Wo bleibt die extented version?

Michael Maertens liest gekürzt, doch gekonnt gesprochen "Die Leiden des jungen Werther"

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Genuss eines Hörbuches beginnt visuell, mit der Gestaltung des Covers und des Booklets. Das Cover des Hörbuchs "Die Leiden des jungen Werther", gelesen vom Schauspieler Michael Maertens, zeigt ein grünes Auge in Großaufnahme und reiht sich damit in die Coverart von "Kiss me kiss me kiss me" der britischen Band "The Cure, dem Debütalbum der "La's" oder des Stax-Albums "Only for the lonely" von Mavis Staples ein. Das ist schön - passt, ist der "Werther" doch bis heute jung, frisch und revolutionär geblieben, ein echter Klassiker, ein Bestseller, der große, tragische Gefühle verspricht (also popkompatibel ist) und einhält.

Und da Pop schon immer und heute erst recht formatiert wird, war es für den HörVerlag vielleicht aus diesem Grunde nahe liegend, den "Werther" zu kürzen, damit man ihn auf einer Doppel-CD unterbringen kann. Das ist mehr als schade, es ist ein Ärgernis. Leider fehlt auch jeder Hinweis, auf welcher Textfassung die Lesung basiert. Auf der Erstausgabe von 1794 oder auf der von Goethe persönlich anhand eines Raubdrucks überarbeiteten und von Sturm und Drang-Elementen bereinigten Ausgabe von 1787? Auch im Popbereich nimmt man es manchmal sehr, sehr genau, was die Existenz zahlreicher historisch-kritischer CD-Boxen diverser Klassiker beweist.

Dessen ungeachtet legt man trotzdem die erste CD ein und ist allerspätestens bei der berühmten Ball-Schilderung mit dem legendären Klopstock-Link voll und ganz in der Materie. Man braucht vielleicht ein paar Briefe, um sich an Maertens Artikulation der (textbedingten) "Ahs" und "Ohs" zu gewöhnen, aber hat man diesen Schock überwunden, fließt es. Kritisch kann man anmerken, dass Maertens Wiedergabe der Lotte an einigen Stellen zu sehr dem Frauenbild des 18. Jahrhunderts verfällt, doch im (textbedingten) furiosen Finale des zweiten Teils haucht Maertens Lotte einen Geist ein, der der Vorlage entspricht. Über die Weglassungen könnte man streiten, sollte es aber nicht tun, da in diesem Fall jede Kürzung einer Heiligenschändung gleichkommt. Es gibt hier nichts zu streiten: Es war ein Fehler, Michael Maertens' gelungener Lesart nicht den vollständigen Text auszusetzen.

Fazit: Kenner, Liebhaber und interessierte Novizen sollten ob der gekürzten Fassung lieber selbst lesen oder sich privat vorlesen lassen. John Lennons "Werther"-Requiem "Happiness is a warm gun" wäre gekürzt nur ein Stolperstein für das Beatles-Werk und die Weltgeschichte. Wilhelm, das war nichts, würde der himmlische Werther wohl schreiben. Das Hörbuch wird eine Apokryphe für den Exegeten (oder eine Mogelpackung), was nicht im Sinne eines marktwirtschaftlich orientierten Hörbuchverlags sein kann.

Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther. 2 CDs.
Der Hörverlag, München 2004.
159 Minuten, 19,95 EUR.
ISBN-10: 3899403207

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch