International und interdisziplinär

Ein aktueller Sammelband zur kulturellen Praxis des Reisens

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein geisteswissenschaftliches Thema scheint sich besser für eine internationale Tagung zu eignen als das Reisen. Man kann sich sicher sein: Wer zu einer solchen Veranstaltung aus dem Ausland angereist kommt, hat in jedem Fall aktuelle eigene Erfahrungen, mit denen er seine historischen Untersuchungsgegenstände, also in der Regel die Erfahrungsberichte früherer Reisender, vergleichen kann und bringt zugleich das Versprechen einer Perspektivenumkehr mit. Im Ausland lebt oder lehrt knapp die Hälfte der 16 Referenten der Tagung "Travellers, Travels and Travel Writing in European Comparision (18th-20th Century)", die im Juni 2002 am Berliner Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas stattfand. Der jetzt unter dem doppeldeutigen Titel "Die Welt erfahren" erschienene Tagungsband belegt die Berührungspunkte der europäischen Reiseliteraturforschung und will das Reisen unter dem zentralen Aspekt der kulturellen Begegnung fassen.

Was die drei Herausgeber Arnd Bauerkämper, Hans Erich Bödeker und Bernhard Struck mit der Wahl dieses Leitthemas versuchen, ist nichts weniger als eine Annäherung der beiden sich für Reiseforschung zuständig fühlenden Hauptdisziplinen: der Geschichts- und der Literaturwissenschaft(en). Zwar wird der Band über zwei Drittel hinweg von Historikern bestritten, das Bemühen der Herausgeber um Interdisziplinarität ist jedoch weit mehr als ein Lippenbekenntnis. In ihrer gut informierten Einführung "Reisen als kulturelle Praxis" liefert das Historiker-Trio einen kenntnisreichen Überblick über die zentralen Themenfelder und Fragestellungen sowohl der Reise- wie der Reiseliteraturforschung. Reisebeschreibungen und Reisehandbücher als Zugang zu Erkenntnissen über die historische Reisepraxis, über die zeitgenössische Reiseprogrammatik oder über Transferprozesse von Wissen und Kultur zu nutzen, ist dabei nur eine Sache. Die inzwischen verbreitete Einsicht in die Genreabhängigkeit vieler Reisedarstellungen, ihr häufig auch literarischer Charakter und ihre Funktion, Wirklichkeit weniger abzubilden als vielmehr in ihrer Spezifik erst zu konstruieren, lassen deutlich werden, wie weit der Brückenschlag zwischen Mentalität und Textualität gelegentlich sein muss. Dass dem nur mit einer sensiblen Quellenkritik beizukommen ist, versteht sich dann nahezu von selbst.

Die Herausgeber gliedern vor diesem Hintergrund die Beiträge in drei Sektionen, die trotz der thematischen Vielfalt und einem Untersuchungszeitraum von über 200 Jahren in sich eine überraschende Geschlossenheit erreichen. Dies mag auch daran liegen, dass meist die etablierten Fragestellungen aufgegriffen und auf bislang wenig bekanntes Material übertragen werden. So beschäftigt sich die erste Sektion mit "Räumen und Zeiten des Reisens". Dort wird dann etwa am Beispiel der deutschen Wahrnehmung des Baltikums (Ulrike Plath), Polens und Frankreichs (Bernhard Struck) oder des Balkans durch tschechische Autoren (Hana Sobotková) die Konstruktion mentaler Landkarten oder die emotionale Besetzung von Grenzziehungen und Regionen thematisiert.

In der Sektion zu "Alteritäten und Identitäten" steht wiederholt die Produktion von Stereotypen und ihre historische Funktion im Zentrum des Interesses (so bei Gilles Bertrand oder Gabriele Dürbeck) oder es wird ein Autor wie Uwe Timm auf seine "postkolonialen" Qualitäten hin befragt (Paul Michael Lützeler).

Besonders tastend bewegen sich die Beiträge in der Sektion zum "Wissens- und Kulturtransfer". Von den Textzeugnissen reisender Psychiater (Thomas Müller) oder russischer Studenten (Alexandra Bekasova) auf tatsächliche Transferprozesse - sei es von Wissensbeständen, sei es von bestimmten Habitusformen oder Einstellungen - zu schließen, erweist sich offenbar als weniger leicht als die Schlüsse in den anderen Forschungsfeldern. Hier scheint die Ergiebigkeit des jeweils vorliegenden Quellenmaterials noch ausgelotet werden zu müssen, und Bernhard Struck warnt in seiner Einleitung zu dieser Sektion davor, mehr als eng begrenzte Einzelfallstudien zu erwarten.

