Lebendige Standbilder

Der Rostocker Fotograf Karl Eschenburg in einem Auswahlband

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Heute sehen die Menschen Nebel, weil Maler und Dichter sie die geheimnisvolle Schönheit dieser Erscheinung gelehrt haben. Es mag seit Jahrhunderten Nebel in London gegeben haben [...], doch niemand hat ihn wahrgenommen. Er hat nicht existiert, bevor die Kunst ihn nicht erfunden hat." Was Oscar Wilde in seinem Essay "Der Verfall der Lüge" von der Malerei und der Dichtkunst sagt, gilt seit dem 20. Jahrhundert vor allem auch für die Fotokunst: Die Industriefotografie des Düsseldorfer Künstlerpaares Bernd und Hilla Becher beispielsweise hat uns die Schönheit von Wassertürmen, Hochöfen oder einfachen Fachwerkhäusern nachdrücklich vor Augen geführt, während uns Candida Höfer in einer ganzen Serie eindrucksvoller Museumsfotografien demonstrierte, wie es der Sozialkunst Architektur gelang, Zweckbauten ästhetisch zu inszenieren. Andreas Gursky oder Axel Hütte wären weitere Namen, die man hier nennen könnte, doch die Anfänge moderner Stadt- und Architekturfotografie liegen weiter zurück, viel weiter, wie ein neuer Bildband des Rostocker Fotografen Karl Eschenburg demonstriert. Auf seinen Bildern gehört das Spiel von Dampf und Rauch, Licht und Schatten, Nässe und Schnee, Sonne und Wolken zur Inszenierung einer lebendigen Stadtarchitektur, die stolz den Zeitläuften trotzt oder sich kapitulierend dem Verfall ergibt. Der eine Giebel der Mühlenstraße 9 etwa ist bereits weggebrochen, die Schaufenster des Nachbarhauses sind schon verhängt - doch der Handel geht auf offener Straße weiter.

Karl Eschenburg, Jahrgang 1900, war eigentlich Angestellter der Arado-Flugzeugwerke, als ihn um 1925 die Fotoleidenschaft packte. Die Weltwirtschaftskrise, die mit den Arado-Werken auch seinen Arbeitgeber in Mitleidenschaft gezogen hatte, trug ein Übriges dazu bei, dass sich der junge Hobbyfotograf selbstständig machte und für die "Rostocker Illustrierte" oder den Hinstorff Verlag auf Motivsuche ging. Sein hervorragendes Auge und das sichere Gespür für Motiv und Perspektive zeigten sich bereits bei der ersten Werkschau 1934 in Schwerin. Eschenburgs Aufnahmen begeisterten und sicherten ihm lukrative Aufträge: Das erste Auto, ein Hanomag 2/10 aus der berühmten "Kommisbrot"-Serie, wich der 4/23-Limousine, einer eleganten Hanomag-Tochter, die sich leider auf einem morastigen Feldweg die Vorderachse brach. Natürlich hat Eschenburg das Ereignis im Bild festgehalten.

Die spannendsten Motive freilich fand Eschenburg in eigener Regie: So kletterte er mit seiner schweren Fotoausrüstung (allein die Glasplatten wogen mehrere Kilo) auf den Turm St. Mariens inmitten der Rostocker Altstadt, um das Markttreiben und das Häusergewirr der angrenzenden Schmiedestraße abzulichten. Bei Neuschnee bezog er in aller Frühe auf den Gleisen der Grubestraße Stellung, um die schwarze Linienführung der Schienen im weißen Flockenkleid auf seine Platten zu bannen. Er stieg mit den Dachdeckern ins Gewerk, um Rostock aus der Vogelperspektive zu zeigen, und er hielt sein Kameraauge in die Takelage der Fischkutter, die Stromleitungen der Rostocker Straßenbahn oder die Flaschenzüge der Getreidespeicher. Seine Aufnahmen haben ein Bild der norddeutschen Metropole bewahrt, das in der Realität längst nicht mehr existiert: Denn der Bombenkrieg hinterließ auch hier seine Trichter und Trümmer. Den Wiederaufbau der Stadt konnte Eschenburg nicht mehr dokumentieren: Unheilbar krank aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt, durfte er seinen Beruf nicht mehr ausüben und starb 1947.

Karl Eschenburg hat, wie Thomas Gallien in seinem vorzüglichen Vorwort ausführt, die Stadtlandschaften Rostocks zu keiner Zeit verklärend abgelichtet. Der "Rosengarten" an der zentralen Wallanlage beispielsweise wird im Frühjahr noch weit vor der Rosenblüte sein Motiv, als die noch unbelaubten Äste wie ein Memento mori in den Himmel ragen - so treibt die Parkanlage ihr Spiel mit der Sonne ins Spektakuläre, indem sie ihre Schatten filigran-tänzerisch und fast gespenstisch auf die Asphaltdecke wirft.

Auf den gestochen scharfen Stadtlandschaften ist jede Turmspitze, jeder Pflasterstein und jedes Firmenschild klar zu erkennen (die "Drogenhandlung" P. F. Schulz am Neuen Markt würde heute vielleicht Probleme mit dem Jugendschutz bekommen), und weit reicht bei klarer Sicht der Blick über die Warnow gen Norden - beinahe bis Hammerfest. Auf dem Pferdemarkt vor der Petrikirche haben sich Bauern und Züchter zum friedlichen Handel versammelt, während am Fischerbruch bei der Nikolaikirche drei Knaben ihre Angel ins Wasser halten. Ein Faszinosum bis heute stellt die Astronomische Uhr von St. Marien dar, während der eindrucksvolle Renaissancegiebel des Wohn- und Geschäftshauses des Margarinefabrikanten Wilhelm Hoyer nach seiner Zerstörung im Weltkrieg nicht mehr wiederaufgebaut wurde. Das Kloster zum Heiligen Kreuz, damals Damenstift, heute Museum, übt sich in architektonischer Bescheidenheit, während der Orgelprospekt der Jakobikirche vom Reichtum der Kirchengemeinde kündet.

Die sach- und ortskundigen Bildlegenden hat Wolfhard Eschenburg, der älteste Sohn des Fotografen, beigesteuert. Dass er ein Sohn auch der Stadt ist, belegt seine Kritik an der "überzogenen Monumentalität" der Langen Straße, die Anfang der 50er Jahre die zerstörte Kleinstadtwelt ersetzte. Damals entstanden eindrucksvolle "stalinistische" Neubauten, deren Architektur - zwischen Backsteingotik und Art deco changierend - mittlerweile unter Denkmalschutz steht und einen Glücksfall für diese moderne Metropole darstellt.

Titelbild

Wolfhard Eschenburg (Hg.): Das alte Rostock in Photographien von Karl Eschenburg. Mit einem einleitenden Text von Thomas Gallien.
Hinstorff Verlag, Rostock 2004.
162 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3356010174

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