Ohne Staat keine Ordnung

Francis Fukuyamas Neuentdeckung alter Argumente

Von Wilfried von BredowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilfried von Bredow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist die Funktion der Intellektuellen im politischen Diskurs, das Rad immer mal wieder neu zu erfinden. Dabei kommt es auf den Sinn für in der Luft liegende Themen und auf Überzeugungskraft an. Intellektuelle mit dem Anspruch auf Aufmerksamkeit fallen in zwei Gruppen. Die einen stülpen ihr festes Deutungsschema mit routinierter Zugriffsgeste über alle Vorgänge und sagen im Grunde immer dasselbe. Von den anderen hingegen sind schon einmal Überraschungen zu gewärtigen. Francis Fukuyama gehört zur zweiten Kategorie. Das macht die nicht immer ganz einfache Lektüre seiner Aufsätze und Bücher selbst dann lehrreich, wenn man sich seinen Auffassungen nicht oder nur teilweise anschließen mag.

In Deutschland haben es eher konservative Intellektuelle nicht gerade leicht, vor allem, wenn sie wie Fukuyama oder Samuel Huntington in Amerika beheimatet sind. Das Simplifizierungs-Spiel ist zu verführerisch. So wurden Huntingtons Überlegungen über die interkulturellen Konflikte der Zukunft viel zu häufig unzutreffend als Aufruf zum "Kampf der Kulturen" missgedeutet. Und bei Fukuyama genügten auch drei Worte - Ende der Geschichte -, um ihn zum Watschenmann aller politischen Auseinandersetzungen über die neue internationale Ordnung zu machen. In solchen Auseinandersetzungen war man sich über so gut wie nichts einig, nur über eins: Fukuyama liegt völlig falsch. Fukuyama wagte am Ende des Ost-West-Konflikts die Vorhersage, dass die liberale Demokratie den Endpunkt der politischen Entwicklungen darstelle. In Zukunft würden nicht länger die großen und weltanschaulich aufgeladenen Konflikte die Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Balance von Freiheit und Gleichheit bestimmen. Damit sei, wenn man Geschichte als eine Abfolge von Konflikten und Kämpfen interpretiert, bei denen es um konkurrierende Menschen- und Gesellschaftsbilder geht, diese Geschichte an ihr Ende gekommen. Erinnert man sich an die Monate des weltpolitischen Optimismus, der im Herbst 1989 aufkam, sich im Frühjahr 1991 aber schon wieder zu verflüchtigen begann, dann erscheint diese Prognose zumindest verständlich. Auch in Deutschland, so unwahrscheinlich das heute auch klingen mag, gab es das weit verbreitete Gefühl, die ganze Welt würde sich in eine blühende Landschaft verwandeln.

Dieser weltpolitische Optimismus verflog rasch. Das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts war stattdessen durch wachsende Wirtschaftsprobleme, Bürgerkriege und andere gewaltsame Konflikte, durch massive Menschenrechtsverletzungen und neuartige Bedrohung der Sicherheit gekennzeichnet. Unter Letzteren war es vor allem der transnationale Terrorismus, dessen Gefährdungspotenzial rasch zunahm. Seit dem 11. September 2001 kreist der internationale Sicherheitsdiskurs um die Fragen nach den Ursachen, den Erfolgsaussichten und den wirksamsten Methoden zur Bekämpfung des antiwestlichen Terrorismus.

Auch Fukuyama greift jetzt diese Fragen auf. Er ist ein hochgebildeter und in der politischen Philosophie bewanderter Intellektueller mit dem Bedürfnis, seine akademisch-sozialwissenschaftliche Kompetenz keinesfalls unter einen Scheffel geraten zu lassen. Da kann man sich auf einen überraschenden Blickwinkel und auf ungewohnte interdisziplinäre Synthesen gefasst machen. Seine Botschaft wird bereits klar im Buchtitel ausgesprochen: Schwache, zerfallende oder bereits implodierte Staaten entwickeln sich immer mehr zum Hort von Menschheitsproblemen, von der massenweisen Verletzung der Menschenrechte bis zur Bedrohung der allgemeinen Sicherheit auch in den stabileren Teilen der Welt, einschließlich des Westens. Staaten neu zu festigen und zu lebensfähigen Gebilden sozialer und politischer Selbststeuerung von Völkern zu machen, gehört deshalb zu den vordringlichsten Aufgaben der Weltgemeinschaft, vor allem ihrer führenden Nationen. Diese Einsicht und die sie stützenden Argumente sind nicht neu. Sie wirken aber vor dem Hintergrund der besonders in den Vereinigten Staaten feststellbaren Überhöhung neoliberaler Distanz zum Staat dennoch sehr erfrischend. Die Aufgabenstellung "Staaten bauen" ist allerdings schnell formuliert, fragt sich nur "Wie?"