In dieser bescheidenen Zielformulierung erschöpfen sich jedoch keineswegs alle Beiträge dieses Abschnitts, wohl aber manch andere des gesamten Sammelbandes. Wo das präsentierte Material nicht anders als bloß deskriptiv erschlossen wird, ist das Interesse des Lesers nur über die teils recht ausgefallene Thematik zu gewinnen und wird so zu einer Sache für Spezialisten. Dies ist beispielweise der Fall bei Julia Lederles Untersuchung der Indienmission in der Frühen Neuzeit oder Frauke Geykens Beschreibung der konfessionsgebundenen Wahrnehmung katholischer Regionen Deutschlands durch reisende Engländer im 18. Jahrhundert. Bedauerlicherweise wird gelegentlich sogar dezidiert auf einen theoretischen Rahmen verzichtet (so bei Alexandra Bekasova) oder schlimmer noch: die Reflexionen fallen hinter das Niveau des Einleitungsbeitrags der Herausgeber zurück. Dies ist der Fall bei Ulrike Plath, die behauptet, "das tatsächliche Fremderleben" deutscher Reisender und Migranten ins Baltikum untersuchen zu wollen, aber dann doch von deren Zuschreibungen und der literarischen Gestaltung der Texte handelt. Ihre Rede von "deutscher Lebensart", von "kulturellen und nationalen Extremen" oder ihr essenzialistischer Begriff von "Völkern" ist vor diesem Hintergrund, wo nicht unverständlich oder erklärungsbedürftig, so doch wenigstens irritierend.

Seine Stärken zeigt der Band hingegen in jenen Beiträgen, die ihr Material in methodische Reflexionen einbetten und sich um Analysekategorien und begriffliche Präzision bemühen. Das detailliert vorgeführte Material wird in diesen Fällen stets auch zum Exempel für eine reflektierte Auseinandersetzung, die sich - wo sie überzeugt - auf anderes Quellenmaterial übertragen lässt. Zu solchen anregenden Einblicken in die aktuelle Reiseliteraturforschung zählt etwa der Aufsatz von Hagen Schulz-Forberg über die Londonwahrnehmung deutscher und französischer Reisender am Ende des 19. Jahrhunderts. Mit Hilfe seiner Identifikation von "Semiphoren" macht er deutlich, wie die von den Reisenden erlebte Gegenwart zeitliche Tiefendimensionen erhält und Orte imaginativ mit historischen Zusammenhängen angereichert werden. Ähnlich aufschlussreich ist Joachim Rees' systematisierender Zugriff auf das Phänomen der Fürstenreise, der vor allem den Gruppencharakter solcher Unternehmungen herausstellt. Zu nennen ist ferner Gabriele Dürbecks Übertragung von Ansätzen der Stereotypeforschung und der komparatistischen Imagologie auf die Südseedarstellungen des 19. Jahrhunderts, die so einen europäischen "Ozeanismus" in seinen funktionalen Kontexten zu erfassen vermag. Eng benachbart dazu sind die Überlegungen von Gilles Bertrand zur Entstehung, Wandelbarkeit und Instabilität von Stereotypen, die er am Beispiel von Frankreich und Italien exemplifiziert. Auch dort, wo Forschungsprojekte erst noch entworfen werden, wie in Antoni Maczaks Blick auf das Europabild in englischen Reiseführern, oder wo die entworfene theoretische Folie vom präsentierten Material unterlaufen zu werden scheint, wie in Dietlind Hüchtkers Überlegungen zu geschlechtsspezifischen Perspektiven zweier Galizienreisender, finden sich Anknüpfungspunkte genug für die weitere Ausdifferenzierung des Forschungsfeldes. Viele der Beiträge gehen zurück auf umfangreiche Studien oder sind begleitend zu ihrer Erarbeitung entstanden. Ihnen ist es vorbehalten, die Repräsentativität der hier skizzierten Ergebnisse zu erweisen und das vielfach noch zu entdeckende Quellenmaterial zu erschließen. Darauf neugierig zu machen, ist nicht das kleinste Verdienst dieses Sammelbandes.

Titelbild

Arnd Bauerkämper / Hans Erich Bödecker / Bernhard Struck (Hg.): Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
412 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593374862

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