Ein Zwang zur Chronik

Der dritte Band der Tagebücher Harry Graf Kesslers umfasst die Jahre 1897 bis 1905

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 15. November 1905 resümiert der 37-jährige Harry Graf Kessler seine gesellschaftliche Stellung und notiert in das Tagebuch: "Mir überlegt, welche Wirkungsmittel ich in Deutschland habe: d. Deutschen Künstlerbund, meine Stellung in Weimar ..., die Verbindung mit der Reinhardtschen Bühne, meine intimen Beziehungen zum Nietzsche Archiv, zu Hoffmansthal, zu Vandevelde, meine nahen Verbindungen mit Dehmel, Liliencron, Klinger, Liebermann, Ansorge, Gerhard Hauptmann ... und schliesslich mein persönliches Prestige. Die Bilanz ist ziemlich überraschend, und wohl einzig. Niemand anders in Deutschland hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung. Diese auszunutzen im Dienste einer Erneuerung deutscher Kultur: mirage oder Möglichkeit?"

Der Eintrag findet sich fast am Ende des neuerlich gut 1.200 Seiten starken dritten Bandes (in der Erscheinungsfolge der zweite Band) der Tagebücher Kesslers, die den Zeitraum 1897 bis 1905 umfassen. Bis zu diesem Eintrag dokumentiert der Band in zuweilen pedantisch anmutender Gründlichkeit all das, was Kessler in diesen Jahren tun konnte (musste), um diese Stellung zu erlangen. Immerhin hatte er von Weimar aus seit 1902 eine wirkungsvolle Reformbewegung in der Kunst mitbestimmt, die sich gegen das laienhafte Kunstverständnis im Umfeld des Kaisers richtete, das jegliche innovative künstlerische Kreativität im Reich zu ersticken drohte. Mit dem 1903 gegründeten Deutschen Künstlerbund wollte man, wie Kessler in einem Gespräch mit dem Mitbegründer Liebermann ausführte, als "neue Kunstgenossenschaft" agieren, um "so Macht zu gewinnen und einen Druck auf die Regierung auszuüben." Trotz erster sich bemerkbar machender Widerstände und Intrigen konnte Kessler auf eine erfolgreiche 'Lobbyarbeit' im Interesse der Kunst zurückschauen.

Der Eintrag vom 15. November ist also nicht frei von stolzer Koketterie und fällt damit ein wenig aus der Reihe. Denn ansonsten ist in der Fülle der Eintragungen der 'persönliche' Aspekt so gut wie nie zu finden. Das, was 'normalerweise' den Charakter eines so intensiv geführten Tagebuchs ausmacht, fehlt bei Kessler fast völlig: das Tagebuch als ein Medium der Selbstvergewisserung. Im Gegenteil: Dieses Tagebuch dokumentiert die Selbstsicherheit eines Mannes, der seines Weges sicher zu sein scheint. Das hat Folgen für den Leser: In der immensen Stofffülle droht zuweilen Langeweile! Und plötzlich ertappt man sich dabei, der Selbstsicherheit des Chronisten eine Verunsicherung zu wünschen, um etwas mehr über ihn zu erfahren. Wie verkraftet er die vorläufige Zurückweisung seiner Ambitionen, als Diplomat dem Auswärtigen Amt beizutreten? Einmal ist eine innere Verfasstheit zu erahnen, als er anlässlich der Beisetzung der Großherzogin in Weimar notiert: "Tief erschüttert". Ist es diese Erschütterung, die ihn diesen Eintrag vom 6. Februar 1905 mit dem Satz einleiten lässt: "Seit zwei Monaten infolge sehr bewegten Lebens nichts notiert."? Es ist geradezu ein Zwang zur Chronik, der ihn treibt, und so notiert er auch diesmal zuvörderst, was immer notiert wird - mit wem, wann, wo, was ...