Fukuyamas Ausgangspunkt ist die enttäuschende Bilanz aller bisherigen Versuche, in den globalen Konfliktzonen und den von Armut und Gewalt bedrohten Ländern über Entwicklungshilfe, die Verpflanzung von Institutionen und Organisationen sowie mittels treuhänderschaftlichen Regierens die Standards für das Regieren und Verwalten merklich zu heben. Man braucht nur nach Afghanistan oder ins Kosovo zu blicken, um betrübt erkennen zu müssen, dass den enormen Ausgaben der Geberländer kaum irgendwelche politischen, sozialen oder ökonomischen Fortschritte entsprechen. Die amerikanischen Erfahrungen im Irak haben außerdem den - allerdings ohnehin erstaunlich naiven - Glaubenssatz widerlegt, wonach die von einer äußeren Macht vorgenommene Eliminierung einer Diktatur wie von selbst zum Aufwuchs demokratischer Strukturen führt.

Fukuyama weist - darin ein getreuer Schüler seines Lehrers Seymour Martin Lipset - die staatsdistanzierte Sichtweise der Vereinfacher unter den Neoliberalen zurück. Schließlich war es das Aufkommen des modernen Staates als Wahrer von Ordnung, Sicherheit und Gesetzen sowie als Hüter der Eigentumsrechte, wodurch die Dynamik der Wirtschaft und die Expansion der Märkte überhaupt erst möglich wurden. Zwar hält auch Fukuyama Wucherungen des Staats in die Gesellschaft hinein für gefährlich. Aber wenn man, wie das seit den achtziger Jahren die herrschende Doktrin der internationalen Entwicklungspolitik war, die Staatsfunktionen zurückstutzen will, muss man genau zwischen überflüssigen und unabdingbaren Staatsfunktionen unterscheiden und darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.

Was überflüssig und was unabdingbar ist, lässt sich allerdings nicht am grünen Tisch entscheiden. "Alles hängt vom Kontext ab." Dies könnte geradezu das Motto des Buches sein. Ideale Institutionen wären solche, die kontextunabhängig überall gleich gute Resultate erzielen. Es gibt sie nicht. Gegenüber dem Optimismus der best practice-Propagandisten, die keine wesentlichen Probleme beim Transfer von im Westen erfolgreichen Institutionen in nichtwestliche Länder zu erkennen vermögen, beharrt Fukuyama auf der überragenden Bedeutung der sozialen und politischen Faktoren, die vor Ort alle importierten Institutionen umformen, unter Umständen sogar nutzlos machen. Weder die Soziologie noch die Volkswirtschaftslehre verfügen über genügend methodisches und theoretisches Wissen, um hier einen Königsweg für die Konsolidierung staatlicher Strukturen vorschlagen zu können. In aller Behutsamkeit und so gar nicht auftrumpfend-pompös stellt Fukuyama hier amerikanische und europäische Perspektiven einander gegenüber. Überraschende Querverweise gibt es dabei zu entdecken, etwa zu dem Konzept der "Friedenskonsolidierung" aus der Agenda für den Frieden von Boutros-Ghali, den verschiedenen good governance-Ansätzen oder dem der "sanften Macht" von Joseph Nye. Mit diesem Buch ist es Fukuyama erneut gelungen, eines der großen politischen Themen der nächsten Jahre aufs Tapet zu bringen.

Der Beitrag erschien zuerst am 6.10. 2004 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.

Kein Bild

Francis Fukuyama: Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationale Politik.
Übersetzt aus dem Englischen von Hartmut Schickert.
Propyläen Verlag, Berlin 2004.
191 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3549072333

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch