Vom Nutzen und Nachteil der Autorschaft für das Leben

Ist Roland Barthes' aufsehenerregender Essay "Der Tod des Autors" ein Schlüssel zu Gilbert Adairs gleichnamigem Roman?

Von Martin StingelinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Stingelin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Platons Dialog über den "Staat" gehört der Topos, dass die Dichter lügen, zu den bestbefestigten Gemeinplätzen unseres Denkens; seit dem Fall Paul de Man, der seine Theorie vom unabdingbaren Missverstehen literarischer Texte auf dem Verschweigen seiner zwischen dem 24. Dezember 1940 und dem 21. September 1942 für die belgische Kollaborationszeitung "Le Soir" geschriebenen Artikel gegründet hat, die dem Ungeist des Nationalsozialismus verbunden waren, erstreckt sich der Verdacht auch auf die Literaturwissenschaftler. Der Londoner Schriftsteller Gilbert Adair hat dem Fall de Man einen mehrfach verschlüsselten Roman gewidmet, der seinen Titel mit einem epochemachenden Artikel von Roland Barthes teilt, der 1967 erschienen ist: "Der Tod des Autors", Anlass für eine kleine Kulturgeschichte dieses Motivs.

Humanismus und Antihumanismus

Jean-Paul Sartre hatte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die Vorwürfe, die von katholischer und von kommunistischer Seite gegen den Existenzialismus erhoben worden waren, noch mit der rhetorischen Frage "Ist der Existenzialismus ein Humanismus?" pariert, indem er eine Unterscheidung traf zwischen dem Humanismus als Menschheitskultus, der den Menschen als höheren Wert zum Endzweck nimmt und "beim Faschismus" endet, und dem Humanismus als Existenzialismus, für den sich der Mensch nicht durch einen Zweck, sondern durch seine paradoxe Freiheit auszeichnet, sich immer wieder neu entwerfen zu müssen, das heißt, ein Ziel außerhalb seiner selbst zu suchen.

Zwanzig Jahre später vollzog sich die Ablösung des Sartre'schen Existenzialismus durch die Dissidenten unter den vermeintlichen Strukturalisten ganz im Zeichen eines provokativen "Antihumanismus". Michel Foucault hielt 1966 in seiner Archäologie der Humanwissenschaften, "Les mot et les choses", die Wette, "daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand" (gemeint war lediglich, dass der Mensch im Singular in Zukunft als Urheber seines Wissens ebenso unvermittelt aus dem Brennpunkt des menschlichen Erkenntnisinteresses rücken könnte, wie er im sechzehnten Jahrhundert hineingeraten war); Jacques Derrida sprach 1968 in New York auf einem internationalen Kolloquium über "Philosophie und Anthropologie" in unverhüllter Doppeldeutigkeit von den "Fines homines", den Enden/Grenzen des Menschen (gemeint war lediglich, daß die alles andere als uneingeschränkte Universalität des Begriffs "Mensch" in der Philosophie ihre Grenzen an der Bedingtheit des menschlichen Daseins und Denkens findet); und schon ein Jahr zuvor exemplifizierte Roland Barthes das Schlagwort vom "Tod des Menschen" im Allgemeinen am "Tod des Autors" im Besonderen (gemeint war lediglich, dass die erhöhte Aufmerksamkeit, die der Person, der Biografie, der Psychologie und der Epoche des Autors seit der Renaissance als Schlüssel zum Verständnis seines Werks geschenkt wird, den Leser seiner kreativen Freiheit im Umgang mit dem Text beraubt und aufgegeben werden sollte).

Poetischer Glanz und Patina

Bei der stillen konzeptuellen Erneuerungskraft, die das Denken von Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault noch immer entfaltet, erstaunt über dreißig Jahre nach dieser Provokation ihre betriebsame Aufgeregtheit. Der düstere poetische Glanz des Verwerflichen, Verfluchten und Verfemten, den die - ihren Texten mehr angedichtete als entnommene - Rede vom "Tod des Menschen" den Werken der penseurs maudits an einzelnen Stellen verliehen haben mag, zeugt nur mehr von der Patina der romantischen Tradition, in der sie sich dort noch immer befangen zeigen. Dies wird beim Wiederlesen von Roland Barthes' aufsehenerregendem Artikel "The death of the author", der Ende 1967 im "Aspen Magazine" erschienen ist, überraschend deutlich. Ohne - es sei denn literaturwissenschaftspolitisch, nicht sachlich bedingte - Not zieht Barthes wie ein Florett den Schluss, dass die Freiheit des Lesers gegen den verlogenen Anspruch des Humanismus verteidigt werden muss, der sich zum Anwalt der von ihm Unterdrückten aufgeschwungen hat, und holt zu einem stilistischen Streich aus, der die falschen Menschenfreunde verletzen will: "Um den Leser hat sich die klassische Literaturwissenschaft nie gekümmert; sie kennt in der Literatur niemanden außer den, der schreibt [...]; wir wissen, daß man den Mythos umkehren muß, um der Schrift (l'écriture) ihre Zukunft einzuräumen: die Geburt des Lesers verlangt als Preis den Tod des Autors."