Und darin liegt nun - trotz allem - der Reiz dieser Aufzeichnungen. Denn wo anders ließe sich so intensiv eintauchen in die damalige Gesellschaft? Das umfangreiche Namensregister des Bandes verweist auf Kesslers dicht geknüpftes Beziehungsnetz, das ihn mit der kompletten damaligen künstlerischen und politischen Elite in Kontakt brachte. Das "Register der Schreiborte" macht deutlich, dass Kesslers Netz auch im Ausland geknüpft war. Und so ergeben sich Einblicke in bislang in dieser Unmittelbarkeit unbekannte Kommunitäten, so z. B. in die Bayreuther Festspielhofhaltung unter Cosima Wagner. Über sie notiert Kessler am 20. Juli 1897: "Bayreuth hat ganz den Charakter einer kleinen Residenz mit Wagners als Duodezfürsten; es ist merkwürdig wie sich diese Atmosphäre in Allem bemerkbar macht, bis zu den lakaienhaften Bassessen, um nach Wahnfried eingeladen zu werden ...". Und über die Erbhalterin Cosima: "Es ist merkwürdig, dass diese Frau, die im Leben von mindestens zwei und vielleicht von drei Genies: Bülow, Wagner, Nietzsche gerade als Frau eine Rolle gespielt hat äusserlich nichts Weibliches hat." Über Siegfried Wagners trivial-pauschale Welterklärungsmodelle notiert er an anderer Stelle: "Seine Konversation wie ein Stück Mittelalter, Deutsches Mittelalter, mit Butzenscheiben, aus den 70er Jahren," wenn er "ganz ohne Nüancen und Differenzierungen" mit "solchen altfränkischen Entitäten" wie "die Juden", "die Presse" u. a. hantiert.

Ebenso reizvoll der Einblick ins Weimarer Nietzsche-Haus, wo Kessler noch den kranken Großphilosophen sah: "Er lag schlafend auf einem Sopha; der mächtige Kopf ruhte, als ob er für den Hals zu schwer wäre, halb nach rechts heruntergesunken auf der Brust. Die Stirn ist ganz kolossal; das mähnenartige Haar noch dunkelbraun; und ebenso der struppige, wulstige Schnurbart. [...] Ein Tisch und ein hoher Lehnstuhl waren ans Sopha gerückt, damit der schwere Körper bei einer ungeschickten Bewegung nicht hinunterfalle."

Amüsant auch Hofballimpressionen bei Kaisers: Am 29. Januar 1898 hält Kessler seine Beobachtung der kaiserlichen Physiognomie fest: "blos noch Bulldoggenwille", und über die Kaiserin notiert er am 8. Februar 1898 bei einem anderen Ball: "Die Kaiserin ... sah in ihrer uneleganten Aufmachung aus wie ein billiges Knallbonbon."

Die bissigen Bemerkungen zum Gesellschaftspersonal verweisen indes auf keine weiteren politisch-analytischen Interessen. Im Gegenteil: Das Politische spielt kaum eine Rolle in den Aufzeichnungen. Kommt es zur Sprache, so formuliert Kessler zwar manch feinsinnige Zuspitzung, bleibt aber doch zeittypischen Klischees verhaftet, die eine gewisse politische Unreife kennzeichnen: "Demokratie verhält sich zu Aristokratie etwa wie Büreaukratie zu Monarchie. [...] Die Sozialdemokratie ist ein büreaukratisches Ideal. [...] Die Büreaukratie ist das Kleingeld eines Königs, wie die Demokratie das Kleingeld einer Aristokratie." Mit solchen Betrachtungen ist Kessler authentischer Teil der deutschen Gesellschaft. Das trifft auch für Bemerkungen über die Juden zu: "Was mich am Juden abstösst," heißt es beispielsweise am 9. April 1902, "ist, dass in alles Spezifisch Jüdische irgendwie Feigheit gemischt ist, und eine Feigheit ohne die Grazie des gehetzten Rehs. Jüdische Ironie, Gefühlsweichheit, Pfiffigkeit sind Inkarnationen der Feigheit gegen die Dinge, gegen sich selbst, gegen die Menschen. Feigheit und Herrschsucht in wunderbarer Mischung verbunden, das ist der Jude." Ein überaus 'normaler', dabei freilich keineswegs so wahrgenommener Antisemitismus, der sich letztlich kaum unterschied von den Wagner'schen "altfränkischen Entitäten".

Doch die bestimmende Fülle dieser Tagebücher sind ausufernde kunsthistorische und ästhetische Betrachtungen, deren Bedeutung Fachleute zu ermessen wissen. Den interessierten Laien ermüden sie eher. Allerdings könnte man sich vorstellen, mit Kesslers Notizen heute die antiken Orte in Italien, Griechenland oder der Türkei aufzusuchen und seinen Beschreibungen über hundert Jahre später nachzuspüren.

Titelbild

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880-1937. Dritter Band: 1897-1905.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2004.
1198 Seiten, 63,00 EUR.
ISBN-10: 3768198138

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