Das Objekt Körper als Essenz des Subjekts Mensch

Ein Sammelband zur Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einiger Zeit propagieren umtriebige Hirnforscher ein neues Menschenbild, wie nicht zuletzt die virulente Diskussion im Feuilleton einer der großen Tageszeitungen bezeugt. Die Freiburger Biologin Sigrid Schmitz hat nun den "Abbildungs- und Objektivitätsmythos" technisch-naturwissenschaftlicher Bildlichkeit anhand digitaler "Hirnbilder" einmal genauer unter die Lupe genommen. Zugleich geht sie der "Argumentationslogik zur Naturalisierung und Objektivierung via Körperlichkeit" auf den Grund. Gestützt auf das methodische Organon der Genderforschung kann sie "Konstruktions-Brüche der Bildlichkeit" nachweisen und am Beispiel der Materie des Gehirns die "Natur-Kultur- und die Sex-Gender-Dichotomie" hinterfragen. Die "Wirkmacht" digitaler Körperbilder, lautet ihre These, liege in einer "doppelten Objekt-Subjekt-Trennung". Zum Ersten werde der "digitalen Visualisierung von Körperlichkeit" durch ihre "Rückbindung in die technisch-naturwissenschaftliche Verfahrenslogik" Objektivität, Neutralität und Referenzialität attestiert, zum Zweiten werde der Körper als "ahistorische und vordiskursive Entität" und darüber als "Essenz des Subjekts Mensch" präsumiert. Denn durch die Argumentationslogik "Natur ist Essenz und Körper ist Natur" lasse sich syllogistisch auf den Körper als "Ort der Essenz" schließen. Dies führe zu der Auffassung, die Möglichkeit, mittels moderner bildgebender Verfahren in den lebenden Körper hineinzuschauen und ihn abbilden zu können, erlaube es, das "Subjekt Mensch" zu verstehen. Nachdrücklich weist Schmitz darauf hin, dass mit bildgebenden Verfahren erzeugte Bilder des Gehirns Gefahr laufen, komplexe Phänomene menschlichen Denkens und Handelns aus ihrem "Netzwerk" sozialer, gesellschaftlicher, kultureller und körperlicher Praxen herauszulösen und auf den Aspekt des Körperlichen und somit implizit auf eine biologische Ursache zu reduzieren. Doch die Momentaufnahmen körperlicher Realität, hält sie solchen Fehlschlüssen entgegen, sagen nichts über deren Konstituierungsprozesse und über die "je individuelle Historie" ihrer Entstehung aus.

Nachlesen lassen sich Schmitz' kritische Einwände in dem instruktiven Aufsatz "Körperlichkeit in Zeiten der Virtualität". Dieser wiederum findet sich in dem von Schmitz zusammen mit der Informatikerin Britta Schinzel herausgegebenen Sammelband "Grenzgänge. Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften". Das Buch gliedert sich in drei Teile, deren erster über theoretische Grundlagen, Epistemologie und Arbeitsweise der Geschlechterforschung in Technik- und Naturwissenschaften aufklärt. Der zweite stellt verschiedene Arbeits- und Forschungsfelder in Informatik und Naturwissenschaften vor. Der dritte schließlich gilt dem Körper, der, wie Schmitz in einem einleitenden Beitrag erklärt, als "biologische Materie" nur zu oft für "Geschlechter determinierende Argumentationen" herangezogen werde. Zudem konstatiert sie eine "zunehmende Durchdringung" der Biowissenschaften mit Informationstechnologien und umgekehrt den "Eingang biologischer Konzepte in die Informatik". Eine doppelte Tendenz, welche die Zusammenstellung beider Gebiete im vorliegenden Band begründet.

Als heimlicher Schwerpunkt des Buches haben sich Fragen des E-Learning herausgebildet. Gleich drei Beiträgerinnen widmen sich ihnen. So geht Elisabeth Grunau "Navigationsstrategien beim Lernen im Netz" nach, Ruth Meßmer erörtert Fragen von "Gender und Diversität im E-Learning" und Cecile K. M. Crutzen stellt ihren Aufsatz unter den Titel "Questening Gender, Questening E-Learning". Weitere Aufsätze gelten vernetzten Strukturen (Katharina Schmidt), epistemischen Veränderungen an der Schnittstelle von Informatik und Naturwissenschaften (Britta Schinzel), "'Geschlecht' und 'Rasse' in biomedizinischen Bildern" (Katrin Nikoleycik), dem Nutzen der Genderforschung für die Naturwissenschaften (Kerstin Palm) und "'Geonomic Imprinting' im Kontext feministischer Kritik" (Bärbel Mauß).

Hervorzuheben ist, dass Interdisziplinarität hier einmal nicht als kaum gefüllte Phrase im Munde geführt, sondern als Aufgabe - und als Problem - nicht nur zwischen einzelnen Naturwissenschaften hier und der Informatik dort ernst genommen wird. Darüber hinaus werden grundsätzliche Fragen von Inter- und Transdisziplinarität erörtert. So legt Frances Grundy dar, dass Interdisziplinarität zwar "an den Grenzen" der Disziplinen stattfinde, doch ereigne sie sich im Allgemeinen "an den Grenzlinien von Spezialbereichen innerhalb dieser Disziplinen, nicht zwischen den Disziplinen selbst", was eine "Umgestaltung eines Teils jeder der beteiligten Disziplinen" mit sich bringe. Zur Transdisziplinarität werde Interdisziplinarität dann, wenn die Lösung einer Frage jenseits derjenigen liegt, die jede der beteiligten Disziplinen alleine bieten könnte. So sei Transdisziplinarität ein "Modus", der Gender Studies, Frauenforschung, Cultural Studies und Queer Studies kennzeichne.

Britta Schinzel greift das Thema ebenfalls auf. Allerdings betont sie einen bislang meist übersehenen Aspekt: Inter- und Transdisziplinarität sind nicht per se "Gender freundlich". Die "Vermählung" von Biologie und Technik zu Lebenstechniken etwa "verdinglicht das Leben und den Menschen mitsamt seinen Teilen in äußerstem Maße". Daher fordert Schinzel "ein besseres systematisiertes Verständnis" dafür, "wo Transdisziplinarität gefährlicher und wo sie erwünschter sein kann".

Titelbild

Sigrid Schmitz / Britta Schinzel (Hg.): Grenzgänge. Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2004.
173 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3897411555

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