seiner Einsamkeit hilft dem Verlassenen der Glaube daran, dass Niederlagen nichts anderes sind als künftige Siege. Der Bruch mit der Geliebten wird so zum völligen Neuanfang, zum Beginn seiner eigentlichen Karriere. Und für Mirl, wie er Annemarie Seidel liebevoll nennt, bleibt dabei nur Dankbarkeit: "Liebster Mirl, was Du mir gegeben hast und was Du für mein ganzes Leben bedeutest, so viel bekommt selten ein junger Mensch von seiner Frau geschenkt [...] Auch für den Schluss, und dafür vielleicht am meisten (!!) auch für alles, was mir damals Schmerz machte, bin ich Dir unendlich dankbar. Ich bin durch dich erst zu mir selbst gekommen".

Damit endet im August 1924 der Briefwechsel zwischen den vormals Liebenden, und der Briefwechsel zwischen den Freunden beginnt. Es geht darin um die Nöte und Sorgen der Künstlerexistenz, um Reisen und um Liebschaften, um Bücher, die man gerade gelesen hat, kritisiert oder empfiehlt, um die jüngsten Alkoholexzesse und nur selten direkt um Politisches. Hinter all den Petitessen aber, hinter den Alltäglichkeiten und den wunderbaren poetischen Exkursionen, die vor allem Zuckmayers Beschreibungen unternehmen, taucht immer wieder diese eine Gedankenfigur vom 'Anfang im Ende' auf. Mit ihrer Hilfe hatte der Verlassene den Sinn des Liebesschmerzes gefunden, durch sie nimmt er die Welt wahr, denn die vitalistische Übersetzung der Zerstörung in Erneuerung bildet das Zentrum der Lebensphilosophie nach dem Ersten Weltkrieg. Dieses Deutungsmodell macht die Briefe von Zuckmayer und Seidel zu einem Dokument nicht nur einer großen Freundschaft und des Kulturlebens der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre, sondern darüber hinaus der Mentalitäts- und Geistesgeschichte. An der Krise dieser gleichsam apokalyptischen Verschiebung der Katastrophe in ein Heilszeichen werden die Brüche kenntlich, die das 20. Jahrhundert durchfurchen.

Das Modell eines in der Niederlage verborgenen Siegs war nach dem Ersten Weltkrieg en vogue. Entsprechend grundiert es nicht allein beispielsweise die großartigen Landschafts- und Naturdarstellungen Zuckmayers, sondern auch sein Politikverständnis oder seine Poetik. So wie die politischen "Ratten getrost aus ihren Löchern kommen sollen", weil aus ihrem verdauten Fraß "schöner fetter Dung" wird, so hält Zuckmayer es auch beim Schreiben: "Zeit und Prügel" sind sein Rezept zur poetischen Selbsterziehung, und deren Trauben hängen hoch: "Ich will mich austoben", erklärt er im Mai 1930, "vielleicht schreibe ich nocheinmal ein Buch wie die Bibel, in dem alles drinsteht, was es in der Welt und über und unter ihr gibt. Das wäre doch was!" Auch Seidels Weltsicht ruht auf diesen Pfeilern. Noch im Frühjahr 1938 schreibt sie an den gerade in die Schweiz geflohenen Zuckmayer: "es muß einen tiefen, jetzt noch verborgenen aber fruchtbaren Sinn haben! Und es ist vielleicht eine Gnade daß der Zwang in eine bestimmte Richtung so grausam unausweichlich und eindeutig ist. Ich bin überzeugt daß [...] Unerträglichkeiten des Schmerzes neue ungeahnte Quellen in einem aufschließen können". Zuckmayer antwortet 1939 mit einer Vision der apokalyptischen Reiter.

Nur vor diesem Hintergrund versteht man, was das Jahr 1945 für Seidel bedeutet hat. Peter Suhrkamp ist dem Nazi-Terror nur knapp entronnen. Berlin sieht aus wie ein "starrendes Skelett, eine einzige Wunde mit verkohlten Wundrändern, und in den Bahnen trampeln sich die Leute tot ...". Nun aber fehlt, anders als in der ersten Nachkriegszeit, die apokalyptische Vision vom Durchgang durch den Schrecken als Weg zur Besserung. Im Gegenteil: Im Dezember 1945 vermisst Seidel den "Schwung, den wir nach dem vorigen Krieg aufbrachten", und nur wenige Wochen später fragt sie sich: "Was soll eine Menschheit, die in einem Zustand ist, der es Hitler ermöglichte, sie zu regieren." Sie verzweifelt an der Unbelehrbarkeit der Deutschen - "wenn sich etwas in den Ruinen regt, so scheint es wiederum das Alte zu sein ..." - und fühlt sich von nun fehl an ihrem Platz in der Geschichte.

Zuckmayer bezieht zwar in seinen Briefen nicht mehr so selbstsicher wie zuvor Position, aber ein Grundzug des alten Vertrauens auf das Ineinander von Gut und Böse hat sich bei ihm erhalten. Aus diesem Grund auch kann er beispielsweise den Romanen Samuel Becketts nichts abgewinnen - "Warten auf Godot" hält er allenfalls zu einem Drittel für erträglich, und "Molloy" kommt ihm vor "wie ein Ausfluss, nur über den Klappeimer. Muss das sein? Nun ja, vorübergehend. Dass er mich angehe, könnte ich nicht sagen". Anders seine Briefpartnerin, die nach dem Krieg geradezu fieberhaft auf den Besuch Zuckmayers wartet, um sich von seiner Lebensenergie anstecken zu lassen. Und tatsächlich: Sie blüht bei den Besuchen von "Zuck" regelrecht auf, seine "offene schenkende Herzlichkeit", wie Peter Suhrkamp 1947 an Brigitte Bermann Fischer schreibt, "wirkt hier geradezu erschütternd und hinreißend". Dass Annemarie Seidel in der Nachkriegszeit mit starken Depressionen und ihrer Alkohohlsucht zu kämpfen hatte, erscheint von ihren Briefen an Zuckmayer aus gesehen als Leiden an den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts. Ihre Korrespondenz ist bei allem Humor, mit dem die Briefpartner dem Leben begegnen, auch das Zeugnis einer historischen Enttäuschung.

Titelbild

Carl Zuckmayer: Briefe an Hans Schiebelhuth 1921-1936. Und andere Beiträge zur Zuckmayer-Forschung.
Herausgegeben von Gunther Nickel, Erwin Rotermund, Hans Wagener, Carl-Zuckmayer-Gesellschaft.
Wallstein Verlag, Göttingen 2003.
448 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3892446474

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