Zerrissene Existenz

Helmut Kraussers Buch zum Film

Von Jörg FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hagen Trinker ist 27 und obdachlos. Letzteres freiwillig. Zum Beweis verprügelt er seinen Freund Wolfgang, letzte Verbindung zur Welt der Menschen mit Postanschrift, und demoliert ihm die Freundin und die Wohnung. Dieser Befreiungsschlag bildet den Anfang von "Fette Welt", dem dritten Teil von Helmut Kraussers Hagen-Trinker-Trilogie.

Kurz nach der Verabschiedung von den letzten Resten seiner Vergangenheit lernt Hagen Judith kennen, eine sechzehnjährige Ausreißerin, in die er sich nach kurzem Zögern verliebt. Doch die beiden können die Romantik ihrer Liebe ohne Geld nicht lange ausleben, sie werden von der Polizei aufgegriffen und man schickt Judith zurück nach Berlin. Hagen hat nun zwei Probleme: Er will Judith zurück, hat aber weder ihre Adresse noch das Geld, um von München nach Berlin zu gelangen. Und er fühlt sich verfolgt von Herodes, einem geheimnisvollen Mörder, der Kleinkinder tötet. Er empfindet eine seltsame Seelenverwandtschaft zu dem Soziopathen, doch in erster Linie fühlt er sich von ihm bedroht.

Hagen begibt sich auf einen Weg selbstauferlegter Prüfungen, der ihn hin zu Judith und weg von Herodes führen soll. So heuert er bei einem Beerdigungsunternehmer an und überfällt mit einer Spielzeugpistole einen Supermarkt. Immer wieder gerät Hagen in Konflikt mit der "normalen" Welt, die sich für ihn als absurd und selbstzerstörerisch darstellt. In Berlin schließlich ist er gezwungen, sich seiner zerrissenen Existenz zu stellen.

Freiheit ist das einzige, was Hagen bewußt anstrebt. Das macht ihn zum Obdachlosen, aber "Fette Welt" noch lange nicht zum "Pennerroman". Hagen ist kein Penner, doch er lebt in der Welt der Obdachlosen. Das erlaubt es ihm, sich abzugrenzen, Einzelfall zu sein. Jemand mit seiner Leidenschaft für die Oper, für Oscar Wilde und Erstausgaben von Swift wäre in der Welt der Sesshaften ein Bildungsbürger, wenn nicht gar Spießer. Unter Pennern ist er Philosoph. Hagen erscheint als hochintelligente Person, die unfähig ist, ihr Leben mit anderen zu teilen oder Alternativen zur gewählten Lebensführung zu akzeptieren.

Krausser läßt Hagen selber sprechen und seine Welt erklären, wie er sie sieht. Dadurch, daß der Leser die Welt durch Hagens Augen sieht, wird sie zum Spiegel. Ihre Darstellung zeigt gleichzeitig das Innenleben Hagens, und so kann sich der Autor jeder Wertung des Verhaltens seines Protagonisten enthalten. Ein wenig entlarvt Krausser seine Figur Hagen schließlich doch. Als Hagen sich in Judith verliebt, verhält er sich nicht viel anders als die von ihm verachteten "Normalen". Dabei ist es ihm auch egal, daß Judith ihre Zuneigung zu ihm hauptsächlich dazu benutzt, aus ihrem gutbürgerlichen Elternhaus zu fliehen.

Die Genauigkeit der Beobachtungen und die Wortgewandtheit Hagens nehmen anfangs für ihn ein. Dabei erspart Krausser uns keinen der gedanklichen Saltos, die Hagen immer wieder schlägt. Als er mit Lungenentzündung darniederliegt, deliriert der Leser über Seiten mit ihm, bis auch der letzte Sinn aus den Sätzen zu entschwinden scheint und Hagen ins Koma fällt. Tatsächlich wird vorgeführt, wie die Konzentration von sinnhaften Sätzen zum sinnfreien Chaos führen kann. Präzise wird die Brüchigkeit der Grenze zwischen Genie und Wahnsinn offengelegt.

Doch bald wird das Prinzip des Romans, die Konzentration auf die Innenperspektive der Hauptperson, zum Manko: die Stagnation der Figur Hagen droht zeitweise zur Stagnation des Romans zu werden. "Fette Welt" ist keine Selbstinszenierung, vielmehr läßt Krausser den Leser die rohe Verzweiflung eines Menschen miterleben, der sich durch seine großen geistigen Fähigkeiten von der Allgemeinheit abgesondert findet und doch sein Verlangen nach Nähe und Gemeinschaft nicht verleugnen kann. Letztlich bleibt ihm als Ergebnis seiner Suche nach dem großen Sinnzusammenhang nur die Erkenntnis, daß allein die Akzeptanz der eigenen Widersprüchlichkeit ein Weiterleben möglich macht.

So ist "Fette Welt" ein Stück junger Literatur, das zum einen durch seine sprachliche Innovationsfreude fasziniert und zugleich in seinem ruhelosen Drang nach Erkenntnis und steter Suche nach der Wahrheit intellektuell fordernd ist. Und es ist schon eine sehr merkwürdige Wendung des Schicksals, daß dieser Roman durch einen Film zu größerer Bekanntheit gekommen ist, der tatsächlich das genaue Gegenteil seiner Vorlage darstellt. Beim Betrachten der Verfilmung von "Fette Welt" (1999) drängt sich der Eindruck auf, daß im Budget kein Geld für den Erwerb der Buchrechte mehr vorhanden war und man sich mit dem Kauf von Titel und Klappentext zufrieden gegeben hat. Einzig die Namen der Figuren und einige wenige Handlungselemente lassen sich wiederfinden, der Rest ist ein dilettantisch zusammengestoppeltes Sozialdrama. Am meisten frappiert, daß das Grundthema des Romans, Hagens Intelligenz und seine daraus resultierende Nichtkompatibilität mit der Gesellschaft, vollkommen getilgt worden ist. Und wenn Judith im Film Hagen für sich gewinnt, indem sie ihn zu einem freudlosen Beischlaf überredet, wird die Liebe der beiden zu einer dummen, fast schon gefährlichen Karikatur. Das Interesse des Regisseurs Jan Schütte liegt allein in der Darstellung des Lebens von Obdachlosen in München. Das Ergebnis ist, wie Krausser formuliert, "zuviel Sozialdemokratie, zuwenig Kunst".

Titelbild

Helmut Krausser: Fette Welt. Roman. Verfilmt von Jan Schütte mit Jürgen Vogel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
313 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3499224259

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