Dabei ratifizierte die moderne Literaturwissenschaft nur die poetische Praxis, die Samuel Beckett unvergleichlich beiläufiger in die Frage "Wen kümmert's, wer spricht?" gekleidet hatte. Lange vor Martin Heideggers lapidarer Antwort "Die Sprache spricht", unter deren Eindruck Roland Barthes, Jacques Derrida, Michel Foucault und Jacques Lacan standen, feierte der französische Dichter Raymond Roussel (1877-1933) ihre Ereignishaftigkeit, indem er sich der Zufälligkeit und Willkür ihres Bedeutungsspiels unterwarf, als Anfang und Ende einer Geschichte zwei bis auf einen Buchstaben gleichlautende Sätze aus lauter doppeldeutigen Wörtern suchte und daraus ein ganzes Universum hervorgehen ließ: "les lettres du blanc sur les bandes du vieux pillard" (die Briefe des Weißen über die Banden des alten Plünderers) und "les lettres du blanc sur les bandes du vieux billard" (die Buchstaben aus Weiß auf den Banden des alten Billardtischs) erzählten so nicht nur eine rätselhaft exotische Geschichte, sondern gleichzeitig vom Rätsel der Sprache selbst, ein Geheimnis, das der Autor Raymond Roussel, der sich gleichsam als Sekretär dem Diktat der Sprache unterworfen hatte, erst nach seinem Tod in einem testamentarischen Text preisgab: "Comment j'ai écrit certains de mes livres" (1935).

Blindheit und Erkenntnis

Diese magische Eigenschaft der Sprache, aus dem Mangel, dass es weniger bezeichnende Wörter (verba) als zu bezeichnende Dinge (res) gibt, einen Reichtum zu machen, indem sie die Bedeutung der Wörter verdoppelt und vermehrt, war der Rhetorik seit der Antike bekannt. In den Vereinigten Staaten von Amerika entwickelte der nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte belgische Literaturwissenschaftler Paul de Man (1919-1983) aus diesem rhetorischen Sprachverständnis, das er mit Friedrich Nietzsche teilte, eine Literaturtheorie, die ihn über Nacht zum Star des amerikanischen Hochschulsystems avancieren ließ, die deconstruction. Sie sucht in jedem literarischen Werk den Punkt, an dem sich nicht mehr entscheiden lässt, ob eine metaphorische, metonymische, synekdocheische oder ironische Redewendung im eigentlichen oder im übertragenen Sinn zu verstehen ist, und kommt zum Schluss, dass Literatur grundsätzlich eine Fehllektüre (misreading) bedingt und jede Erkenntnis einen blinden Fleck voraussetzt.

Der blinde Fleck in Paul de Mans Biografie, den diese Erkenntnis vergessen machen wollte, war eine Folge von mehr als 170 Artikeln, die de Man während der Besetzung Belgiens durch die Nationalsozialisten für die Kollaborationszeitung "Le Soir" verfasste. Gilbert Adair, der in seinem Roman "Der Tod des Autors" in Form einer Ich-Erzählung die Geschichte der Aufdeckung von Léopold Sfax' alias Paul de Mans Vergangenheit erzählt, zitiert darin wörtlich aus dem Artikel, der am 4. März 1941 unter dem Titel "Les Juifs dans la littérature actuelle" erschienen ist und in dem de Man erwägt, dass "eine Lösung des Problems, die auf eine von Europa isolierte jüdische Kolonie abzielte, für das kulturelle Leben des Abendlandes keine bedauerlichen Folgen hätte. Dieses würde alles in allem ein paar Persönlichkeiten von mittelmäßigem Wert verlieren und sich wie in der Vergangenheit weiterhin nach seinen großen Evolutionsgesetzen entfalten."

Der aus Frankreich (und nicht aus Belgien) stammende Ich-Erzähler Léopold Sfax will diesen Artikel für die französische Zeitung "Je suis partout" (und nicht für die belgische Zeitung "Le soir") in "den ersten Februartagen des Jahres 1942" (und nicht am 4. März 1941) veröffentlicht haben; die beiden Bücher, die seinen Ruhm begründen, heißen "Entweder/Entweder" (und nicht "Blindness and Insight") und "Die Teufelsspirale" (und nicht "Allegorien des Lesens"); er unterrichtet auch nicht als Sterling Professor of the Humanities an der Yale University, sondern in New Harbor, aber jede Abweichung entstellt Paul de Man bis zur Kenntlichkeit.

