Mein Leben ohne mich

In Jochen Jungs neuen Erzählungen wird die Selbstvergessenheit gepriesen

Von Ralf SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glückliche Menschen zu beschreiben ist ja normalerweise eine undankbare Aufgabe, denn Glück ist meistens eine ziemlich einsilbige, ja sogar langweilige Angelegenheit. Jochen Jung gelingt nun aber in seinem Erzählungsband "Täglich Fieber" das Außergewöhnliche: Er erzählt auf eine irritierende und fesselnde Weise von glücklichen Figuren, die völlig unspektakuläre Geschichten bevölkern. Friedliche, versöhnliche und ganz und gar positive Begebenheiten sind das, geprägt von einem wortkarg-spröden Charme, aber eben auch irritierender Widerborstigkeit bis Rätselhaftigkeit, aus der die Zufriedenheit der Charaktere ganz unvermittelt hell hervorscheint.

Es ist schon erstaunlich, dass einem die Figuren mit ihrer notorischen Gutgelauntheit nicht auf die Nerven gehen, denn ständig liest man davon, dass sie sich "ziemlich wohl" fühlen, ganz "mit sich einverstanden" seien, gerade "zauberhafte Augenblicke" erleben, in denen sie "ein geradezu radikales Wohlgefühl" empfinden. Sie handeln oft "wie unter einer Eingebung", also völlig unreflektiert, aus dem Bauch heraus und ohne Angst vor Folgen. Jungs Erfolgsrezept mag darin liegen, sie in kurzen Momenten des Innehaltens zu schildern, einer quasi gedankenlosen Nachdenklichkeit, die man vielleicht als 'Spüren ins Leere' bezeichnen könnte - Momente unreflektierten Seins, die so minimalistisch erzählt sind, dass die rationalen Eckdaten der erzählten Situation oft gar nicht rekonstruierbar sind.

So zum Beispiel in "Die Frau", der längsten Erzählung des Bandes: Aus dem Alltag der namenlosen Hauptfigur erfahren wir einige völlig disparate Ausschnitte, in denen sie unter anderem en passant und fast gegen ihren Willen einige erotische Erfahrungen macht (zum Beispiel in einem Friedhofsgärtnerschuppen). Sogartige Gefühle lassen sie blindlings handeln, lassen sie sich wildfremden Menschen einmal anvertrauen, sie ein anderes Mal vor den Kopf stoßen. Dabei wirkt sie wie eine unprätentiöse Variante von Figuren, die man von Walter Serner oder den französischen Surrealisten zu kennen glaubt. Schließlich findet sie sich auf einer griechischen Insel wieder - ein Last-Minute-Urlaub - und fragt sich, ob ihr Handeln einen Sinn macht: "Ja, alles mochte irgendwie einen Sinn haben, aber wenn dem wirklich so war, wozu denn dann noch erklären? Jetzt jedenfalls nicht."

Ohne genau verstehen zu können, wird der Leser auf diese Weise Zeuge einer Existenz, die sich ganz in Widersprüchen und willkürlichen Sprüngen, ohne Ziel, ohne Sinn und ohne Zentrum vollzieht, quasi ohne die Beteiligung des Subjekts an dieser Existenz. Und gerade aus dieser Selbstvergessenheit, also quasi aus dem Nichts entsteht hier wie in den meisten anderen Geschichten das Glückspotenzial der Figuren. Sie bekommen trotz ihrer kaum schemenhaften Beschreibung dadurch etwas außerordentlich Faszinierendes und vor allem Lebendiges, Lebensbejahendes.

Dass dieses Motiv eng mit der Poetik Jungs verknüpft ist, zeigt sich in der letzten Erzählung, die bezeichnenderweise den Titel "Dichten" trägt. Geschildert wird eine Silvesternacht, in der ein einsamer, vor der Arbeit flüchtender Schreiberling plötzlich die rettende Einflüsterung erhält: Er müsse sich aus sich selbst "herausschmeißen", dann würde es auch mit dem Schreiben funktionieren. Er entledigt sich also seines Ichs und versucht sich mit der zurückbleibenden "Hohlform" anzufreunden. Die Folge seines Selbstverlusts ist auch hier ein sich "spontan einstellendes Gefühl unendlicher Erleichterung" und erste Anzeichen wieder einsetzenden Schreibflusses. Als "Ich ohne mich" scheint es sich besser zu leben.

In dieser fünfeinhalbseitigen Replik auf E. T. A. Hoffmanns "Abenteuer in der Silvesternacht" wird also nicht weniger als das sich dort aussprechende moderne Subjektivitätsverständnis auf den Kopf gestellt. Das ist zwar nicht neu, aber bei Jung sehr originell und unaufdringlich umgesetzt. Während bei Hoffmann das Schreckensszenario des Selbstverlusts in den schauerlichsten Farben ausgemalt wird, beschert bei Jung ganz im Gegenteil der zumindest momentane Selbstverlust einen Moment grundlosen Glücks. Gerade indem seine Figuren den innersten Impulsen -'Fieberträumen', von denen Hoffmann bei aller Faszination Abstand zu nehmen verordnet - widerstandslos nachgeben, scheinen sie von jener (Selbst-)Verlustangst geheilt, die die Figuren der "Silvesternacht" wie in Panik umhertreibt.

Von solchen Analysen theoretischer Art ist nun Jochen Jungs "Täglich Fieber" auf angenehmste Weise frei. An diesen Erzählungen kann man den unnachahmlichen Vorzug der Literatur erleben: mit tiefsinnigen Problemen in Berührung zu kommen, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu werden.

Titelbild

Jochen Jung: Täglich Fieber. Erzählungen.
Haymon Verlag, Innsbruck 2003.
125 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3852184304

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