Gilbert Adairs Roman "Der Tod des Autors", 1992 (zum 25-jährigen Jubiläum von Roland Barthes' Artikel) in der englischen Originalausgabe erschienen, ist nicht der einzige Schlüsselroman über den Fall de Man. Ein Jahr später erschien in Schweden Lars Gustafssons Roman, der seit 1994 beim Carl Hanser Verlag unter dem Titel "Die Sache mit dem Hund. Aus den Tagebüchern und Briefen eines texanischen Konkursrichters" in deutscher Übersetzung vorliegt und den Fall des Philosophieprofessors Jan van de Rouwers, der "in einer der holländischen Abendzeitungen an die hundertfünfzig widerlich antisemitische und nazifreundliche Artikel publiziert" hat, aus der Sicht seines Nachbarn schildert.

Differenz und Wiederholung

Doch die Poetik von Adairs Ich-Erzählung ist gleichzeitig gebrochener und reflexiver als Gustafssons Schilderung aus der Sicht eines Dritten. "Der Tod des Autors" betreibt ein vielfältiges Spiel mit Motiven der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft, denen Adair ihre böse Unschuld zurückgibt: das sich gegenseitig bedingende Wechselspiel von Differenz und Wiederholung, die Möbiusschleife und das Kreter-Paradox, um hier stellvertretend nur drei Beispiel anzuführen.

Dreimal setzt der Ich-Erzähler zu einer mehrseitigen wörtlichen Wiederholung des Anfangs seiner Unschuldsbeteuerung an und wird durch die kleinen, aber verräterischen Differenzen, die dieser Wiederholung entspringen, doch nur immer weiter von demjenigen abgetrieben, worauf er beharren will; darin kann man sowohl Jacques Derridas Poetik der différance wie Gilles Deleuzes Philosophie des Trugbildes erkennen.

In der Chronologie von Léopold Sfax' Bekenntnissen zeichnet sich auf diese Weise eine dreifach verschlungene Möbiusschleife der Selbstwidersprüchlichkeit ab, in der sich der Ich-Erzähler veheddert, bis er schließlich darin umkommt. Die Möbiusschleife - ein in sich verdrehtes Endlosband, auf dem sich die Innen- und die Außenseite paradoxerweise nicht voneinander unterscheiden lassen, obwohl sie nicht zusammenfallen - war für den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan ein Sinnbild für die gegenseitige Bedingtheit von Selbsterkenntnis (me connaître) und Selbstverkennung (méconnaître), der kein Subjekt entkommt, weil es sich nicht ohne die narzisstische Vermittlung durch das Medium des Spiegels und der Sprache wahrnehmen kann.

Folgerichtig kann noch die paradoxe Selbstbezichtigung "Ich lüge" als Anspielung auf das Kreter-Paradox zu Beginn von Michel Foucaults Artikel über "Das Denken des Draußen" (1966) gelesen werden, mit dem Foucault den Status der Fiktion in modernen Texten vergleicht: Sagt der Kreter tatsächlich die Wahrheit, lügt er und umgekehrt, ebenso wie moderne Texte, die selbst ihren fiktiven Status reflektieren.

So bestätigt sich die dreifach wiederholte Selbstbezichtigung von Léopold Sfax auf eine Weise, durch die er sich ihr gerade entzieht: "'Ihnen ist doch wohl klar', bemerkte ich, noch immer lächelnd, 'daß Sie mich niemals einfangen werden? Das ist noch nie jemandem gelungen'", erwidert er der Studentin Astrid Hunneker, der er seine Mitarbeit nicht versagen möchte, auf ihr Projekt, seine Biografie zu schreiben.

Höhepunkt des Feuerwerks von Paradoxa, das sich mit den Serien in Gilles Deleuzes "Logik des Sinns" vergleichen lässt - und hier bitte ich die Freunde des Kriminalromans, die sich trotz Roland Barthes' Unterscheidung zwischen einer akribischen Lektüre, die langsam und wiederholt die Form genießt, und einer anekdotischen Lektüre, die eilfertig die Geschichte verschlingt, die inhaltliche Spannung erhalten wollen, ihre Lektüre dieser Rezension abzubrechen - - -

Höhepunkt des Feuerwerks von Paradoxa, das sich mit den Serien in Gilles Deleuzes "Logik des Sinns" vergleichen lässt, ist das Schlussbouquet, in dem Léopold Sfax weiterschreibt, obwohl er umgebracht worden ist. Es lebe der Tod des Autors!

Anmerkung der Redaktion: Gilbert Adairs Roman "Der Tod des Autors" ist jetzt zusammen mit zwei anderen lesenswerten Kriminalromanen dieses Schriftstellers in einer preiswerten Buchkassette erhältlich.

Titelbild

Gilbert Adair: Suspense. Der Tod des Autors / Blindband / Der Schlüssel zum Turm.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Schlachter.
Edition Epoca, Zürich 2004.
551 Seiten, 27,00 EUR.
ISBN-10: 3905513331
ISBN-13: 9783905513332

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